Christian Jäger

Examens-Repetitorium Strafrecht Allgemeiner Teil, eBook


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3: A fährt in einer Ortschaft mit überhöhter Geschwindigkeit durch die X-Straße (was später durch ein Radarfoto nachgewiesen werden kann). In der Y-Straße fährt er wieder ordnungsgemäß 50 km/h, überfährt dort aber das kleine Mädchen M, das ihm plötzlich vor den Wagen springt. In der konkreten Situation hätte mit 50 km/h niemand mehr rechtzeitig bremsen können. Kann dem A der Tod im Rahmen des § 222 StGB mit dem Argument zugerechnet werden, dass M die Straße schon längst überquert gehabt hätte, wenn A nicht in der X-Straße zu schnell gefahren wäre?[38]

      Lösung: Hier käme zwar als Sorgfaltswidrigkeit das zu schnelle Fahren in der X-Straße durchaus in Betracht. Aber es fehlt der Pflichtwidrigkeitszusammenhang in Bezug auf den eingetretenen Erfolg, da sich dieser außerhalb des Schutzzwecks der Norm bewegt.[39] Denn die Geschwindigkeitsvorschriften wollen nicht verhindern, dass sich ein Fahrer zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort befindet, sondern sie sollen gewährleisten, dass in einer konkret kritischen Situation rechtzeitig reagiert werden kann.

      Beispiel 4:[40] A fuhr mit seinem Transporter auf eine Kreuzung mit Ampel zu, die er geradeaus überqueren wollte. Für A galt eine Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h, er fuhr jedoch mindestens 65 km/h. Von links kommend näherte sich D, der die Kreuzung ebenfalls geradeaus überqueren wollte. Für diesen galt eine Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h, er fuhr jedoch nur 30 km/h. Beide Fahrzeugführer überfuhren nahezu gleichzeitig die jeweils für sie geltende Haltelinie an der Kreuzung; wem ein Rotlichtverstoß zur Last fiel, ließ sich nicht klären. Als A das Fahrzeug des D wahrnahm, bremste er sofort. Der Transporter traf dennoch mit großer Wucht auf die rechte Fahrzeugseite des Fahrzeugs des D, wodurch dessen Beifahrer O zu Tode kam. Wäre A nicht schneller als 50 km/h gefahren, als D die Haltelinie überfuhr, so wäre er 0,7 Sekunden später am Unfallort gewesen. D wäre dann bereits 6 Meter weiter über die Kreuzung gefahren gewesen, sodass es zu keiner Kollision gekommen wäre.

      Lösung: Das OLG Hamm hat hier zu Recht – anders als in Beispiel 3 – den Erfolg für zurechenbar gehalten, wenn D und sein Beifahrer die spätere Unfallstelle zu dem Zeitpunkt bereits passiert gehabt hätten, zu dem A bei Einhaltung der zulässigen Geschwindigkeit am Unfallort eingetroffen wäre; denn auch in einem solchen Fall verwirklichen sich die Gefahren des Fahrens mit überhöhter Geschwindigkeit, vor denen die Geschwindigkeitsregeln gerade schützen sollen. Im Unterschied zu Beispiel 3 geht es hier nämlich um ein Fehlverhalten des A in der kritischen Verkehrssituation als solcher. Und hier ist es natürlich sehr wohl auch der Sinn der Einhaltung der Geschwindigkeitsvorschriften, dass andere noch die Möglichkeit haben, einem Unfall durch Verlassen des Gefahrenbereichs gerade noch zu entgehen. Das gilt selbst dann, wenn D 30 km/h gefahren ist und bei Rot über die Haltelinie gefahren ist. Denn zwar kann jeder Verkehrsteilnehmer darauf vertrauen, dass andere Verkehrsteilnehmer ordnungsgemäß fahren (deshalb darf man bei Grün über die Ampel fahren, ohne zu schauen, dass der andere bei Rot auch wirklich hält), jedoch gilt dies nicht, wenn man sich selbst verkehrswidrig verhält, wie es A hier durch das Fahren mit überhöhter Geschwindigkeit getan hat.

      Achtung Klausur: Fährt A mit überhöhter Geschwindigkeit den B an und erleidet dieser eine Wundinfektion, durch die er aufgrund seines geschwächten Gesundheitszustands verstirbt, so ist auch dies durchaus vom Schutzzweck gedeckt, da die Geschwindigkeitsbegrenzung selbstverständlich auch dazu dient, derartige spätere Unfallfolgen zu verhindern.[41] Dies soll nach OLG Stuttgart selbst dann gelten, wenn sich A im Krankenhaus aufgrund seines geschwächten Zustands (das ist allerdings notwendige Voraussetzung!) bei der ersten Nahrungsaufnahme verschluckt und daran verstirbt.[42] Mir erscheint dies allerdings zu weitgehend, da sich im Verschlucken nicht mehr das typische Risiko der Unfallverursachung verwirklicht. Jedenfalls aber wird die Zurechnung dann unterbrochen, wenn die Aufnahme fester Nahrung grob fahrlässig von einem Arzt verfrüht angeordnet oder zugelassen wurde (vgl. zum Einfluss ärztlichen Fehlverhaltens auf die Möglichkeit einer Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs u. Rn. 48 ff.).

      40

      Beispiel: Der Lastwagenfahrer A überholt den Radfahrer B mit einem Seitenabstand von 0,75 m statt der vorgeschriebenen 1,50 m. B gerät unter den Lastzug und erleidet eine letale Hirnquetschung. Auch bei ordnungsgemäßem Abstand wäre der Unfall möglicherweise nicht zu vermeiden gewesen (BGHSt 11, 1).

      Bei Fahrlässigkeitsdelikten (vgl. zur Prüfung sogleich den Trunkenheitsfahrt-Fall I Rn. 45 f.) soll laut BGH nur dann der Zurechnungszusammenhang zu bejahen sein, wenn bei rechtmäßigem Alternativverhalten der Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfallen wäre (Vermeidbarkeitstheorie). Ein solcher Pflichtwidrigkeitszusammenhang sei hier jedoch nicht mit der nötigen Sicherheit festzustellen.[43]

      Nach der von der Gegenauffassung vertretenen Risikoerhöhungslehre[44] genügt es dagegen bereits, dass der Täter die Gefahr für das Rechtsgut unerlaubt erhöht hat und der Erfolg bei rechtmäßigem Alternativverhalten möglicherweise ausgeblieben wäre.

      aa) Kritik an der Risikoerhöhungslehre

      41

      Gegen die Risikoerhöhungslehre werden in Rspr. und Lit. vor allem zwei Einwände vorgebracht:

      (1) Verstoß gegen den Grundsatz „in-dubio-pro-reo“[45]

      42

      Antikritik von Roxin:[46] Der „in-dubio-pro-reo“-Grundsatz sei hier nicht verletzt, da (etwa im LKW-Bsp.) feststehe, dass der Täter das Risiko erhöht hat, d. h. eine unerlaubte Gefahr geschaffen hat (indem der LKW-Fahrer den geforderten Abstand missachtet hat). Der in-dubio-pro-reo-Grundsatz, so Roxin, betreffe dagegen nur die Schuld- und Straffrage (d. h. die Frage, ob jemand Täter war oder nicht), nicht aber die Auslegung eines Tatbestandes (d. h. die Frage, ob man für die Zurechnung schon die Möglichkeit einer Erfolgsvermeidung im Falle eines rechtmäßigen Alternativverhaltens ausreichen lässt).

      (2) Erfolgsdelikte werden zu Gefährdungsdelikten umqualifiziert[47]

      43

      Antikritik von Roxin:[48] Jeder Erfolg wird über eine Gefahr vermittelt und die Risikoerhöhungslehre verzichtet weder auf den Erfolg (im LKW-Bsp. muss der Radfahrer natürlich tot sein) noch auf den Zusammenhang zwischen Gefahrerhöhung und Erfolg (der im LKW-Bsp. deshalb gegeben sei, weil sich auf jeden Fall eine unerlaubte Gefahr verwirklicht habe, da sich aufgrund der Unerlaubtheit des Verhaltens tatsächlich nur etwas Unerlaubtes im Erfolg realisieren konnte); d. h.: nach Roxin ist eben überhaupt nichts Erlaubtes vorhanden, das sich im Erfolg realisieren könnte, wenn sich der Täter mit seinem Verhalten im unerlaubten Bereich bewegt.

      bb) Stellungnahme

      44

      Bei allem scholastischen Scharfsinn, mit dem die Diskussion um die Risikoerhöhungslehre seit Jahrzehnten geführt wird, wird man ihr im Ergebnis doch nicht zustimmen können. Denn wenn der Erfolg sicher, d. h. hundertprozentig oder jedenfalls mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, auch bei rechtmäßigem Alternativverhalten eingetreten wäre, so verneinen selbst die Vertreter der Risikoerhöhungslehre die Zurechnung.[49] Dann aber darf die Zurechnung nicht bejaht werden, wenn der Erfolg im Falle rechtmäßigen Alternativverhaltens nur möglicherweise ausgeblieben wäre, weil dies auf eine Beweislastumkehr hinausliefe, die das Strafrecht nicht kennt. Bei der von der Risikoerhöhungslehre befürworteten Konstruktion liegt nämlich die Beweislast dafür, dass es bei rechtmäßigem Alternativverhalten sicher zu dem gleichen Erfolg gekommen wäre, beim Täter. Denn da sich nach der Risikoerhöhungslehre der Staat für die Begründung der Zurechnung mit der Berufung auf die Möglichkeit eines guten Ausgangs begnügen könnte, liegt es nach dieser Lehre beim Täter, den Nachweis zu erbringen, dass im Falle rechtmäßigen Alternativverhaltens der Erfolg sicher ebenso eingetreten wäre (der Täter müsste sich also – verkürzt