Abtreibung und Schwangerschaftsunterbrechung i.d. osteurop. Ländern (Stud. des Inst. f. Ostrecht München, Bd. 14), 1962, S. 24.
3. Die siebziger Jahre
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In der DDR wurde 1972 und in Österreich 1974 die sog. Fristenlösung eingeführt, d.h. die Straflosigkeit des Abbruchs in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft. So revolutionär diese Regelung erschien, so lag doch darin nur eine Rückkehr zu der christlichen Auffassung bis ins späte Mittelalter (s.o. Rn. 10).
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1970 schlug der AE auch für die Bundesrepublik die Fristenlösung vor, allerdings nur nach einer umfassenden sozialen, medizinischen und psychischen Beratung der Schwangeren. Der RegE eines 5. StrRG (BTD VI/3434) mit einer großzügigen Indikationsregelung konnte in der 6. Legislaturperiode nicht mehr erledigt werden; im SA erfolgte jedoch noch eine große Anhörung von Sachverständigen (Berat. VI/2135–2362). In der 7. Wahlperiode brachten die Fraktionen der SPD/FDP einen Entwurf mit Fristenlösung (BTD 7/375) und die Fraktionen der CDU/CSU sowie zwei Abgeordnetengruppen Entwürfe mit unterschiedlich weitgehenden Indikationslösungen ein (BTD 7/554, 443, 561, 567[8]). Der Bundestag verabschiedete am 26.4.74 den SPD/FDP-Entwurf als 5. StrRG. Der die Fristenregelung enthaltende neue § 218a wurde jedoch auf Antrag der Länder Baden-Württemberg und Bayern durch BVerfGE 39, 1 für mit Art. 2 Abs. 2 S. 1 i.V.m. Art. 1 GG unvereinbar und nichtig erklärt[9]. Dieses Urteil hat erhebliche grundsätzliche Bedeutung, weil es erstmals die positive Pflicht des Gesetzgebers zum Erlass von Strafvorschriften postuliert[10].
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Demgegenüber hat der Oberste Gerichtshof der USA 1973 aus dem „right to privacy“ einen Anspruch der Schwangeren auf Schwangerschaftsabbruch hergeleitet[11] und der österr. VerfGH 1974 die Fristenlösung für verfassungsgemäß erklärt[12].
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Die sich aus dem Urteil ergebenden Folgen für die Ausgestaltung des neuen Rechts waren wiederum lebhaft umstritten[13]. Der Entwurf der SPD und FDP erkannte zwar nunmehr zwangsläufig die Indikationslösung an, steckte aber dabei und vor allem hinsichtlich der Strafbarkeit der Schwangeren selbst die Grenzen sehr weit und betonte schon durch seine Benennung „15. StÄG“ die grundsätzliche Gültigkeit des 5. StrRG. Der SA entschied sich mit geringfügigen Änderungen für den SPD/FDP-Entwurf[14]. Er trat am 21.6.76 in Kraft[15].
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Auf Grund der durch das 5. StrRG eingeführten Meldepflicht wurden seit 1977 zunehmend Abbrüche gemeldet (1982 91 064), die bis 1992 auf 74 700 zurückgingen. Dabei stieg der Anteil der Notlagenindikation von 57 auf fast 89 %; offensichtlich z.T. aufgrund einer Verlagerung auf die für den feststellenden Arzt „bequemere“ Notlagenindikation. Dazu kamen noch 50 000–250 000 (Liebl aaO: 120 000) nicht gemeldete Fälle sowie eine erhebliche Zahl von Abbrüchen im Ausland, insbesondere in Holland und England.
Anmerkungen
Zu diesen 4 Entwürfen Fezer GA 74, 65 ff.
Eingehende Dokumentation bei Arndt/Erhard/Funcke (Hrsg.), Der § 218 vor dem BVerfG, 1979. Zu Einflüssen der Weltanschauung Stahl aaO 33 ff.
Vgl. abw. Meinung BVerfGE 39, 68 ff.; Kriele JZ 75, 222; Roth JuS 75, 617; Krumbiegel FamRZ 75, 550; Müller-Dietz FS Dreher 1977, 97; Geddert aaO.
EuGRZ 74, 52; hierzu Brugger NJW 86, 896; Piazolo, Das Recht auf Abtreibung als Teilaspekt des Right of Privacy, 1992.
EuGRZ 75, 74. Eingehend H. Reis, Das Lebensrecht des ungeborenen Kindes als Verfassungsproblem, 1984.
Vgl. Kriele ZRP 75, 73; R. Schmitt JR 75, 356; Rüpke aaO.
Berat. 7/2343–2372, 2393–2440, 2451–2452, 2460–2461; Bericht BTD 7/4696.
BGBl. I 1213.
III. Das Ringen um die gegenwärtige Regelung
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Gegen das 15. StÄG wurden erneut verfassungsrechtliche Bedenken geltend gemacht[16]; frühere Bedenken[17] bestanden fort. Andererseits wurden die Entscheidungen des BVerfG und das 15. StÄG vor der Europ. Kommission für Menschenrechte wegen Verstoßes gegen Art. 8 MRK (Achtung des Privat- und Familienlebens) angegriffen, allerdings ohne Erfolg[18].
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Zu einem Hauptkriegsschauplatz entwickelte sich der Streit um die Rechtsnatur der Indikationen. Die Indikationen waren als Rechtfertigungsgründe gemeint[19], enthielten aber mit ihren Unzumutbarkeitsformeln weitgehend Entschuldigungskriterien, und der Gesetzgeber hatte nicht gewagt, die Rechtfertigung klar auszusprechen („ist nicht nach § 218 strafbar“). Den Schwangerschaftsabbruch bei Indikationen weiterhin als rechtswidrig gelten zu lassen[20], hätte die unterbrechenden Ärzte und die Schwangeren zu rechtswidrigen Angreifern gemacht, gegen die Nothilfe zulässig gewesen wäre[21].
Die Weiterungen im Sozialrecht (Bezahlung durch die Krankenkassen, §§ 200f, 200g RVO) waren beabsichtigt. Wenn BGHZ Klagen auf Schadensersatz wegen missglückten Schwangerschaftsabbruchs stattgab (NJW 85, 2752; VersR 86, 869), so waren diese Konsequenzen zwar unerfreulich, aber Mitgefühl mit den Ärzten, die im Schadenersatzprozess plötzlich die Nichtigkeit des Abbruchsvertrages wegen Verbotswidrigkeit geltend machten, war wohl auch kaum angebracht.
Aus diesem Grunde mussten die Indikationen als Rechtfertigungsgründe angesehen werden[22]. Allerdings handelte es sich nicht um die den klassischen Rechtfertigungsgründen zugrundeliegenden Gedanken eines wertvollen oder rechtsneutralen Verhaltens, sondern um ein bloßes Nichteingreifen des Strafrechts[23].
22
Ein Höhepunkt des Kampfes um die Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs war das Verfahren vor dem LG Memmingen 1988/89 gegen den Frauenarzt Dr. Theissen, der zahlreiche Schwangerschaftsabbrüche ohne Beratung vorgenommen hatte[24]. Das Verfahren und das Urteil erfuhren eine „beispiellose Schelte“ und eine „maßlose Kritik“ (Schünemann ZRP 91, 380). Der BGH verschloss sich dem Druck der öffentlichen Meinung nicht: er bejahte zwar die Überprüfbarkeit der „ärztlichen Erkenntnis“, billigte dem Arzt aber einen Beurteilungsspielraum zu und erklärte alle Indikationen zu Rechtfertigungsgründen[25]. Der Freispruch einer Patientin (LG Memmingen NStZ 89, 227) wurde von BayObLG NJW 90, 2328 aufgehoben[26].
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Bei der Wiedervereinigung wurde die in der DDR bestehende Fristenlösung (s.o. Rn.