Christian Jäger

Examens-Repetitorium Strafrecht Allgemeiner Teil, eBook


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ein 22 cm langes, doppelklingiges Messer (Klinge = 11 cm) mit den Worten „Verreck, du Hurensohn“ in den Rücken, wodurch eine Rippe des B durchtrennt und dessen Lunge verletzt wurde. B sank zu Boden, A wurde von Dritten niedergerungen.

      Lösung: Das LG Saarbrücken als Vorinstanz wertete zwar die erhebliche Wucht des Messerstichs und den Ausspruch „Verreck, du Hurensohn“ als nicht unerhebliche Gesichtspunkte für die Annahme von Vorsatz. Der Umstand, dass A nur einen Stich ausgeführt hat (A wurde nach dem ersten Stich aber niedergerungen), und die nicht unerhebliche Alkoholisierung (bei § 64 StGB ging das LG aber von geringer Beeinträchtigung durch Alkohol aus, zudem war A trinkgewohnt) sprächen indessen für Fahrlässigkeit, da „…unter Berücksichtigung der Hemmschwellentheorie … Tötungsvorsatz nicht mit letzter Sicherheit als erwiesen …“ anzusehen sei. Dieser pauschale Verweis auf die Hemmschwellentheorie genügte dem BGH nicht.

      Achtung Klausur: Die Anforderungen des BGH an die Begründung von Vorsatz oder Fahrlässigkeit sollte auch der Klausurbearbeiter beachten. Daher sollte die Hemmschwellentheorie zwar benannt werden, allerdings nur noch unter Beachtung der soeben dargestellten, relativierenden BGH-Rechtsprechung. Die Hemmschwellentheorie ersetzt daher nicht die ausführliche Argumentation unter Ausschöpfung aller relevanten Sachverhaltsangaben. Das Erfordernis einer einzelfallorientierten Prüfung, bei der alle subjektiven und objektiven Tatumstände anhand einer individuellen Gesamtschau bewertet werden müssen, bestätigt auch folgendes

      Beispiel: Im Laufe eines zunächst nur verbal ausgetragenen Disputs zwischen den fußballerisch erfahrenen, erheblich alkoholisierten Tätern A und B mit dem O versetzte A dem O mehrere Faustschläge ins Gesicht, die diesen zu Boden brachten. Während A den O weiterhin mit Schlägen gegen Kopf und Oberkörper traktierte, entschloss sich auch B, der Auseinandersetzung nunmehr ebenfalls tätlich beizuwohnen. Mit der Innenseite des mit Straßenschuhen bekleideten Fußes traten zunächst B, sodann A mehrfach gegen den Kopf des am Boden Liegenden. O überlebte, erlitt aber zahlreiche Gesichtsschädelfrakturen.[72]

      Lösung: Die Angeklagten wurden lediglich wegen gefährlicher Körperverletzung gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 2, Nr. 4 und 5 StGB verurteilt. Einen darüber hinausgehenden Tötungsvorsatz, der eine Verurteilung wegen versuchten Totschlags tragen könnte, vermochten weder das LG noch der BGH zu erkennen. Dabei wurde das Wissenselement des bedingten Vorsatzes nicht in Frage gestellt. Anlass zu Zweifeln gab die voluntative Seite. Zwar haben Tritte gegen den Kopf einen Indizwert, der jedoch nicht stets und automatisch den Schluss auf das Vorliegen eines (bedingten) Tötungsvorsatzes begründe. Eine erhebliche Alkoholisierung und die Tatsache, dass Handlungen, die in affektiver Erregung ausgeführt werden, oft spontan und unüberlegt erfolgen, stünden einem zwingenden Schluss auf ein voluntatives Element entgegen. Als weiteres vorsatzausschließendes Indiz zog das LG – als tatrichterliche Beweiswürdigung[73] vom BGH unbeanstandet – auch die fußballerische Fähigkeit der beiden Täter heran. Trotz der Heftigkeit der Tritte könne nicht ausgeschlossen werden, dass die fußballerisch erfahrenen Angeklagten (noch) nicht mit der ihnen möglichen Wucht auf den Kopf des Opfers eintraten.

      Der Fall zeigt: Ein Schluss von der Gefährlichkeit der Gewalthandlung auf das voluntative Element ist nicht automatisch möglich. Selbst im Falle eines Messerangriffs auf Kopf, Hals und Oberkörper, bei denen der Täter dem Opfer mehrere tiefe Schnittwunden zufügte und die Halsschlagader nur knapp verfehlte, hat der BGH daher eine ausreichende Darlegung des voluntativen Vorsatzelements verlangt.[74] Andererseits hat der BGH beim Anfahren einer Fußgängerin im Falle der Gleichgültigkeit gegenüber dem zwar nicht angestrebten, wohl aber hingenommenen Tod des Opfers bedingten Tötungsvorsatz bejaht[75] (in solchen Fällen ist neben §§ 212, 211, 224 I Nr. 2 und 5 StGB auch an § 315b I Nr. 3 – Stichwort: Pervertierung des Straßenverkehrs – sowie qualifizierend an § 315b III i.V.m. § 315 III StGB zu denken). Einen spektakulären Fall zur Abgrenzung von dolus eventualis und bewusster Fahrlässigkeit liefert das aktuelle Urteil des BGH zu den Rasern vom Kurfürstendamm. Dazu folgender

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      Fall 7: A und B trafen mit ihren Fahrzeugen in Berlin an der Kreuzung Kurfürstendamm/Brandenburgische Straße/Lewishamstraße an einer Ampel aufeinander. Bereits hier ließ A den Motor seines Fahrzeugs, in dem auch die Beifahrerin K saß, aufheulen. Als die Ampel grün wurde, fuhren die beiden los. Kurz hinter dieser Kreuzung blieben die beiden stehen. Hier unterhielten sie sich durch die geöffneten Seitenscheiben. A teilte dem B mit, „er sei noch mit einigen Kumpels am Wittenbergplatz verabredet.“ Der Angeklagte B sah in dem vorgehenden Aufheulenlassen des Motors zutreffend eine Aufforderung zu einem Stechen. Als das Gespräch der Angeklagten beendet war, nahm der Angeklagte B die vor dem Gespräch erfolgte Aufforderung an. Beide führten ein kurzes Stechen durch. Dieses endete an einer roten Ampel an der Kreuzung Kurfürstendamm/Olivaer Platz/Leibnizstraße. Der Angeklagte B gewann das Stechen. Der Angeklagte A ließ an dieser Ampel erneut den Motor aufheulen, was der Angeklagte B als abermalige Aufforderung zu einem Stechen interpretierte und die Aufforderung annahm. Das zweite Stechen ging bis zu Kreuzung Kurfürstendamm/Schlüterstraße. Der Angeklagte B erreichte die rote Ampel wiederum als erster und blieb stehen. Der Angeklagte A hingegen blieb nicht stehen, sondern fuhr über die rote Ampel weiter, um den Anklagten B zu einem Rennen herauszufordern. Dies erkannte der Angeklagte B und fuhr daraufhin los. Das nun folgende Rennen ging entlang des Kurfürstendamms in östliche Richtung. An der Kreuzung mit der Joachimsthaler Straße überholte B den A. Bis zu diesem Zeitpunkt überfuhren die beiden Angeklagten zwei Kreuzungen mit roten Ampeln. Der Angeklagte B durchfuhr als erster die Kurve an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche mit einer Geschwindigkeit von etwa 90-100 km/h. A durchfuhr die Kurve mit 120-130 km/h, was im Bereich der Kurvengrenzgeschwindigkeit lag. A beschleunigte sein Fahrzeug ab dem Kurvenausgang maximal, um B noch einholen und das Rennen gewinnen zu können. B realisierte, dass A nun Vollgas gab und beschleunigte ebenfalls. Ca. 90 Meter vor der Unfallkreuzung ging B kurz vom Gas und gab dann ebenfalls Vollgas. Die beiden fuhren mit hoher Geschwindigkeit auf die Unfallkreuzung Tauentzienstraße/Nürnberger Straße zu, wobei die dortige Ampel bereits seitdem die Angeklagten durch die Kurve an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche fuhren für beide erkennbar rot war. A kollidierte in der Kreuzung Tauentzienstraße/Nürnberger Straße mit einem von rechts kommenden Fahrzeug des W, der hierdurch auf der Stelle getötet wurde. Der Wagen des A wurde nach links gegen das Fahrzeug des B geschleudert, sodass beide Autos mit einer Geschwindigkeit von 140 km/h gegen ein Hochbeet prallten. Dabei wurde K, die Beifahrerin des A, schwer verletzt. Strafbarkeit des A? (Ku'dammraser-Fall verkürzt nach BGH NStZ 2020, 602[76]). Zusatzfrage: Wie ist die Strafbarkeit des B zu beurteilen, der nicht mit W kollidierte? Für die Zusatzfrage genügt eine Beantwortung im Urteilsstil.

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       Lösung:

      Hinweis: Denkbar wäre eine Trennung nach den Opfern W und K. Da vorliegend aber auch Delikte zum Schutze des Straßenverkehrs (§§ 315d und 315c StGB) einschlägig sind, wäre dies eine ungünstige Vorgehensweise, weil diese Delikte keinen konkret opferbezogenen Charakter haben (besonders deutlich zeigt sich dies bei § 315d I).

      I. In Betracht kommt eine Strafbarkeit des A wegen vorsätzlichen Totschlags nach § 212 StGB an W

       1. Tatbestandsmäßigkeit

      a) Objektiver Tatbestand Der Erfolg, der Tod eines Menschen, ist eingetreten und wurde von A auch kausal und zurechenbar bewirkt.

      b) Subjektiver Tatbestand Fraglich ist, ob A einen hinreichenden Vorsatz hinsichtlich der Tatbestandsverwirklichung einer Tötung hatte.

      aa) Die 35. Kammer des LG Berlin war hier im ersten Urteil davon ausgegangen, dass A die für den bedingten Vorsatz notwendige Möglichkeitsvorstellung hinsichtlich eines tödlichen Ausgangs für andere Verkehrsteilnehmer spätestens erkannt und billigend in Kauf genommen hatte, als sie in die Unfallkreuzung einfuhren.[77] Zu diesem Zeitpunkt, so die 35. Kammer des LG Berlin, hätten die Angeklagten