wenn sich also ein grundsätzlicher Reformbedarf plausibel erklären lässt, bleibt doch die Frage: Weshalb erleben wir seit Mitte der 90er Jahre immer wieder kleine Aktienrechtsnovellen und „Reförmchen“? Warum macht der Gesetzgeber nicht eine große Reform? Assmann überschreibt das als „Vom Kodifikationsideal zu Partialänderungen.“[89] Dazu kann man folgendes zu bedenken geben: Nach der Reform von 1965 war, wie oben bereits ausgeführt, lange Zeit gesetzgeberisch wenig geschehen. Der Schwerpunkt lag in dieser Zeit mehr auf der Rechtsfortbildung durch Wissenschaft und Rechtsprechung und auf notwendigen Richtlinienumsetzungen. Dort, wo es ohne Gesetzgeber nicht geht, hatte sich ein Reformstau aufgebaut. Ab Anfang der 90er Jahre hat dann der Gesetzgeber die Zügel wieder aufgenommen.[90]
Die Aktienrechtsreform von 1965 ging noch vom Leitbild der großen Kodifikation aus. Große Kodifikationen benötigen viel Zeit. Wir konnten und können uns einen Reformstillstand über mehrere Jahre heute nicht mehr erlauben. Dafür ist der Veränderungsdruck auch aus dem Ausland auf unser System zu hoch. Des Weiteren vollziehen sich die Veränderungen der äußeren Rahmenbedingungen nur allmählich und fließend und die gesetzgeberische Reaktion darauf sollte geschmeidige Kursanpassung und nicht ruckartiger Pfadwechsel sein (vgl. z.B. die behutsamen gesetzgeberischen Schritte zur Erschwerung des Geschäftsmodells der erpresserischen Aktionäre von UMAG bis ARUG). Zuletzt ist festzustellen, dass die Corporate Governance Reform in Deutschland ein gesellschaftlicher Lernprozess ist, der nach und nach zu einem Umdenken und zu einer grundlegenden Veränderung der Einstellung führt – das erfordert viel Überzeugungsarbeit und einen breiten Diskurs aller Beteiligten. Ein schrittweises Vorgehen macht die Anpassungen leichter vermittelbar und verdaulich. Vieles, was zu KonTraG-Zeiten noch heiß umkämpft war, ist heute Selbstverständlichkeit. Manche sehen sich bei dieser Reform in kleinen Schritten auf einem Flickenteppich wandeln. Sie verkennen, dass es nicht darauf ankommt, ob die Reform in einer oder mehreren Ausgaben des Bundesgesetzblatts verkündet wird, sondern darauf, dass den Änderungen insgesamt eine Strategie zugrunde liegt, ein Plan erkennbar ist und dass sie sich harmonisch in ein kohärentes Gesamtsystem einfügen.
5.8 Deutscher Corporate Governance Kodex
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Die Regierungskommission Corporate Governance, die sog. Baums-Kommission,[91] hatte die Einsetzung einer weiteren Kommission zur Formulierung eines Corporate Governance Kodex[92] für die Unternehmungsleitungen deutscher börsennotierter Gesellschaften empfohlen.[93] Sehr viele Vorschläge der Baums-Kommission bezogen sich auf denkbare Inhalte und Anwendungsbereiche solcher Verhaltensregeln eines künftigen Kodex. Die Regierung griff den Vorschlag der Corporate Governance-Kommission gerne und umgehend auf. Die „Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex“, kurz: „Kodex-Kommission“, wurde im September 2001 von der Justizministerin Däubler-Gmelin eingesetzt. Die Einsetzung einer solchen Kodex-Kommission zur Formulierung von Corporate Governance-Standards war neu in Deutschland.[94] Wir finden aber vielfältige Modelle hierfür im Ausland.[95]
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Die Kodex-Kommission legte die erste Fassung des Deutschen Corporate Governance-Kodex im Jahr 2002 vor. Das TransPuG von 2002[96] führte unter anderem das Comply-or-Explain-Prinzip in § 161 AktG ein, die gesetzliche Flankierung zur Einsetzung der Corporate Governance Kommission und zur Alleinstellung der Kommission in Deutschland. Der Kodex hat eine Steuerungs- und eine Kommunikationsfunktion. Er steuert mit seinen Empfehlungen und Anregungen zur Best Practice der Unternehmensführung bei. Er dient zugleich der Kommunikation in die internationalen Finanzmärkte, d.h. der knappen und verständlichen Darstellung der deutschen Corporate Governance Rahmenbedingungen für börsennotierte Unternehmen mit dem deutschen dualen System. Nach den Kommissionsvorsitzenden Cromme, Müller und Gentz ist für 2017 Prof. Dr. Rolf Nonnenmacher als Vorsitzender designiert.
1. Kapitel Geschichte und Zukunft des Aktienrechts › III. Bisherige Entwicklung des Aktienrechts in Deutschland › 6. Europäische Aktiengesellschaft – SE
6. Europäische Aktiengesellschaft – SE
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Am 29.12.2004 ist das SEEG (Gesetz zur Einführung der Europäischen Gesellschaft) in Kraft getreten. Art. 1 des SEEG enthält das Gesetz zur Ausführung der Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 8.10.2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE) – (SE-Ausführungsgesetz – SEAG). In Artikel 2 des SEEG findet sich das Gesetz über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Europäischen Gesellschaft (SE-Beteiligungsgesetz –SEBG). Diese supranationale Rechtsform kann hier nicht im Einzelnen behandelt werden.[97] Auch für die SE in Deutschland ist wegen umfangreicher Verweisung auf das Recht der AG das deutsche nationale Aktienrecht von entscheidender Bedeutung.
Spannend bleibt die Frage der Akzeptanz der SE und ihrer Auswirkung auf das deutsche Mitbestimmungssystem. Sinnvoll kann die SE als Rechtsform für die Europa-Holding ausländischer Konzerne sein. Sie kann auch bei grenzüberschreitenden Zusammenschlüssen Vorteile bieten, bei denen nationale Eitelkeiten berührt sind,[98] und z.B. an der Frage: „Soll es eine ‚deutsche‚ oder eine ‚französische‚ AG sein?“ ein geplanter Zusammenschluss zu scheitern droht. De facto ist es dann je nach Sitz wegen der umfangreichen Verweisungen auf das Recht des Sitzlandes aber doch eine „deutsche“ oder „französische“ SE, aber vielleicht dient der europäische Name der Gesichtswahrung.
Auch das flexiblere Mitbestimmungsregime kann für die SE sprechen. Sie wird von einigen auch für den Fall angeraten, dass ein Wechsel von der Drittel-Mitbestimmung zur paritätischen Mitbestimmung ansteht.[99] Rieble[100] meint dazu: Wenn die SE über die Schwelle wächst, die in Deutschland die paritätische Mitbestimmung auslösen würde, geschieht nichts. Die eingefrorene Mitbestimmung bei der SE sei also ein effektiver Schutz gegen die Mitbestimmungsausweitung. Insgesamt ist aber auch im Jahr 2016 noch nicht abschließend geklärt, ob durch die Möglichkeiten der Verschmelzungsrichtlinie und die der SE Druck auf die nationale Mitbestimmung ausgeübt wird, ebenfalls flexibler zu werden, oder ob nicht umgekehrt, dadurch eher der Druck zur Veränderung genommen ist, denn es gibt ja nun ein Ventil, eine Ausweichmöglichkeit.[101] Ansätze, wie bei der SE auch bei der nationalen Aktiengesellschaft eine Verhandlungslösung bezüglich der Mitbestimmung einzuführen und die Wahl eines Einheitsboard-Systems zu eröffnen, sind politisch jedenfalls nicht weiter verfolgt worden.
Anmerkungen
Vgl. Großkommentar/Assmann Einl. Rn. 44 – 49.
Vgl. Großkommentar/Assmann Einl. Rn. 53 – 55; MünchKomm AktG/Habersack Einl. Rn. 15.
Vgl. Großkommentar/Assmann Einl. Rn. 71 ff.; MünchKomm AktG/Habersack Einl. Rn. 15.
BGBl, 375; vgl. MünchKomm AktG/Habersack Rn. 16; Großkommentar/Assmann Einl. Rn. 79 ff.; Münch. Hdb. GesR IV/Hoffmann-Becking § 1 Rn. 5.
Vgl. Großkommentar/Assmann Einl. Rn. 80.
RGBl S. 123; vgl. MünchKomm AktG/Habersack Einl. Rn. 17; Mülbert S. 51 ff.; Großkommentar/Assmann Einl. Rn. 89 ff.; Münch. Hdb. GesR IV/Hoffmann-Becking §