gewichen. Es fließen verstärkt gesellschaftspolitische Einflüsse in das Gesellschaftsrecht ein[77] (VorstOG – Vorstandsvergütungsoffenlegungsgesetz (2005), VorstAG – Vorstandsvergütungsangemessenheitsgesetz [78] (2009), Gesetz[79] für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst (FüPoG) (2015); Corporate Social Responsibility (CSR), Compliance, Nachhaltigkeit etc.).
5.4 Internationalisierung und Digitalisierung
28
Diese Einflüsse haben den Gesetzgebungsvorhaben seit Beginn der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts die Richtung gegeben und taten dies im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts immer noch. Sie können fast vollständig unter die Gesamtüberschrift „Internationalisierung[80] und Digitalisierung[81]“ gestellt werden. Im neuen Jahrtausend könnte man ergänzen „Corporate Governance für Wachstum und eine fairere Welt“, denn Corporate Governance, insbesondere die Ausrichtung auf Nachhaltigkeit, soll zu dem Wachstum beitragen, das die Industrienationen brauchen, um aus der Staatsschuldenkrise herauszuwachsen. Ferner werden zunehmend gesellschaftspolitisch motivierte Eingriffe in das Wirtschaftsrecht vorgenommen. Diese Topoi bleiben auch im neuen Jahrtausend beherrschend.
5.5 Das gesetzgeberische „Programm“
29
Die genannten Veränderungen der Systemgrundlagen und die daraus folgenden Wirkungen haben das bisherige Reformprogramm diktiert und bestimmen dieses auch in Zukunft:
– | Die Verantwortlichkeit des Vorstands sowie seine Ausrichtung auf nachhaltige Ertragskraft und Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens müssen verstärkt werden. |
– | Der Aufsichtsrat musste revitalisiert und als effektives und qualifiziertes Kontrollgremium mobilisiert werden. Das ist auch mit der Mitbestimmung möglich und nötig. Das bedeutet freilich eine Machtverschiebung vom Vorstand zum Aufsichtsrat. |
– | Die Unabhängigkeit des Aufsichtsrats vor allem vom Vorstand war zu sichern. |
– | Ebenso war die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers vom Vorstand zu sichern, er war stärker an den Aufsichtsrat als dessen Hilfsorgan anzukoppeln. |
– | Die Hauptversammlung als physische Präsenzversammlung muss mit neuen Inhalten gefüllt oder in ihrer Funktion gänzlich überdacht werden. |
– | Die Kompetenzen der Hauptversammlung und die Rechte der Klein- und Minderheitsaktionäre in der Hauptversammlung sind tendenziell nicht auszubauen, die Bedeutung der Rechte des Einzelaktionärs nimmt ab, der aufrechte Kleinaktionär ist ein Auslaufmodell, das Auftreten des Kleinaktionärs als Wächter der Interessen der Mitaktionäre ist eine pia fraus; aktive Finanzinvestoren und institutionelle Investoren weltweit treten an dessen Stelle. |
– | Dem Absinken der Hauptversammlungspräsenzen ist entgegenzuwirken, um zu verhindern, dass aktive Investoren mit geringem Aufwand einen auf Sondervorteile gerichteten Einfluss ausüben können; dazu sind insbesondere die institutionellen Investoren zur Stimmabgabe zu motivieren und ist die grenzüberschreitende Stimmrechtsausübung zu erleichtern. |
– | Die rasche Handlungsfähigkeit der Gesellschaft muss gesichert sein, missbräuchlichen Klägern war entgegenzutreten, Missbrauchs- und Erpressungspotentiale waren abzubauen. |
– | Die Verantwortlichkeit der Organe in Form zivilrechtlicher Haftung oder Strafbarkeit ist zu verschärfen. |
– | Die Ausübung der bestehenden Aktionärsrechte muss allen Aktionären, auch den Ausländern zu Verfügung stehen, die rechtlichen Rahmenbedingungen für die grenzüberschreitende Ausübung von Aktionärsrechten waren zu verbessern. |
– | Die Finanzinformationen des Unternehmens mussten verbessert und ihre internationale Zugänglichkeit sichergestellt werden. |
– | Interessenkonflikte bei allen Beteiligten vom Vorstand bis hin zu den Analysten[82] müssen offen gelegt und minimiert und Insiderverstößen muss wirksam begegnet werden. |
– | Aktien- und Bilanzrecht sind weniger gläubigerorientiert und mehr kapitalmarktorientiert auszurichten. International übliche Finanzierungsinstrumente und internationale Bilanzierungsstandards sind im deutschen Recht einzuführen. |
Das also war und ist das Langfrist-Programm. Praktisch alle aktienrechtlichen Änderungen seit Beginn der 90er Jahre bis ins Jahr 2016 und die für die Zukunft geplanten Maßnahmen lassen sich unter dieses Programm subsumieren – und viel ist auch schon erreicht worden,[83] wenn auch nicht immer in ganz gerader Linie, sondern in permanenten Pendelbewegungen.[84]
5.6 Die Shareholder Value Doktrin
30
Die in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts verbreitete Shareholder Value Doktrin[85] hatte programmatischen Charakter. Das KonTraG insgesamt stand unter der Wirkung dieser Doktrin. Das Gesetz hat allerdings nicht die Wertsteigerung zu Gunsten der Aktionäre um ihrer selbst willen als Ziel (das wäre kein taugliches rechtspolitisches Ziel), sondern hat umgekehrt die Ausrichtung der Unternehmenspolitik und des Handelns der Organe auf den „Shareholder Value“, besser: auf „Wertsteigerung“, benutzt, um die Unternehmen zum Wohl des Ganzen – und damit natürlich auch aller Stakeholder – ertragsstärker und wettbewerbsfähiger zu machen. Das Streben nach Schaffung von zusätzlichen Werten sollte wieder in den Mittelpunkt des unternehmerischen Handelns und Denkens gestellt werden. Auch wenn der Begriff „Shareholder Value“ heute aus der politischen Mode gekommen ist, so haben die genannten rechtspolitischen Ziele, für die dieser Begriff verwendet wurde, immer noch ihre Berechtigung. Das maßlose Zusammenkaufen von Umsatz unter Erosion der Erträge führt in die falsche Richtung. Ertragskraft sichert Zukunft.
Freilich hat die übertriebene „Shareholder Value Doktrin“ auch negative Folgen gehabt. So hat der massive Druck des Kapitalmarkts zu immer höheren Gewinnausweisen Fehlanreize zum „Accounting for Growth“[86], zur Absenkung des Eigenkapitals wegen der damit verbundenen Erhöhung der Eigenkapitalrendite (Return of Equity – ROE) und zu kreativer Bilanzgestaltung gesetzt. Heute richtet sich die Wirtschaftspolitik mehr auf eine „nachhaltige“ Entwicklung der Unternehmen und auf den Stakeholder Value aus.
Der große Schweizer Wirtschaftsrechtler Forstmoser hat zur Auflösung des Gegensatzes der beiden Glaubenslehren in seiner Abschiedsvorlesung[87] ausgeführt: „Mehrwert für die Aktionäre kann letztlich nur geschaffen werden, wenn das Unternehmen gute Mitarbeiter gewinnt, wenn es bei seinen Kunden und Lieferanten anerkannt ist und wenn es ihm – im Falle von Großunternehmen – gelingt, ein unternehmensfreundliches politisches und gesellschaftliches Umfeld zu sichern. Und ebenso klar ist, dass der Gewinn der Nährboden einer jeden unternehmerischen Tätigkeit und dadurch auch die Basis für eine Förderung aller am Unternehmen Interessierten ist.“ Die Gegensätze lösen sich also auf, wenn man das langfristige Unternehmensinteresse als Leitlinie wählt.
5.7 Reform in kleinen Schritten – Aktienrechtsreform