zum Verbraucherdarlehensrecht beantwortet wurden. Grüneberg fasste die Rechtsprechung des BGH zusammen und ließ erkennen, dass damit die offenen Fragen zum Widerrufsrecht beantwortet seien. Befassten sich die Rechtsstreitigkeiten vor allem mit den formalen Anforderungen an die Ordnungsmäßigkeit einer Widerrufsbelehrung, gewann auch das Argument der Verwirkung oder Rechtsmissbräuchlichkeit mehr und mehr an Bedeutung. Den Argumenten der Kreditindustrie stand – und steht – eine Armada von selbst ernannten Verbraucherschutz-Rechtsanwälten gegenüber. Während die Instanzgerichte die Frage der Verwirkung bzw. des Rechtsmissbrauchs sehr unterschiedlich beurteilten, führte die verbraucherfreundliche Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zunächst zu einer Belebung des Widerrufsjokers. In den Fällen, in denen sich der Bundesgerichtshof zu den Themen Verwirkung und Rechtsmissbrauch geäußert hat, hat er diese abgelehnt. Ein immer wiederkehrendes Argument ist, dass der Unternehmer es durch eine ordnungsgemäße Belehrung oder eine Nachbelehrung selbst in der Hand habe, die Widerrufsfrist in Gang zu setzen. Insofern habe er auch die Nachteile hinzunehmen, die sich aus einer fehlerhaften Widerrufsbelehrung ergäben. Der BGH hat jedoch die Verwirkung des Widerrufsrechts in keinem Urteil kategorisch ausgeschlossen. Wie jedes Recht, unterliegt auch ein Verbraucherwiderrufsrecht den allgemeinen Grundsätzen von Treu und Glauben und kann deshalb prinzipiell auch verwirken. Der BGH will dies jedoch nur im Einzelfall beurteilen. Mit Urteil vom 16. März 201618 stellte der Bundesgerichtshof fest, dass die Beweggründe des Verbrauchers für einen Widerruf bei der rechtlichen Betrachtung irrelevant seien. Eine Verwirkung sei deshalb nur ausnahmsweise anzunehmen. Im Juli 2016 entschied der BGH19 erstmals implizit zur Frage der Rechtsmissbräuchlichkeit, um diese anschließend mit ausführlicher Begründung abzulehnen. In der Folgezeit hat der BGH aber die Rechtsmissbräuchlichkeit bzw. die Verwirkung des Widerrufsrechts anerkannt. So entschied er in einem Fall, in dem der Darlehensbetrag vollständig zurückgezahlt und die Sicherheiten zurückgewährt worden waren, dass bei der Beurteilung der Verwirkung und der Schaffung eines Vertrauenstatbestands sowohl der Zeitraum zwischen Beendigung des Darlehensvertrags und Erklärung des Widerrufs (Zeitmoment) als auch der Umstand der Sicherheitenfreigabe (Umstandsmoment) zu berücksichtigen seien.20
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5. Mit Umsetzung der Verbraucherkreditrichtlinie stellte der Gesetzgeber eine Muster-Widerrufsinformation mit Gesetzesrang zur Verfügung, die der Gesetzlichkeitsfiktion nach Art. 247 § 6 Abs. 2 Satz 3 EGBGB unterliegt. Allerdings darf auch dieses Muster nicht wesentlich abgeändert werden. Konzentrierten sich die ersten Rechtsstreitigkeiten auf die im Zeitraum 2002 und 2010 verwendeten Widerrufsbelehrungen, verlegte sich angesichts des weiter fortbestehenden niedrigen Zinsniveaus die Diskussion auf die Ordnungsmäßigkeit der Widerrufsinformation in der am 29.7.2010 veröffentlichten Fassung. In der Widerrufsinformation für Verbraucherdarlehensverträge wurde geregelt, dass die Widerrufsfrist mit Abschluss des Vertrags zu laufen beginnt, „aber erst, nachdem der Darlehensnehmer alle Pflichtangaben nach § 492 Abs. 2 BGB (z.B. Angabe zur Art des Darlehens, Angabe zum Nettodarlehensbetrag, Angabe zur Vertragslaufzeit) erhalten hat“.21 Streitpunkt war sehr bald die Frage, ob die beispielhafte Aufzählung von einzelnen Vertragsinhalten des Darlehensvertrags und der Verweis auf § 492 Abs. 2 BGB (der wiederum auf Art 247 §§ 6 bis 13 EGBGB verweist), sog. Kaskadenverweis, mit den Anforderungen vereinbar ist, die die Verbraucherkreditrichtlinie an die Verständlichkeit und Klarheit einer Widerrufsbelehrung stellt (Art. 10 Abs. 2 Buchst. p der Richtlinie 2008/48/EG). Der BGH22 hatte diese Frage stets bejaht und entschieden, dass mit der Verwendung der gesetzlichen Widerrufsinformation der Darlehensgeber den Darlehensnehmer klar und verständlich über das Bestehen des Widerrufsrechts und den Fristbeginn informiert habe. Eine Vorlage beim EuGH hat der BGH nicht für erforderlich gehalten.23
5 BGBl. 2002, 2850 – https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?start=//*%5B@attr_id=%27bgbl102s2850.pdf%27%5D#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl102s2850.pdf%27%5D__1629962926472. 6 https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?start=%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl101s3138.pdf%27%5D#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl101s3138.pdf%27%5D__1629963024594. 7 EuGH v. 13.12.2001 – WM 2001, 2434, https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=46958&pageIndex=0&doclang=DE&mode=req&dir=&occ=first&part=1. 8 https://rsw.beck.de/cms/?toc=MMR.ARC.200208&docid=71939. 9 BGBl. I 2009, 2355, https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl&start=//*%5b@attr_id=%27bgbl109s2355.pdf%27%5d#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl109s2355.pdf%27%5D__1629964394695. 10 https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Dokumente/BGBL_Wohnimmobilienkreditrichtlinie.pdf;jsessionid=1538E98D898371ED1556A737F5EBDAB6.1_cid297?__blob=publicationFile&v=2. 11 BGH v. 16.1.2018 – WM 2018, 369. 12 Masuch, BB 2005, S. 344; ders., NJW 2008, S. 1700; Faustmann, VuR 2006, S. 384. 13 BGH v. 15.8.2012 – WM 2012, 1886, http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=pm&Datum=2012-8&nr=61586&linked=urt&Blank=1&file=dokument.pdf. 14 Grüneberg, BKR 2019, S. 1. 15 Urteil vom 10.3.2009 – XI ZR 33/08 – WM 2009, S. 932, https://openjur.de/u/74017.html. 16 Peters, WM 2009, S. 932. 17 Euro am Sonntag v. 13.9.2014 „Wechselfieber“; Stiftung Warentest in Finanztest 7/2012 „Widerrufsbelehrung bei Kreditverträgen“; Kropf, WM 2013, S. 2250, mit weiteren Fundstellen zu Veröffentlichungen zum Widerrufsjoker. 18 BGH v. 16.3.2016 – WM 2016, 1103, http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&nr=74440&pos=0&anz=1. 19 BGH, Urt. v. 12.7.2016 = WM 2016, 1930, Rn. 43. 20 BGH v. 16.10.2018 – XI ZR 45/18, BKR 2019, 132; BGH v. 15.10.2019 – XI ZR 759/17, NJW 2020, 148; grundsätzlich zum rechtsmissbräuchlichen Widerruf eines Verbrauchervertrages siehe Hilgenhövel, BKR 2021, S. 337. 21 https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?start=%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl110s0977.pdf%27%5D#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl110s0977.pdf%27%5D__1629968904292. 22 BGH v. 19.3.2019 – XI ZR 44/18 – WM 2019, 864, Rn. 15f. 23 Vgl. Ausführung in dem BGH-Beschluss v. 31.3.2020 – XI ZR 198/18, Rn. 15.
III. EuGH- und BGH-Urteile
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1. Diese BGH-Rechtsprechung stieß nicht auf uneingeschränkte Zustimmung der Instanzgerichte. Das LG Saarbrücken24 legte im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens die Frage zur Vereinbarkeit des Kaskadenverweises mit Art. 10 Abs. 2 Buchstabe p der Verbraucherkreditrichtlinie dem Europäischen Gerichtshof vor. Der EuGH entschied am 26.3.2020 in der Rechtssache C 66/19 („JC/Kreissparkasse Saarlouis“),25 dass mit einem solchen kaskadenförmigen Verweis den Anforderungen der Richtlinie nicht genügt sei. Mit dieser Entscheidung wurde die Diskussion um die Wirksamkeit einer Widerrufsbelehrung bzw. den daraus resultierenden Widerrufsjoker wiederbelebt. Der EuGH führte aus: „In Verbraucherkreditverträgen müssen in klarer und prägnanter Form die Modalitäten für die Berechnung der Widerrufsfrist angegeben werden.“ Dies zielte auf den in der Muster-Widerrufsinformation enthaltenen Verweis auf Paragrafen, ohne dass deren Inhalt angeführt wurde. Dieser sogenannte Kaskaden-Verweis wurde seitens