Ziele nicht ohne weiteres in gleichem Maße verfolgt werden könnten, sondern dass Zielkonflikte möglich seien. Die nationalen Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten der EWG bzw. EG unterschieden sich daher nicht unerheblich hinsichtlich der relativen Gewichtung dieser Ziele sowie der Instrumente, die zu ihrer Verfolgung eingesetzt werden.
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Inzwischen ist dieser „prozesspolitische“ Ansatz der Erkenntnis gewichen, dass es keine ökonomisch hinreichend fundierte Theorie des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts gibt, die eindeutige Kausalbeziehungen zwischen den für eine Globalsteuerung relevanten makro-ökonomischen Größen und den gesamtwirtschaftlichen Ergebnissen des marktwirtschaftlichen Prozesses begründen könnte. Daher fehlt es auch an einer tragfähigen Begründung für die Annahme, dem marktwirtschaftlichen Prozess seien Ungleichgewichtslagen inhärent, die durch staatliche Globalsteuerung ausgeglichen werden könnten und müssten. Und es fehlt schlicht das für eine staatliche Globalsteuerung erforderliche Lenkungswissen. Die heutige Theorie der Wirtschaftspolitik geht daher von der entgegengesetzten Annahme aus, dass marktwirtschaftliche Prozesse sich gemäß den jeweils vorhandenen Rahmenbedingungen grundsätzlich selbst stabilisieren.[11] Diese Prozesse beruhen auf der Anpassung der individuellen Wirtschaftspläne der vielen Marktteilnehmer an die ständigen Veränderungen ihrer wirtschaftlichen Umwelt.[12] Ungleichgewichte entstehen allenfalls durch Hindernisse oder regulatorische Fehlanreize, die dem individuellen Anpassungsverhalten im Wege stehen. Die Leistungsfähigkeit des marktwirtschaftlichen Gesamtsystems zeigt sich in seiner Flexibilität zur Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen.
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Dieser grundlegende Wandel des Verständnisses von Wirtschaftspolitik hat ganz erhebliche Auswirkungen auf die Instrumente, mit denen das erwähnte Zielbündel bestehend aus Geldwertstabilität, möglichst hoher Beschäftigung, ausgewogenem Wirtschaftswachstum und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht zu verwirklichen ist. Wachstum im Sinne der ständigen Erhöhung des Einkommens und Vermögens der Bevölkerung sowie ein möglichst hoher Grad an Beschäftigung sind hiernach die Ergebnisse eines funktionsfähigen marktwirtschaftlichen Systems. Das außenwirtschaftliche Gleichgewicht stellt sich ein, wenn die marktwirtschaftlichen Grundsätze auch im Außenverhältnis zur Geltung kommen. Die Geldwertstabilität gehört hingegen – ebenso wie ein rechtlich- institutioneller Rahmen – im Grundsatz zu den Funktionsvoraussetzungen dieses Systems.
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Hiernach hat die Wirtschaftspolitik in der EU die Aufgabe, zum einen den institutionellen Rahmen optimal zu gestalten, innerhalb dessen sich die marktförmigen Austauschprozesse vollziehen, denen Art. 120 S. 2 AEUV als wesentliche Wirkung den „effizienten Einsatz der Ressourcen“ zuschreibt; diesem Zweck dienen die Ordnungspolitik (dazu im Folgenden 2.) sowie in gewisser Hinsicht auch die Geldpolitik (dazu im Folgenden 3.). Zum anderen geht es um den Abbau von Hemmnissen, die dem effizienten Ablauf der Wirtschaftsprozesse im Wege stehen können, durch wirtschaftspolitische Steuerung; diesem Zweck dient in gewisser Hinsicht ebenfalls die Geldpolitik, vor allem aber die Wachstums- und Beschäftigungspolitik sowie die Finanz- und Haushaltspolitik (dazu im folgenden 4.–5.). Das alles gilt im Rahmen ihrer jeweiligen Kompetenzen sowohl für die Mitgliedstaaten als auch die Union.
2. Ordnungspolitik
Literatur:
Mestmäcker Auf dem Wege zu einer Ordnungspolitik für Europa, in: Mestmäcker/Möller/Schwarz (Hrsg.) FS von der Groeben (1987) 9; van Scherpenberg Ordnungspolitik im EG-Binnenmarkt: Auftrag für die Europäische Union (1992); Wohlgemuth Europäische Ordnungspolitik (2008); Hatje Wirtschaftsverfassung im Binnenmarkt, in: Bogdandy/Bast (Hrsg.) Europäisches Verfassungsrecht (2. Aufl. 2009) 826.
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Eine Marktwirtschaft funktioniert nicht voraussetzungslos, sondern ist zunächst einmal auf rechtliche Institutionen wie Eigentum und Vertrag, Gewerbefreiheit und Wettbewerbsschutz angewiesen. Die Existenz solcher Institutionen ist für eine Marktwirtschaft konstitutiv. Sie determinieren die Art und Weise wie Unternehmen und alle anderen Marktteilnehmer wirtschaftlich planen und wie die Einzelpläne koordiniert werden. Die Ordnungspolitik der Union[13] stützt sich zum einen auf die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, insbesondere soweit es um die für eine offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb konstitutiven Institutionen des Privatrechts (vor allem Eigentum und Vertrag) sowie die rechtlich garantierten wirtschaftlichen Handlungsfreiheiten der Unternehmen und Unionsbürger geht. Hinsichtlich der grenzüberschreitenden Wirtschaftsabläufe hat die Union jedoch ihre eigene Ordnungspolitik. Sie hat ihren Niederschlag im EUV und im AEUV gefunden, und zwar in den Bestimmungen, die den Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb rechtsverbindlich institutionalisieren.[14] Den Gegenstand der ordnungspolitischen Tätigkeit der Union definieren Art. 3 Abs. 3 S. 1 EUV iVm dem Protokoll Nr. 27 über den Binnenmarkt und den Wettbewerb sowie Art. 3 Abs. 1 lit. b AEUV im Sinne der Errichtung eines Binnenmarkts sowie eines Systems unverfälschten Wettbewerbs. Instrumente der Ordnungspolitik der Union sind demgemäß die Marktöffnung durch Verwirklichung der wirtschaftlichen Freiheiten (Waren-, Dienstleistungs-, Personen-, Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheiten) sowie die Durchsetzung der Wettbewerbsregeln. Die wirtschaftlichen Freiheiten verbieten im Grundsatz mitgliedstaatliche Beschränkungen des zwischenstaatlichen Wirtschaftsverkehrs. Die Wettbewerbsregeln verbieten grundsätzlich Beschränkungen und Verzerrungen des Wettbewerbs durch Unternehmen. Die Durchsetzung dieser Verbote obliegt insbesondere auch den Unionsorganen. Darüber hinaus verfügt die Union über legislatorische Kompetenzen, insbesondere zur Rechtsangleichung und zur Liberalisierung regulierter Märkte. Durch Rechtsangleichung (Art. 114–118 AEUV) werden Rechtsunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten beseitigt soweit sie die Ausübung der wirtschaftlichen Freiheiten behindern und damit der Marktöffnung entgegenstehen;[15] durch Liberalisierung regulierter Märkte (Art. 106 Abs. 3 AEUV bzw. Art. 114 AEUV) wird Wettbewerb hergestellt, wo er bislang durch staatliche Maßnahmen eingeschränkt war.
3. Geldpolitik
Literatur:
Selmayr Die Wirtschafts- und Währungsunion als Rechtsgemeinschaft, AöR 1999, 357; Heine/Herr Die Europäische Zentralbank (3. Aufl. 2008); Chaloupek/Kromphardt (Hrsg.) Finanzkrise und Divergenzen in der Wirtschaftsentwicklung als Herausforderung für die Europäische Währungsunion (2009); Häde Die Europäische Währungsunion in der internationalen Finanzkrise, EuR 2010, 854; Horn Die Reform der Europäischen Währungsunion und die Zukunft des Euro, NJW 2011, 1398; Oppermann Euro-Stabilisierung durch EU-Notrecht, in: FS Möschel (2011) 909; Europäische Kommission Die Geldpolitik der EZB (3. Aufl. 2011); Seester Die Rolle der EZB in der europäischen Staatsschuldenkrise, EWS 2012, 80; Siekmann (Hrsg.) Kommentar zur Europäischen Währungsunion (2013); Görgens/Ruckriegel/Seitz Europäische Geldpolitik (6. Aufl. 2013); di Fabio Die Zukunft einer stabilen Wirtschafts- und Währungsunion (2013); Oppermann/Classen/Nettesheim Europarecht (6. Aufl. 2015) § 19: Währungsunion, 318; Bieber/Epiney/Haag/Kotzur Die Europäische Union (12. Aufl. 2016) § 21: Wirtschafts- und Währungsunion, 507.
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Von gleichermaßen elementarer ordnungspolitischer Bedeutung für die Wirtschafverfassung der EU ist neben der Wettbewerbsordnung die Geldverfassung. Der Bezug zur marktwirtschaftlichen Verfassung der EU besteht darin, dass die Funktionsfähigkeit des Preismechanismus notwendige Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit von Wettbewerbsmärkten ist. Von ihr hängt die Fähigkeit der Marktteilnehmer ab, ihre individuellen wirtschaftlichen Pläne zu entwerfen und zu koordinieren, dh auch über längere Zeiträume hinweg deren Kosten und Nutzen zu kalkulieren. Das setzt die Stabilität des Geldwertes voraus, der seinerseits wiederum entscheidend von der Liquidität der Wirtschaftssubjekte