Иван Гончаров

Oblomow


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Welt blind, taub und stumm. Er wird es aber zu etwas bringen, wird mit der Zeit im Amte schalten und walten und einen hohen Rang erreichen . . . . . . Auch das heißt bei uns Carriére! Und wie wenig wird dabei beansprucht; wozu braucht man seinen Verstand, seinen Willen, seine Gefühle? Das ist ein Luxus! Er wird seine Spanne Zeit leben, und vieles, vieles wird in ihm nicht wach werden . . Und dabei arbeitet er von zwölf bis fünf in der Kanzlei und von acht bis zwölf zu Hause – der Unglückliche!«

      Er hatte das Gefühl friedlicher Freude bei dem Gedanken, daß er die Zeit von Neun bis Drei und von Acht bis Neun auf seinem Sofa verbringen konnte und war stolz darauf, daß er keine Berichte zu erstatten und keine Acte zu schreiben brauchte und daß seine Gefühle und seine Phantasie freien Spielraum hatten.

      Oblomow philosophierte und bemerkte nicht, daß neben ihm ein sehr schmächtiges, schwarzes Herrchen stand, das mit einem Backenbart, einem Schnurrbart und einer Fliege ganz bewachsen war. Er war mit absichtlicher Nachlässigkeit gekleidet.

      – Guten Tag, Ilja Iljitsch.

      – Guten Tag, Pjenkin; kommen Sie nicht so nahe heran, Sie bringen Kälte herein! – sagte Oblomow.

      – Ach, Sie Sonderling! – sagte jener, – Sie sind noch immer derselbe unverbesserliche, sorglose Faulenzer!

      – Ja, sorglos! – sagte Oblomow – ich werde Ihnen gleich den Brief vom Dorfschulzen zeigen; ich zerbreche mir in einem fort den Kopf, und Sie sagen, ich bin sorglos. Woher des Weges?

      – Aus der Buchhandlung. Ich hatte mich erkundigt, ob die Zeitschriften noch nicht erschienen sind. Haben Sie meinen Artikel gelesen?

      – Nein.

      – Ich schicke ihn her, lesen Sie ihn.

      – Worüber? – fragte Oblomow, heftig gähnend.

      – Über den Handel, die Frauenemancipation, über die uns zutheil gewordenen schönen Apriltage und über das neu erfundene Mittel gegen Feuerschaden. Wieso lesen Sie denn nicht? Das ist ja unser tägliches Leben. Am meisten kämpfe ich aber für die realistische Richtung in der Literatur.

      – Haben Sie viel zu thun?

      – Ja, genügend. Ich schreibe wöchentlich zwei Artikel für die Zeitung, dann Kritiken über Belletristik, und jetzt habe ich eine Erzählung verfaßt . . .

      – Wovon handelt sie?

      – Davon, wie in einer Stadt der Polizeimeister die Kleinbürger ins Gesicht schlägt . .

      – Ja, das ist wirklich eine realistische Richtung, – sagte Oblomow.

      – Nicht wahr? – bestätigte der erfreute Journalist. – Ich führe folgenden Gedanken aus, von dem ich weiß, daß er neu und kühn ist. Ein Vorüberreisender war Zeuge dieser Behandlung und beklagte sich bei seinem Zusammensein mit dem Gouverneur darüber. Dieser beauftragte den Beamten, welcher daselbst inspicieren sollte, sich nebenbei von der Sache zu überzeugen und überhaupt über die Persönlichkeit und das Benehmen des Polizeimeisters Erkundigungen einzuziehen. Der Beamte ließ die Kleinbürger kommen, angeblich um über den Handel zu sprechen, machte sich aber statt dessen daran, sie über jene Angelegenheit auszufragen. Wie haben sich aber die Kleinbürger dabei verhalten? Sie haben sich verbeugt und gelacht und haben das Lob des Polizeimeisters gesungen. Der Beamte begann, sich anderwärts zu erkundigen, und man sagte ihm, die Kleinbürger wären schreckliche Betrüger, sie handelten mit fauler Ware und übervortheilten selbst den Staat beim Wiegen und Messen, sie wären alle sehr unmoralisch, so daß die Schläge sich als eine gerechte Strafe erwiesen . .

      – Die Schläge des Polizeimeisters spielen also in der Erzählung die Rolle des Fatums der alten Tragiker? – sagte Oblomow.

      – Sehr richtig, – fiel Pjenkin ein. – Sie haben viel Takt, Ilja Iljitsch. Sie sollten schreiben! Und dabei ist es mir gelungen, das eigenmächtige Verfahren des Polizeimeisters, die Sittenverderbtheit des Volkes, die schlechte Organisation der Beamten und die Nothwendigkeit von strengen, aber gerechten Gesetzen zu zeigen . . . Nicht wahr, dieser Gedanke ist . . . ziemlich neu?

      – Ja, besonders für mich, – sagte Oblomow, – ich lese so wenig . . .

      – Man sieht in der That keine Bücher bei Ihnen! – bemerkte Pjenkin. – Aber ich beschwöre Sie, lesen Sie das eine; es erscheint ein, man kann sagen, wunderbares satirisches Poem: »Die Liebe des Bestechlichen zum gefallenen Weibe.« Ich kann Ihnen nicht sagen, wer der Autor ist. Das ist noch ein Geheimnis.

      – Wie ist denn der Inhalt?

      – Es wird darin der Mechanismus unserer ganzen socialen Bewegung bloßgelegt, und das alles in poetischen Farben. Alle Federn werden berührt; alle Stufen der socialen Leiter werden untersucht. Der Autor richtet darin den schwachen, aber verderbten Edelmann, den ganzen Schwarm der ihn betrügenden bestechlichen Beamten und alle Rangstufen der gefallenen Frauen . . . Französinnen, Deutsche und Finninnen, und das alles wird mit verblüffender, lebensvoller Wahrheit geschildert . . . Ich habe Fragmente daraus gehört – der Autor ist groß! Man glaubt in ihm bald Dante und bald Shakespeare zu vernehmen . . .

      – Das will aber viel heißen! – sagte Oblomow und richtete sich erstaunt auf.

      Pjenkin verstummte plötzlich, da er sah, daß er thatsächlich übertrieben hatte.

      – Wenn Sie es lesen, werden Sie selbst sehen, – fügte er schon ruhiger hinzu.

      – Nein, Pjenkin, ich werde es nicht lesen.

      – Warum denn? Das hat Lärm gemacht, man spricht davon . . .

      – Und wenn! Manche haben ja nichts anderes zu thun, als zu sprechen. Es gibt einen solchen Beruf.

      – Lesen Sie es doch aus Neugierde.

      – Was ist denn Neues darin? sagte Oblomow. – Warum schreiben sie bloß zum Zeitvertreib . .

      – Wieso denn? Wie wahr, wie wahr alles ist! Es ist zum Lachen ähnlich. Wie lebendige Porträts. Wenn Sie irgendjemand vornehmen, einen Kaufmann, einen Beamten, einen Officier oder einen Wächter – ist es, als druckten sie ihn lebend ab.

      – Weswegen mühen Sie sich denn ab? Des Spaßes halber, daß jeder, den Sie vornehmen ähnlich, herauskommt? Es ist aber kein Leben darin; es fehlt das Verständnis dafür, das Mitfühlen, das, was bei euch Humanität heißt. Es ist nichts wie Eitelkeit dabei. Sie beschreiben die Diebe und die gefallenen Frauen, als fiengen Sie sie auf der Straße ein und führten sie ins Gefängnis. Man hört in Ihre Erzählungen nicht die »unsichtbaren Thränen«, sondern nur sichtbares, rohes Lachen und Zorn . . .

      – Was braucht man denn noch? Das ist ja ausgezeichnet, Sie haben es ja selbst ausgesprochen: Dieser flammende Zorn, das gallige Verfolgen des Lasters, das verächtliche Lachen dem gefallenen Menschen gegenüber . . . darin ist ja alles!

      – Nein, nicht alles! ereiferte sich plötzlich Oblomow. – Schildere einen Dieb, ein gefallenes Weib, einen aufgeblasenen Narren, vergiß aber dabei nicht an den Menschen. Wo ist denn die Menschlichkeit? Ihr wollt nur mit dem Kopf schreiben? – sagte Oblomow fast zischend, – ihr glaubt, man braucht beim Denken kein Herz zu haben? Nein, der Gedanke wird durch die Liebe befruchtet. Reicht dem gefallenen Menschen die Hand, um ihn aufzurichten oder weint bitterlich über ihn, aber verhöhnt ihn nicht. Liebt ihn, denkt bei ihm an euch selbst und behandelt ihn, wie euch selbst, – dann werde ich beginnen, euch zu lesen und werde vor euch mein Haupt neigen . . sagte er, und legte sich wieder bequem auf das Sofa hin. – Sie schildern einen Dieb, ein gefallenes Weib, – sagte er, – und vergessen daran, den Menschen zu schildern, oder Sie können es nicht. Was ist denn das für eine Kunst, was für poetische Farben haben Sie dabei herausgefunden? Verfolgt das Laster, den Schmutz, aber bitte, ohne Anspruch auf Poesie.

      – Wollen Sie also die Natur dargestellt haben? Rosen, die Nachtigall oder einen frostigen Morgen, während alles um Sie herum braust und wirbelt? Wir brauchen die nackte Physiologie der menschlichen Gesellschaft; wir sind jetzt nicht zu Liedern aufgelegt . . .

      – Gebt mir den Menschen, den Menschen! – sagte Oblomow, – liebt ihn . . .

      – Den Wucherer, den Heuchler, den diebischen