im Klaren gewesen sein, dass sich mit dem Begriff „Wettbewerbsprozess“ eindeutig die Vorstellung verbindet, der Wettbewerb sei ein Entdeckungsverfahren, dessen konkrete Ergebnisse sich weder vorhersagen, noch einzelnen unternehmerischen Handlungen zurechnen lassen. Diese Konzeption steht aber in diametralem Gegensatz zu einem „stärker wirtschaftlichen Ansatz“ im Sinne der eingangs wiedergegebenen Empfehlungen der EAGCP.[142] Dass der Schutz des Wettbewerbsprozesses im Sinne der Aufrechterhaltung einer hinreichend offenen Marktstruktur indirekt auch die Wettbewerber in ihren Marktchancen schützt, versteht sich von selbst. Es gibt keinen Wettbewerb ohne Wettbewerber. Daraus einen Gegensatz zu konstruieren ist verfehlt. Im „System unverfälschten Wettbewerbs“ sind die Wettbewerber, die dem Leistungswettbewerb standhalten, „systemrelevant“.
(e) Reaktion des EuGH
421
Kommissionsleitlinien können keine normative Verbindlichkeit für sich in Anspruch nehmen. Sie sind keine Rechtsakte, die das primäre oder das sekundäre Unionsrecht ändern können. Sie bringen zwar die von der Kommission für richtig gehaltene Interpretation der Wettbewerbsregeln zum Ausdruck, sie können aber die allein verbindliche Auslegung durch den EuGH nicht präjudizieren. Dies bedeutet aber umgekehrt, dass die Rechtsprechung des Gerichts und des Gerichtshofs der Europäischen Union von der Kommission zu beachten ist. Es ist daher nicht ohne Bedeutung, dass der EuGH in letzter Zeit wiederholt seinen bereits im Fall Continental Can formulierten Standpunkt bekräftigt hat, die Wettbewerbsregeln seien nicht nur auf Verhaltensweisen zu beziehen,
„durch die den Verbrauchern ein unmittelbarer Schaden erwachsen kann, sondern auch auf solche, die ihnen durch einen Eingriff in die Struktur des tatsächlichen Wettbewerbs, von dem Art. 3 Buchst. f EWGV [jetzt: Art. 3 Abs. 3 UAbs. I S. 1 EU iVm Protokoll Nr. 27 über den Binnenmarkt und den Wettbewerb] des Vertrages handelt, Schaden zufügen“.[143]
422
Soweit der EuGH an dieser Stelle Verhaltensweisen erwähnt, deren Wettbewerbswidrigkeit auf einer unmittelbaren Schädigung der Verbraucher beruht, handelt es sich ausschließlich um die Fälle des Ausbeutungsmissbrauchs marktbeherrschender Unternehmen im Sinne von Art. 102 AEUV. Daraus lässt sich also keineswegs verallgemeinernd der Schluss ziehen, auch in allen anderen von den Wettbewerbsregeln erfassten Fällen hinge die Wettbewerbswidrigkeit von einer Schädigung der Verbraucher (dh einer Minderung der Konsumentenwohlfahrt) ab. In den Missbrauchsleitlinien 2009 anerkennt die Kommission das implizit selbst.[144]
423
Nach der bisherigen Rechtsprechung des EuGH geht es also im Europäischen Wettbewerbsrecht in der Regel gerade nicht um direkten Verbraucherschutz, sondern um den Schutz eines „wirksamen Wettbewerbs“ (dh des Wettbewerbsprozesses und einer wettbewerblichen Marktstruktur). Die erwarteten positiven gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrtswirkungen sind hiernach das Ergebnis des Wettbewerbs und nicht das Ergebnis einzelner individualisierbarer unternehmerischer Handlungen, deren gesamtwirtschaftliche Wohlfahrtswirkungen erst durch den Wettbewerb vermittelt werden. Soweit die Kommission in den letzten Jahren demgegenüber den Eindruck vermittelt hat, die von ihr beabsichtigte „Modernisierung“ der Wettbewerbsregeln bestehe gerade darin, dass das Vorliegen eines Wettbewerbsverstoßes generell von negativen Effizienzwirkungen (insbesondere in Gestalt eines Verbraucherschadens) abhängig gemacht werden solle, verlässt sie die normativen Grundlagen der unionsrechtlichen Wettbewerbspolitik.
424
Das hat inzwischen der EuGH mit seinem Urteil im Rechtsstreit GlaxoSmithKline/Kommission über die Wettbewerbswidrigkeit von Parallelhandelsbeschränkungen im Arzneimittelbereich[145] bestätigt. Er hat – entgegen dem EuG,[146] jedoch in Übereinstimmung mit den Schlussanträgen der Generalanwältin[147] – entschieden, dass die Verbraucherbenachteiligung kein Tatbestandsmerkmal des Kartellverbots des Art. 81 Abs. 1 EG [jetzt: Art. 101 Abs. 1 AEUV] ist und damit keine Voraussetzung für die Feststellung einer Wettbewerbsbeschränkung.[148] Und in seinem Urteil T-Mobile Netherlands[149] hat der EuGH mit aller wünschenswerten Klarheit konstatiert, dass
„die … Wettbewerbsregeln des Vertrags nicht nur dazu bestimmt [sind], die unmittelbaren Interessen einzelner Wettbewerber oder Verbraucher zu schützen, sondern die Struktur des Marktes und damit den Wettbewerb.“
(f) Forensische Ökonomie
Literatur:
Ewald Ökonomie im Kartellrecht: Vom more economic approach zu sachgerechten Standards forensischer Ökonomie, ZWeR 2011, 15; Zimmer Law and Economics im Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, in: FS Canenbley (2012) 525.
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Anders als es nach den Aussagen der Kommission und der allgemeinen Diskussion häufig den Anschein hat, bedeutet die „stärker wirtschaftliche Betrachtungsweise“ (der more economic approach) in Wahrheit keine ökonomische Neuausrichtung der wettbewerbsrechtlichen Bewertungsmaßstäbe, die an ein unternehmerisches Verhalten angelegt werden. Vielmehr betrifft dieser Ansatz genau genommen (nur) die ökonomische Analyse der Sachverhalte und ihrer Subsumtion unter die rechtlich definierten Maßstäbe in den konkreten Einzelfällen. Die Ökonomisierung der Wettbewerbsregeln ist also bei zutreffender Würdigung keine theoretische Frage der Schutzziele, sondern eine Frage der praktischen Rechtsanwendung:
Diese Unterscheidung tritt in dem bereits erwähnten Fall GlaxoSmithKline/Kommission,[150] in dem es um die Wettbewerbswidrigkeit von Parallelhandelsbeschränkungen im Arzneimittelbereich ging, deutlich hervor: Zunächst wurde in diesem Fall die normative Frage aufgeworfen, ob das ökonomische Konzept der Verbraucherbenachteiligung ein für die Beurteilung solcher Beschränkungen maßgebliches Tatbestandsmerkmal des Kartellverbots des Art. 81 Abs. 1 EG [jetzt: Art. 101 Abs. 1 AEUV] sei und damit eine Voraussetzung für die Feststellung einer Wettbewerbsbeschränkung. Das hat der EuGH wie gesagt – entgegen dem EuG,[151] jedoch in Übereinstimmung mit den Schlussanträgen der Generalanwältin[152] – abgelehnt.[153] Für den Fall einer positiven Antwort auf diese Frage hätte sich dann – in Übereinstimmung mit dem EuG – das Problem des tatsächlichen Nachweises der durch Parallelhandel entstehenden Verbrauchervorteile bzw. der durch Beschränkungen dieses Handels entstehenden Verbrauchernachteile gestellt. Zur Lösung dieses Problems wäre auf ökonomische Erfahrungssätze abzustellen gewesen.[154]
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Es besteht Einigkeit darüber, dass die Nutzung ökonomischer und ökonometrischer Erkenntnisfortschritte für die Sachverhaltsaufklärung und -würdigung unerlässlich ist. Man hat dafür treffend den kennzeichnenden Begriff der forensischen Ökonomie geprägt.[155] Sie ist keineswegs ein neues Phänomen, wenngleich sie in den letzten Jahren schrittweise verstärkt genutzt worden ist, und zwar sowohl bei der Anwendung des Kartellverbots als auch des Verbots des Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung und der Zusammenschlusskontrolle:[156]
Hinzuweisen ist im Rahmen der Anwendung des Kartellverbots beispielsweise auf das Problem des Nachweises einer Abstimmung des Marktverhaltens, wenn es an expliziten Absprachen fehlt. Die Frage ist dann, inwieweit sich aus den beobachtbaren Indizien auf ein Kartell schließen lässt. Im berühmten Teerfarbenfall[157] hatten die großen europäischen Farbenhersteller aus verschiedenen Ländern, die zahlreich genug waren, um noch nicht als (enges) Oligopol mit starker Reaktionsverbundenheit angesehen zu werden, mehrfach in vergleichsweise kurzen Abständen nahezu gleichzeitig – jeweils nach vorheriger Ankündigung – die Preise für ein umfangreiches und durchaus heterogenes Warensortiment angehoben. Aufgrund des Erfahrungssatzes, dass nur Mitglieder eines engen Oligopols, die bei weitgehend identischen Kostenstrukturen homogene Güter herstellen, aufgrund ihrer Reaktionsverbundenheit (Interdependenz) auch ohne wechselseitige Abstimmung zu parallelem Marktverhalten neigen,