Anpassungsdruck geht allein von der Auswahlfreiheit der Konsumenten aus. Der Schutz des Wettbewerbs muss daher nicht direkt an der Konsumentenwohlfahrt (consumer welfare), sondern an der Auswahlfreiheit der Konsumenten (consumer choice) ausgerichtet werden, aus der die Konsumentenwohlfahrt als indirektes Ergebnis des Wettbewerbsprozesses resultiert. Die Faktoren, welche die Konsumentenwahl beeinflussen sind mehrdimensional und umfassen nicht nur Preise und Mengen, sondern insbesondere auch Qualität, Produktvielfalt, Service und Innovation. Zweck des Wettbewerbsschutzes ist die Steuerung der Produktion durch die Konsumenten unter allen diesen Gesichtspunkten. Sie setzt die Offenhaltung des wettbewerblichen Interaktionssystems (der Marktstruktur) voraus. Diesem Zweck dient es, wenn die Wettbewerbsregeln verhindern, dass die Zahl der Wettbewerber auf der Angebotsseite durch Strategien reduziert wird, die nicht Ausdruck eines Leistungswettbewerbs sind. Die Bewahrung des Angebotswettbewerbs, so wie er sich jeweils darstellt, vor wettbewerbsinkonformen Eingriffen seitens der Anbieter selbst ist Voraussetzung für die entsprechende Auswahlfreiheit der Abnehmer und Konsumenten auf der Nachfragseite. Es gilt daher die Feststellung des EuGH,[168] dass
„die … Wettbewerbsregeln des Vertrags nicht nur dazu bestimmt [sind], die unmittelbaren Interessen einzelner Wettbewerber oder Verbraucher zu schützen, sondern die Struktur des Marktes und damit den Wettbewerb.“
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Wettbewerbsbeschränkungen sind somit letztlich stets Beschränkungen der Auswahlfreiheit der Konsumenten bzw. – weil diese Freiheit abhängig ist von der Marktstruktur – Beschränkungen ihrer marktstrukturellen Voraussetzungen. Bemerkenswerterweise ist dieser Zusammenhang in der Rechtsprechung der Europäischen Unionsgerichte stets gegenwärtig gewesen.[169]
d. Integrationsziel
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Der Schutz wirksamen Wettbewerbs ist im Kontext des Binnenmarkts nicht vom Ziel der wirtschaftlichen Integration zu trennen. Nicht zufällig erklären die Wettbewerbsregeln Wettbewerbsbeschränkungen für „mit dem Binnenmarkt unvereinbar“. Von Anfang an haben daher die Kommission und der Gerichtshof das EU-Wettbewerbsrecht auch in den Dienst der Öffnung und Offenhaltung der nationalen Märkte der Mitgliedstaaten gestellt. Das Wettbewerbsrecht der Union verfolgt somit auch das Ziel, Beschränkungen des zwischenstaatlichen Wirtschaftsverkehrs abzubauen.[170] Insbesondere Marktaufteilungen und -abschottungen entlang der nationalen Grenzen der Mitgliedstaaten, die nicht von den gegen staatliche Maßnahmen gerichteten wirtschaftlichen Grundfreiheiten des AEUV erfasst werden, sind daher als Wettbewerbsbeschränkungen verboten, die zudem auch ohne weiteres das in allen Wettbewerbsregeln enthaltene Tatbestandsmerkmal der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels erfüllen. Dazu zählen zunächst die durch unternehmerisches Verhalten – etwa durch eine vertraglich vereinbarte regionale Marktaufteilung oder einen durch Export- bzw. Re-Exportverbote abgesicherten Gebietsschutz – errichteten bzw. aufrechterhaltenen Beschränkungen. Sie verfolgen regelmäßig das Ziel, bestimmte regionale oder nationale Märkte bestimmten Marktteilnehmern vorzubehalten und dem Wettbewerb zu entziehen. Das widerspricht sowohl dem Ziel der Errichtung eines „Systems unverfälschten Wettbewerbs“ als auch direkt dem Ziel der Schaffung eines Binnenmarkts. Als integrationswidrige Wettbewerbsverfälschungen gelten aber auch die gem. Art. 107 ff. AEUV grundsätzlich verbotenen staatlichen Beihilfen zugunsten einzelner Unternehmen oder Wirtschaftszweige, die hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Wirkungen ein Substitut für protektionistische Marktabschottungsmaßnahmen sind.
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Entgegen einer weit verbreiteten Auffassung[171] steht das Integrationsziel nicht neben dem Wettbewerbsziel, vielmehr decken sich die beiden Ziele.[172] Da sich das „System unverfälschten Wettbewerbs“ nach dem Protokoll Nr. 27 über den Binnenmarkt und den Wettbewerb auf den alle mitgliedstaatlichen Territorien umfassenden Markt bezieht, stellen alle integrationswidrigen Marktaufteilungen notwendigerweise zugleich Wettbewerbsbeschränkungen dar. Dies gilt jedenfalls sofern man als Schutzziel des Wettbewerbsrechts zutreffend die Aufrechterhaltung eines wettbewerblichen Interaktionssystems und Entdeckungsprozesses (also einer für das autonome Handeln der Unternehmen hinreichend offenen Marktstruktur) begreift. Ein Konflikt zwischen Integrationsziel und Wettbewerbsziel kann nur dann entstehen, wenn man bei der Feststellung einer Wettbewerbsbeschränkung auf die Effizienzwirkungen, insbesondere im Sinne der Auswirkungen auf die Konsumentenwohlfahrt abstellt. Dann eröffnet sich in der Tat die Möglichkeit, dass integrationswidrige Marktabschottungen im Einzelfall einmal effizient sind. So kann der vertraglich vereinbarte absolute Gebietsschutz eines Alleinvertriebshändlers erforderlich sein, um Trittbrettfahrer-Effekte im Hinblick auf Werbe- oder Kundenberatungsleistungen zu unterbinden. Unter Effizienzgesichtspunkten könnte sich ferner die Möglichkeit einer Rechtfertigung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV eröffnen.
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Demgegenüber hat der EuGH jedoch zum einen stets betont, dass die unionsrechtlichen Wettbewerbsregeln „die Struktur des Marktes und damit den Wettbewerb als solchen“ schützen und dass es daher insbesondere auf etwaige Ineffizienzen in Gestalt einer Minderung der Konsumentenwohlfahrt nicht ankommt (siehe dazu oben Rn. 421 ff.);[173] zum anderen hat der EuGH wiederholt „Vereinbarungen, durch die nationale Märkte nach den nationalen Grenzen abgeschottet werden sollten, insbesondere Vereinbarungen, durch die Parallelexporte verboten oder eingeschränkt werden sollten, als Vereinbarungen qualifiziert, die eine Beschränkung des Wettbewerbs … bezwecken“[174] und dementsprechend per se rechtwidrig sind. Damit folgt der EuGH seiner schon im Fall Consten und Grundig festgelegten Linie, der zu Folge positive wirtschaftliche Auswirkungen (in casu: die Ausweitung des grenzüberschreitenden Handelsvolumens) einer territorialen Marktabschottung durch absoluten Gebietsschutz nicht den Charakter einer den zwischenstaatlichen Handel beeinträchtigenden Wettbewerbsbeschränkung nehmen können.[175] Hierzu steht nicht im Widerspruch, dass der EuGH im Falle der einseitigen Einschränkung des Parallelhandels durch ein marktbeherrschendes Unternehmen (etwa durch eine Lieferverweigerung bezüglich der zum Parallelhandel geeigneten Produkte) anerkannt hat, dass das Unternehmen seine legitimen Interessen im Rahmen der Verhältnismäßigkeit schützen darf.[176] Er hat aber gleichzeitig darauf hingewiesen, dass aufgrund des Ziels des Vertrags, den Wettbewerb im Binnenmarkt vor Verfälschungen zu schützen, auch solche Praktiken eines marktbeherrschenden Unternehmens nicht dem Verbot des Art. 102 AEUV entzogen sind, „durch die Parallelexporte aus einem Mitgliedstaat in andere Mitgliedstaaten verhindert werden sollen und die durch die Abschottung der nationalen Märkte die Vorteile eines wirksamen Wettbewerbs bei der Versorgung und bei den Preisen zunichtemachen, die diese Exporte den Endverbrauchern in diesen anderen Mitgliedstaaten verschaffen würden.“[177] Im Ergebnis kommt die Übereinstimmung von Wettbewerbsziel und Integrationsziel somit darin zum Ausdruck, dass Marktabschottungen entlang nationaler Grenzen die Tatbestandsmerkmale „Wettbewerbsbeschränkung“ und „Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels“, die allen unionsrechtlichen Wettbewerbsregeln gemeinsam sind, stets gleichzeitig erfüllen.
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Die Bedeutung des Integrationsziels im Rahmen der Wettbewerbsregeln zeigt sich im Übrigen daran, dass territoriale Marktabschottungen durch absoluten Gebietsschutz, wie sie insbesondere in vertikalen Alleinvertriebsvereinbarungen vorkommen, zu den „Kernbeschränkungen“ rechnen, die einer Rechtfertigung gem. Art. 101 Abs. 3 AEUV grundsätzlich nicht zugänglich sind. In den Gruppenfreistellungsverordnungen der Kommission, insbesondere in der VertikalGVO 330/2010 betreffend Vertikalvereinbarungen, sind sie daher von der Freistellung vom Kartellverbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV ausdrücklich ausgenommen.[178]
Anmerkungen
Der Markt funktioniert optimal nur im Hinblick auf „private