Christian Jäger

Examens-Repetitorium Strafrecht Allgemeiner Teil, eBook


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lässt sich kaum je sicher beantworten. Außerdem: Kommt es dem Täter auf die Rechtsgutsverletzung an (Bsp.: A ist HIV-positiv und schläft mit der B, um sie zu infizieren), so wird Vorsatz auch dann bejaht, wenn der Täter sein Ziel mit Mitteln anstrebt, deren Wirksamkeit unwahrscheinlich ist. Daher kann für den bedingten Vorsatz nichts anderes gelten.

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      Danach genügt es, wenn sich der Täter den Erfolg als möglich vorstellt.

      Kritik: Eine Abgrenzung zur bewussten Fahrlässigkeit ist hier kaum noch möglich. Außerdem verzichtet diese Theorie völlig auf das voluntative Element.

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      Vorsatz ist danach gegeben, wenn dem Täter der Eintritt des Erfolges gleichgültig ist.

      Kritik: Auch diese Theorie lässt keinen Platz für Fahrlässigkeitsdelikte und ist extrem unbestimmt.

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      Vorsatz ist danach gegeben, wenn der Täter eine unabgeschirmte Gefahr gesetzt und diese auch gekannt hat.

      Bei einer unkontrollierten Gefahr genügt also schon die bloße Kenntnis.

      Kritik: Hier verzichtet Herzberg ebenfalls zumindest partiell auf das voluntative Element.

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      Danach ist Vorsatz gegeben, wenn der Täter den Erfolg billigend in Kauf nimmt. Wer dagegen den Erfolg innerlich ablehnt und auf sein Ausbleiben hofft, handelt ohne Vorsatz.

      Kritik: Siehe sogleich bei der Ernstnahmetheorie.

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      Danach ist Vorsatz gegeben, wenn der Täter die Möglichkeit des Erfolgseintritts ernst nimmt und sich mit ihr abfindet. Wer dagegen auf das Ausbleiben der Rechtsgutsverletzung vertraut, handelt fahrlässig.

      Argument: Das Strafrecht ist auf Rechtsgüterschutz gerichtet. Daraus folgt: Es kommt nicht auf Gefühle, Hoffnungen etc. an (wie es die Billigungstheorie annimmt), sondern darauf, ob sich der Täter für die mögliche Tatbestandsverwirklichung entschieden hat.

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      Danach liegt Vorsatz vor, wenn der Täter die konkrete Gefahr der Rechtsgutsverletzung erkennt und sich trotz des Bewusstseins dieser Gefahr nicht von seinem Verhalten abhalten lässt.

      Hinweis: Der BGH folgt heute der Sache nach der Ernstnahmetheorie,[60] verwendet jedoch dabei grundsätzlich die Billigungsformel. Nach ihm ist also bedingter Vorsatz gegeben, wenn der Täter den Erfolgseintritt ernsthaft für möglich hält und ihn billigend in Kauf nimmt. Dabei erkennt der BGH, dass „billigen“ seinem Wortsinne nach „gutheißen“ bedeutet. Dies hätte zur Folge, dass bedingter Vorsatz nicht angenommen werden könnte, wenn der Täter den Erfolg für möglich hält und trotzdem handelt, obwohl ihm der Eintritt dieses Erfolges innerlich unlieb ist (so etwa im berühmten Lederriemen-Fall, s. sogleich Rn. 105 f.). Um diese Konsequenz zu vermeiden, fordert der BGH nur ein sog. „Billigen im Rechtssinne“; dieses könne auch dann gegeben sein, wenn dem Täter der Eintritt des Erfolges unangenehm ist. Damit steht der BGH der Sache nach aber doch auf dem Standpunkt der herrschenden Ernstnahmetheorie.[61]

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      Wichtig ist auch, dass der BGH im Bereich der Tötungsdelikte eine sog. Hemmschwellentheorie entwickelt hat.[62] Danach sei die Hemmschwelle gegenüber Tötungen grundsätzlich höher, sodass das voluntative Element bei Tötungsdelikten durch konkrete Umstände gestützt sein müsse. Beispielsweise sei beim Zufahren auf eine Polizeisperre aufgrund der höheren Hemmschwelle kein bedingter Tötungsvorsatz anzunehmen, weil der Täter erfahrungsgemäß davon ausgehe, dass der Polizist noch beiseite springen könne. Ein Tötungsversuch ist in solchen Fällen daher abzulehnen und es verbleibt allenfalls eine Strafbarkeit nach §§ 315b, 113 f. StGB. Ebenso kann nach Auffassung des BGH nicht ohne Weiteres bedingter Tötungsvorsatz angenommen werden, wenn der Täter „zur Bestrafung“ des Opfers an dessen Wagen den Bremsschlauch durchtrennt[63] (s. zur Lösung eines solchen Falles Jäger, BT, Rn. 692 f.). Auch hat der BGH einen Tötungsvorsatz in Fällen verneint, in denen ein HIV-Infizierter mit seinem Sexualpartner in Kenntnis seiner Erkrankung ungeschützten Geschlechtsverkehr ausübte. Der BGH[64] ist hier davon ausgegangen, dass die Hemmschwelle gegenüber einer Tötung höher sei und der Täter daher grundsätzlich auf einen guten Ausgang vertraue. Die Entscheidung ist deshalb fraglich, weil der Täter gerade in derartigen Fällen das Risiko in keiner Weise in der Hand hat, sodass er allenfalls auf ein Ausbleiben des Erfolges hoffen kann, was grundsätzlich die Annahme eines dolus eventualis nahe legt. Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass der Täter prinzipiell darauf vertraue, es werde in naher Zukunft ein Impfstoff gegen das HI-Virus gefunden. Eine solche Annahme widerspricht nämlich dem derzeitigen wissenschaftlichen Kenntnisstand, dem zufolge ein Ausbruch der Krankheit grundsätzlich zum Tode führt und die Entwicklung eines Impfstoffs in absehbarer Zeit nicht in Sicht ist. Folgt man jedoch dem BGH, so scheidet eine Strafbarkeit wegen versuchter Tötung aus und es bleibt lediglich die Möglichkeit einer Bestrafung wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung (selbst bei Ansteckung kann vielfach nur ein Versuch angenommen werden, da oftmals nicht nachweisbar ist, dass gerade dieser Täter die Ansteckung bewirkt hat, vgl. näher zur Lösung der AIDS-Fälle o. Rn. 62 f.). Ein Anzeichen für die Überwindung der Hemmschwelle kann aber nach Ansicht des BGH die besondere Gefährlichkeit der Tathandlung sein, so z. B. beim Einstechen auf den Oberkörper des Opfers mit einem Messer, dessen Klingenlänge 30 cm beträgt[65] oder beim brutalen Einschlagen auf den Kopf des Opfers mit einem Eisenrechen[66] oder mit einem Handfäustel[67] oder beim Schuss mit einer Waffe auf den Oberkörper des Opfers[68]. Trotz eines Stichs in den Oberkörper kann der Tötungsvorsatz fehlen, wenn der Täter nicht gezielt auf die Brust des Opfers einwirkt, um lebenswichtige Organe zu verletzen.[69]

      Ein Indiz für die Überwindung der Tötungs-Hemmschwelle sieht der BGH auch darin, dass dem Opfer wiederholt in lebensbedrohender Weise hemmungslos und gleichwohl systematisch Misshandlungen zugefügt werden (so im Fall Karolina).[70]

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      Beachte: Der BGH[71] hat in einem bedeutsamen Urteil ausdrücklich klargestellt, dass ein pauschales und schlagwortartiges Abstellen auf die Hemmschwellentheorie unzulässig ist. Die Hemmschwellentheorie besage lediglich, dass der Tatrichter alle Umstände in die Beweiserwägungen einzubeziehen hat, welche bedingtem Tötungsvorsatz entgegenstehen könnten. Hierdurch erschöpfe sich die Hemmschwellentheorie in einem Hinweis auf § 261 StPO. Die Wertung hoher und offensichtlicher Lebensgefährlichkeit von Gewalthandlungen als gewichtiges, auf Vorsatz hindeutendes Beweisanzeichen soll nicht in Frage stehen, vielmehr bedürfe es in jedem Einzelfall tragfähiger Anhaltspunkte dafür, dass der Täter ernsthaft auf ein Ausbleiben der Rechtsgutsverletzung vertraut habe. Im Ergebnis tritt der BGH somit einer als zu pauschal empfundenen Argumentation der Instanzgerichte mit der Hemmschwellentheorie entgegen und fordert eine explizite Abwägung aller Umstände. Zur Verdeutlichung dient folgendes (BGH NJW 2012, 1524 nachgebildetes)

      Beispiel: Der trinkgewohnte A lief, nachdem eine vorhergehende Schlägerei