Sie läuft den Gang entlang und sucht das Ärztezimmer auf. Hierher muß er unbedingt kommen.
*
»Du bist verrückt«, stößt Doktor Freytag wütend mit tiefblassem Gesicht hervor. »Wie willst du mir das beweisen?«
Lange und eindringlich sieht Magda ihn an, dann überkommt sie der Jammer über ihr ganzes gehetztes Leben, das sie nur noch in dauernder Unruhe verbringt. Sie legt den Kopf auf den Arm und weint bitterlich. Nein! Beweisen kann sie es ihm nicht. Keiner kann es ihm beweisen!
Freytag preßt die Lippen zusammen. Er möchte ihr irgendein gutes Wort sagen, aber er haßt sie in diesem Augenblick, da sie sich so unbeherrscht zeigt.
»Hör endlich mit der Heulerei auf«, herrscht er sie endlich nach einer qualvollen Pause an. »Du machst noch so lange, bis man hinter deine Schliche kommt.«
Da ruckt sie empor. Noch rinnen ihr die Tränen über die Wangen, ihr Mund zittert. Sie sieht elend, alt und verbraucht aus, und er kann nicht begreifen, daß er sie einmal im Arm gehalten hat. Fast empfindet er Ekel vor ihr.
»Hinter meine Schliche?« fragt sie fassungslos, mit heiserer, tonloser Stimme. »Für wen habe ich das getan? Für dich, nur für dich. Meinst du, ich wüßte nicht längst, daß du meiner überdrüssig bist? Vielleicht versuchst du es jetzt bei einer anderen Schwester? Vielleicht bei Anita, um an dein Gift heranzukommen.« Sie erhebt sich. »Ich werde selbst zu Professor Becker gehen und ihm alles sagen –«
»Das wirst du nicht tun.« Im Nu steht er neben ihr und umfaßt ihr Handgelenk. »Du wirst weiterhin schweigen, denn du hast dich genauso schuldig gemacht wie ich.«
»Ich kann nicht mehr – ich kann nicht mehr«, wimmert sie.
Da stößt er ihre Hand von sich, und sie taumelt zurück auf ihren Sitz.
»Ich werde Schluß machen – so – oder so.–«
»Ich habe dir schon einmal gesagt«, zischt er dicht an ihrem Ohr, »dazu ist es viel zu spät. Ich erwarte dich heute abend bei mir, hörst du? Laß uns vernünftig sein. Es hat alles keinen Zweck.«
Sie hört, wie er sich entfernt, wie er leise die Tür hinter sich schließt.
*
Mit großen, erregten Schritten geht Doktor Freytag ins Ärztezimmer. Vom Fenster löst sich eine Frauengestalt im weißen Kittel. Er sieht ein Paar übergroße dunkle, funkelnde Augen und ist wie gebannt. Abwartend lehnt er am Türrahmen.
»Warum haben Sie die Packung Ampullen an sich genommen?« hört er sie wie eine Anklägerin sprechen.
»Ampullen? Iiich?«
»Versuchen Sie nicht zu schwindeln«, unterbricht Anita den verstörten Arzt, der sich noch nicht einmal von der Unterredung mit Magda richtig erholt hat. »Leichtsinnigerweise ließ ich den Schlüssel am Giftschrank stecken. Nur Sie waren in der Zwischenzeit anwesend. Vorher hat niemand etwas in dem Schrank zu suchen gehabt. Die Oberschwester hat sofort nach Ihrem Fortgang den Verlust entdeckt. Folglich können nur Sie Interesse an den Ampullen gehabt haben.«
»Was – was wollen Sie eigentlich von mir?« stammelt Freytag.
»Geben Sie mir die Ampullen zurück. Ich werde Gelegenheit finden, sie zurückzubringen«, fordert Schwester Anita energisch, dabei läßt sie ihn keine Minute aus den Augen.
»Ich – ich habe keine Ampullen.«
Jetzt steht sie dicht vor ihm. Sie spürt seinen Atem, der sie wie ein Hauch streift.
»Lügen Sie nicht, Doktor Freytag.« Sie ist ein mutiger Mensch, aber jetzt hat sie vor Freytag etwas wie Angst. Das Funkeln seiner Augen irritiert sie. »Sie sehen wie das leibhaftige schlechte Gewissen aus. Außerdem müssen Sie sich eine dümmere Person suchen. Sie kamen in einem ziemlich mitgenommenen Zustand zu mir, und wenige Minuten später waren Sie der alte. Ich bin lange genug Krankenschwester, um zu wissen, daß Sie.«
Im nächsten Augenblick fühlt sie sich umschlungen. Ein heißer Mund preßt sich auf ihre Lippen, daß sie kaum Atem zu holen vermag.
Endlich gelingt es ihr, sich freizumachen. Schweratmend sieht sie ihn an.
»Das war gemein.« Es klingt wie ein Schluchzen. »Bilden Sie sich nicht ein, daß Sie so leichtes Spiel mit mir haben, wie mit der Oberschwester.«
»Anita!« Abermals küßt er sie. So schnell kommt dieser Überfall, daß sie sich nicht wehren kann. »Sie sind hinter mein Geheimnis gekommen, gut, dagegen kann ich nichts unternehmen. Aber ich will auch gar nicht mit Ihnen streiten, Anita. Sie gefallen mir, Sie gefallen mir sogar sehr. Bitte –« und jetzt legt er Lockung und Werbung in seinen Ton. Dabei strömt es ihm warm zum Herzen. Es ist ein Gefühl, das er noch bei keiner Frau erlebt hat. »Wollen wir heute abend zusammen ausgehen? Ich hole Sie ab. Wir werden uns einmal außerdienstlich unterhalten und fröhlich sein. Immer nur Krankenhausluft stumpft langsam ab. Oder ?«
»Ja«, haucht sie, völlig willenlos. Noch einmal erhebt sich mahnend ihr Gewissen. »Und Oberschwester Magda?«
Er preßt sie fester an sich und spürt, wie sie sich nicht mehr wehrt. Er wird ungewöhnlich ernst. »Das ist etwas ganz anderes, Anita, Kleines. Das werden Sie kaum verstehen.«
»Sie irren, Doktor Freytag«, entgegnet sie in einem Anfall von Trotz und Auflehnung. »Ich verstehe alles und glaube auch alles zu wissen.«
»Still«, flüstert er. »Es kommt jemand. Schnell, sagen Sie mir, wo ich Sie abholen darf.«
Sie nennt ihm hastig Straße und Hausnummer, und wenige Minuten später eilt sie den Gang entlang ihrer Station zu.
Ich werde nicht mit ihm ausgehenhämmert sie sich ein – ganz bestimmt nicht. Wenn er mich abholen kommt, werde ich ihm nicht öffnen. Nein, ganz bestimmt nicht. Ich bin kein willenloses Werkzeug wie Oberschwester Magda.
*
Martha hat die Tafel abgeräumt, hat Gläser und eine Flasche auf den Tisch gestellt und ist leise wieder verschwunden.
Bedächtig gießt Dr. Sanders die Gläser voll. »Sie gefallen mir, Doktor Romberg«, sagt er unvermittelt, »und wenn Sie dazu noch so tüchtig sind, wie meine Tochter mir erzählte«, ein schneller, liebevoller Blick trifft die still zuhörende Sybilla, »dann wäre ich glücklich, in Ihnen meinen Nachfolger gefunden zu haben.«
Überrascht hebt Romberg den Kopf. Er empfindet für den alten Herrn, dessen Geradlinigkeit ihn geradezu verblüfft, große Sympathie. Und doch muß er ihn enttäuschen.
»Es tut mir leid, lieber Herr Doktor«, sagt er mit Wärme. »Aber ich denke nicht daran, zu kapitulieren. Sie scheinen über meinen augenblicklichen schweren Stand im Krankenhaus unterrichtet zu sein. Ich weiche nicht. Ganz einfach deshalb nicht, weil ich mir keiner Schuld bewußt bin.« Romberg sieht von einem zum anderen und setzt härter als beabsichtigt hinzu: »Außerdem eigne ich mich nicht zum Protektionskind.«
Er bemerkt, wie Sybilla erblaßt und ihrem Vater einen hilfeflehenden Blick zuwirft.
»Na, na, na«, beschwichtigt er. »So ist das keinesfalls gemeint, lieber Romberg. Ich habe längst gemerkt, daß Sie eine Persönlichkeit sind, und mit Protektion hat das gar nichts zu tun. Da brauchte ich ja nur meine Tochter in die Praxis zu setzen .«
»Und weshalb tun Sie es nicht?« fällt Romberg ihm schnell ins Wort und bringt Sanders damit in einige Verlegenheit.
»Sie will nicht«, gibt er ehrlich zu. »Sie meint, sie könne im Krankenhaus mehr lernen als hier auf dem Lande. Nun, darüber kann man geteilter Meinung sein. Ich jedenfalls habe mich jederzeit sehr wohl gefühlt und glaube behaupten zu können, daß ich meinen Beruf nicht weniger liebe als Sie.«
»Ich kann nicht – und ich will nicht«, sagt Romberg abschließend.
»Schön, ich nehme es zur Kenntnis«, erwidert Sanders und hebt sein Glas gegen das Licht. Er blinzelt ein wenig dabei. »Zufällig kenne ich Professor Becker sehr gut. Unbegreiflich, wie er den jungen Freytag derart