Peter Behrens

Europäisches Marktöffnungs- und Wettbewerbsrecht


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im Klaren gewesen sein, dass sich mit dem Begriff „Wettbewerbsprozess“ eindeutig die Vorstellung verbindet, der Wettbewerb sei ein Entdeckungsverfahren, dessen konkrete Ergebnisse sich weder vorhersagen, noch einzelnen unternehmerischen Handlungen zurechnen lassen. Diese Konzeption steht aber in diametralem Gegensatz zu einem „stärker wirtschaftlichen Ansatz“ im Sinne der eingangs wiedergegebenen Empfehlungen der EAGCP.[142] Dass der Schutz des Wettbewerbsprozesses im Sinne der Aufrechterhaltung einer hinreichend offenen Marktstruktur indirekt auch die Wettbewerber in ihren Marktchancen schützt, versteht sich von selbst. Es gibt keinen Wettbewerb ohne Wettbewerber. Daraus einen Gegensatz zu konstruieren ist verfehlt. Im „System unverfälschten Wettbewerbs“ sind die Wettbewerber, die dem Leistungswettbewerb standhalten, „systemrelevant“.

      (e) Reaktion des EuGH

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      Kommissionsleitlinien können keine normative Verbindlichkeit für sich in Anspruch nehmen. Sie sind keine Rechtsakte, die das primäre oder das sekundäre Unionsrecht ändern können. Sie bringen zwar die von der Kommission für richtig gehaltene Interpretation der Wettbewerbsregeln zum Ausdruck, sie können aber die allein verbindliche Auslegung durch den EuGH nicht präjudizieren. Dies bedeutet aber umgekehrt, dass die Rechtsprechung des Gerichts und des Gerichtshofs der Europäischen Union von der Kommission zu beachten ist. Es ist daher nicht ohne Bedeutung, dass der EuGH in letzter Zeit wiederholt seinen bereits im Fall Continental Can formulierten Standpunkt bekräftigt hat, die Wettbewerbsregeln seien nicht nur auf Verhaltensweisen zu beziehen,

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      Nach der bisherigen Rechtsprechung des EuGH geht es also im Europäischen Wettbewerbsrecht in der Regel gerade nicht um direkten Verbraucherschutz, sondern um den Schutz eines „wirksamen Wettbewerbs“ (dh des Wettbewerbsprozesses und einer wettbewerblichen Marktstruktur). Die erwarteten positiven gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrtswirkungen sind hiernach das Ergebnis des Wettbewerbs und nicht das Ergebnis einzelner individualisierbarer unternehmerischer Handlungen, deren gesamtwirtschaftliche Wohlfahrtswirkungen erst durch den Wettbewerb vermittelt werden. Soweit die Kommission in den letzten Jahren demgegenüber den Eindruck vermittelt hat, die von ihr beabsichtigte „Modernisierung“ der Wettbewerbsregeln bestehe gerade darin, dass das Vorliegen eines Wettbewerbsverstoßes generell von negativen Effizienzwirkungen (insbesondere in Gestalt eines Verbraucherschadens) abhängig gemacht werden solle, verlässt sie die normativen Grundlagen der unionsrechtlichen Wettbewerbspolitik.

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      „die … Wettbewerbsregeln des Vertrags nicht nur dazu bestimmt [sind], die unmittelbaren Interessen einzelner Wettbewerber oder Verbraucher zu schützen, sondern die Struktur des Marktes und damit den Wettbewerb.“

      (f) Forensische Ökonomie

      Literatur:

      Ewald Ökonomie im Kartellrecht: Vom more economic approach zu sachgerechten Standards forensischer Ökonomie, ZWeR 2011, 15; Zimmer Law and Economics im Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, in: FS Canenbley (2012) 525.

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      Anders als es nach den Aussagen der Kommission und der allgemeinen Diskussion häufig den Anschein hat, bedeutet die „stärker wirtschaftliche Betrachtungsweise“ (der more economic approach) in Wahrheit keine ökonomische Neuausrichtung der wettbewerbsrechtlichen Bewertungsmaßstäbe, die an ein unternehmerisches Verhalten angelegt werden. Vielmehr betrifft dieser Ansatz genau genommen (nur) die ökonomische Analyse der Sachverhalte und ihrer Subsumtion unter die rechtlich definierten Maßstäbe in den konkreten Einzelfällen. Die Ökonomisierung der Wettbewerbsregeln ist also bei zutreffender Würdigung keine theoretische Frage der Schutzziele, sondern eine Frage der praktischen Rechtsanwendung:

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