Stille. Sanders hat seinen Platz wieder eingenommen. Nur Sybillas leises, trauriges Weinen ist zu vernehmen.
»Und – und was erhoffst du dir davon, wenn ich diesem – diesem Doktor Romberg die Praxis überlasse?«
Sie sieht ihn verzweifelt und ratlos an. »Ich weiß es nicht, Papa. Ich weiß nur, daß ich ihm helfen muß. Laß dir erzählen .«
Und Sybilla spricht von den jüngsten Vorgängen im Krankenhaus und den Folgen.
»Wenn er so tüchtig ist, wie du sagst«, beginnt Sanders, als Sybilla
geendet hat, »wird er niemals hierherkommen. Hast du dir auch überlegt, daß du ihn dann nicht mehr täglich sehen kannst?«
»Ja – ich habe es mir überlegt«, antwortet sie.
»Meinst du, daß aus Dankbarkeit Liebe wird?«
Sie schüttelt heftig den Kopf. »Ich will weder Dankbarkeit noch Mitleid, Papa. Dazu bin ich viel zu stolz. Wenn wir füreinander bestimmt sind, dann wird uns das Schicksal auch zusammenbringen. Ich liebe ihn, ich möchte ihm helfen. Bitte, Papa, überleg es dir. Du bekommst eine großartige Hilfe.«
Er schüttelt den Kopf. Wenn die Frauen lieben, sind sie alle gleich. Sie verlieren den Kopf und handeln nur nach ihrem Herzen. Und er hat geglaubt, seine gescheite Sybilla wäre davon ausgeschlossen.
»Gut, mein Kind«, sagt er nach langer Pause. »Schick mir diesen Wunderknaben. Ansehen darf ich ihn mir doch. Und…« er droht ihr mit der Hand, »gefällt er mir nicht, dann schicke ich ihn dir postwendend wieder ins Krankenhaus zurück. Einverstanden?«
Sie nimmt seine Hand, und sie zittert dabei. Ihre Augen reden eine eigene Sprache.
»Das wirst du bestimmt nicht tun, Papa.« Jetzt leuchten ihre Augen vor Glück und Freude. »Er wird dir gefallen, denn er ist Arzt von deiner Art.«
Und dann leidet es sie nicht mehr auf ihrem Platz. Sie springt auf, umhalst ihn und küßt ihn, wohin sie gerade trifft.
Energisch befreit er sich von ihr. »Sachte, sachte, Kind, wenn dich einer deiner Patienten so sähe, du lieber Himmel, wo bliebe dann der Respekt?«
*
Margarete Freytag hat es vorgezogen, anstelle des Luxus in der Villa ihrer Tochter Christiana, in einer netten Etagenwohnung zu leben.
Wohn- und Eßzimmer hat sie mit all den Dingen gemütlich eingerichtet, die sie an ihre glückliche Ehe erinnern. Gute Gemälde und wertvolle Radierungen schmücken die Wände. Die Möbel sind dunkel, schwer und sorgfältig gepflegt.
Im Wohnzimmer hat sie sich im Erker ein gemütliches Plätzchen eingeräumt, mit Blumen, einer Polsterbank mit lustigen Bezügen und einem Rundtisch mit zwei Sesseln davor.
Sie sitzt steif emporgerichtet auf der Bank und blickt ängstlich auf die hohe Gestalt der Tochter, die in ihrer Trauerkleidung noch schöner und interessanter aussieht.
»Es war nicht gut, daß du weggefahren bist«, sagt sie endlich, die lastende Stille unterbrechend. »Martin macht mir Sorgen. Er läßt sich nicht bei mir sehen – wie ist die Sache verlaufen? Warum laßt ihr mich in einer so grauenhaften Ungewißheit?«
»Du übertreibst, Mama«, weist Christiana die zierliche, ängstliche Frau zurecht. »Wie soll denn die Sache verlaufen sein? Gut, natürlich! Martin geht es ausgezeichnet. Wie mir mein Personal erzählt hat, läßt er es sich in meinem Hause recht wohl sein.«
»Mein Gott!« Frau Margarete preßt die Hände im Schoß zusammen. »Dann hat Doktor Romberg geschwiegen?« Sie sieht vorwurfsvoll auf die unruhig hin und her schreitende Tochter.
»Wolltest du noch etwas sagen?« Christiana bleibt vor der Mutter stehen.
»Ja, Christiana«, spricht die alte Dame weiter. »Ich wollte sagen, daß ihr Doktor Romberg sehr viel Dank schuldig seid.«
Christianas Augen verengen sich. »Was weißt du eigentlich, Mama?«
»Was du mir selbst am Telefon sagtest – und – und ich war darauf bei Wolfram .«
»Du – du warst bei ihm?« Christiana hält mit beiden Händen die Sessellehne umspannt und neigt den Oberkörper etwas vor.
»Wenn er geschwiegen hat, dann sicher nur meinetwegen.« Frau Margaretes Augen schimmern feucht. »Er war immer ein anständiger Mensch. Nie hat er vergessen, daß ich ihm, dem verwaisten Knaben, ein wenig Mutterliebe geschenkt habe.«
Christiana streicht sich fahrig über die Stirn. »Und ich dachte – ich glaubte, meinetwegen«, murmelt sie vor sich hin. Dann blitzt es in ihren Augen
auf.
»Gleichgültig, weshalb er Martin nicht in die Sache hineingerissen hat«, sagt sie laut. »Du hast recht. Wir sind ihm Dankbarkeit schuldig.«
Sie dreht sich zurück ins Zimmer und rafft den Hut mit dem dichten Schleier, Tasche und Handschuhe vom Stuhl, wohin sie sie bei ihrem Kommen geworfen hat.
»Du willst schon wieder gehen?«
»Ja, laß es dir gutgehen, Mama.« Sie drückt einen flüchtigen Kuß auf die Wange der alten Dame. »Brauchst du Geld?«
»Nein, nein!« Heftig wehrt Frau Margarete ab. »Ich habe alles, danke. Schick mir den Jungen mal vorbei, bitte, Christiana. Ich muß mit ihm sprechen.«
»Ich werde es ihm ausrichten, falls ich ihn treffe. Er ist ja meist unterwegs und kehrt erst nachts ins Haus zurück.«
»Wiedersehen«, flüstert Frau Margarete und schließt die Tür hinter Chri-stiana.
*
Professor Becker macht Visite, begleitet von seinem Stab Ärzten. Den Schluß bildet Oberschwester Magda mit Notizblock.
Von Bett zu Bett geht er, erkundigt sich nach dem Wohlbefinden, hört sich geduldig die Klagen an, tröstet und gibt der Oberschwester seine Anweisungen. Mit ernstem, unbewegtem Gesicht steht Oberarzt Romberg an seiner Seite.
Mit halbem Ohr hört er die Scherze, die Doktor Freytag hinter seinem Rükken mit den Patienten treibt. Nur Doktor Müller ist ganz Aufmerksamkeit. Er muß gegen ein Gefühl ankämpfen, das dem Haß nicht unähnlich ist. Mit großer Besorgnis betrachtet er Oberschwester Magda. Er bemerkt ihr wächsernes Gesicht, ihre wie im Fieber glänzenden Augen und zum ersten Male, ihre fahrigen Bewegungen.
Nach Beendigung der Visite folgt er ihr in das Schwesternzimmer. »Oberschwester?«
Sie fährt schreckhaft zusammen, erkennt ihn und zwingt sich zu einem kleinen Lächeln. »Gott, haben Sie mich erschreckt«, sagt sie und schiebt das Morphiumbuch schnell zur Seite.
»Sind Sie krank, Oberschwester?« Er begegnet ihren Augen, die tief in den Höhlen liegen. Sein Blick ist voll Teilnahme, und er glaubt ihr nicht, als sie beinahe zornig abwehrt:
»Ich bin nicht krank. Was haben Sie nur, Sie sehen mich so mitleidig an. Versehe ich meinen Dienst nicht ordentlich?«
»Doch, sehr gut sogar, Oberschwester, nur…« Er stockt und überlegt sekundenlang, ob er das Recht hat, sich in ihre Angelegenheiten zu drängen.
»Was wollten Sie sagen, Doktor Müller?«
»Nur kostet es Sie sehr viel Anstrengung«, stößt er hervor.
Sie erschrickt bis ins Herz hinein. Wie scharf er beobachtet. Ja, es kostet sie unheimliche Anstrengung, sich in der Gewalt zu haben. Sie trägt so unendlich viel mit sich herum, was sie schier zu Boden drückt. Aber nie, nie würde sie es eingestehen.
»Sie irren.« Das klingt scharf und abweisend. »Es kostet mich nicht mehr Kraft als gewöhnlich. Unser Beruf ist nicht leicht – und meine Nerven sind ziemlich stabil.«
»Ihre Nerven könnten doch eines Tages der Überbelastung nicht standhalten.«
Sie sieht ihn empört an. »Sie werden standhalten, darauf können Sie sich verlassen .«
Als