Körper mehr zu besitzen, sondern frei im Raum zu schweben. Plötzlich hatte Hilarius den Eindruck, als ströme von irgendwo ein schwaches Licht herbei – ein Glimmen, das in der vollkommenen Finsternis wie ein Strahl aus Sternenglanz wirkte. Und in diesem Strahl sah der Pater den Gaukler, dessen Umrisse sich aufzulösen schienen. Schattenarme wuchsen aus ihm hervor, spiralten sich in die Finsternis, tasteten sich durch das seltsame Licht – und dann war wie auf ein geheimes Kommando alles wieder verschwunden. Hatte Hilarius geträumt, oder hatte er das Licht wirklich gesehen?
»Ein Graf?«, echote es von den Wänden – in einer anderen Klangfarbe. Jetzt war es Martins Stimme, die sprach. »Aber wir sind doch einem Grafen begegnet – in Volkach!«
»Schweig, du Zunge des Satans!«, fuhr Hilarius ihn an. Am liebsten wäre er aufgesprungen und hätte seinem jungen, unerfahrenen Mitbruder den Hals umgedreht.
Die Stimme Federlins lenkte ihn ab: »Ich habe auf meinen Wanderungen von der Apokalypse reden hören. Die Gerüchte verdichten sich, dass sich gewisse Teile der Welt auf die Ankunft des Bösen vorbereiten. Wenn Ihr einen Hinweis darauf habt, ehrwürdiger Pater, dann sollten wir ihm nachgehen.«
»Gar nichts sollten wir!«, giftete Hilarius. »Du hast keine Ahnung von Gott und der Welt. Bist du überhaupt von dieser Welt?«
Federlin lachte leise, aber es klang nicht belustigt. »Ich bin genauso von dieser Welt wie von jeder anderen«, lautete seine rätselhafte Antwort. »Glaubt mir, ich kenne die Welt.«
»Aber du scheinst Gott nicht zu kennen. Was ist, wenn Er in Seiner unendlichen Weisheit den Untergang der Welt beschlossen hat, weil Er sieht, dass Seine Schafe sich von ihm abgewandt haben und der Sünde verfallen sind?«
»Seid Ihr sicher, dass Ihr Gott nicht mit dem Teufel verwechselt?«, gab Federlin zur Antwort. Seine Stimme hallte leise wider, als sei die Höhle, an deren Anfang sie sich befanden, unendlich groß. Was mochte sich in ihr verbergen?
»Ich bin ein Mann Gottes. Wieso sollte ich mir nicht sicher sein?«
»Habt Ihr nicht bemerkt, dass sich in unserer Welt vieles verändert hat? Der Glaube wankt und zersplittert, Krieg und Rohheit überziehen das Antlitz der Welt wie Mehltau, der Hexen werden immer mehr – das müsstet doch gerade Ihr bemerkt haben –, und die Welt füllt sich mit Teufeln und Dämonen. Ist das alles nicht wie ein Vorspiel zu dem großen Drama vom Ende der Welt? Aber es könnte auch etwas ganz anderes sein, etwas, das nur wenige ahnen – nämlich der gewaltige Beginn von etwas vollkommen und vielleicht erschreckend Neuem. Es ist doch kaum mehr als eine Binsenweisheit, dass jedes Ende einen neuen Anfang gebiert. Aber – ist dieser Anfang gut oder böse? Er kann beides sein; das wisst Ihr.« Federlin hatte ruhig und beherrscht gesprochen, doch Hilarius spürte das Feuer hinter diesen Worten. Es drohte den Pater zu verbrennen. Oh, das alles hatte er natürlich bemerkt, er wusste es, aber er wollte es nicht wissen. Er wollte sich in die Sicherheit seines Klosters zurückziehen und die Welt sich selbst überlassen. Was ging sie ihn an? Nun hatte er Bauchschmerzen. Er antwortete:
»Gott spricht nicht durch einen Gaukler.«
»Hat er nicht sogar durch ein Kind in der Wiege gesprochen?«
»Nein, er hat nicht durch das Kind gesprochen; er war das Kind, denn das Kind ist Teil des dreieinigen Gottes.«
Federlin gab nicht auf. »Wenn Gott Euch ruft, versperrt Ihr dann Eure Ohren mit Wachs?« Seine körperlose Stimme schien wieder von überall her zu kommen; sie war wie eine Schlange, die sich in das Gehirn des Paters fraß.
»Warum willst du unbedingt an dieses Gerede vom Ende der Welt glauben? Und warum glaubst du, dass in Burgebrach der Schlüssel dazu liegt? Das ist doch nur ein unbedeutendes Städtchen im Osten, nicht viel mehr als ein Dorf. Geh doch hin, wenn es dich danach giert. Aber erst zeigst du mir den Weg nach Eberberg.« Hilarius schwieg eine Weile, dann fügte er langsam hinzu. »Vielleicht fällt ja dort eine Belohnung für dich ab.« Als er keine Antwort erhielt, sagte er noch: »Ich bin schrecklich müde. Wir haben morgen einen langen, harten Weg vor uns. Ich schlafe jetzt.« Er versuchte, es sich auf dem kalten Steinboden bequem zu machen, aber es gelang ihm nicht. Von den anderen hörte er ebenfalls nur noch Rascheln und schließlich Schnarchen. Es dauerte lange, bis auch Hilarius einschlief.
»Steht auf. Es ist Zeit.«
Hilarius streckte den Kopf vor, rieb sich die Augen und öffnete sie. Ein greller Lichtstrahl zwang ihn dazu, sie sofort wieder zu schließen. Er hatte drei Schemen in diesem Strahl ausmachen können.
Eine andere Stimme sagte: »Kommt, Pater Hilarius. Wir sollten uns beeilen, wenn wir vor Einbruch der Dämmerung in Eberberg sein wollen.« Es war Martins Stimme.
Hilarius stand auf. Sein ganzer Körper schmerzte; ein solch hartes Lager war er nicht gewöhnt. Er schlug wieder die Augen auf. Jetzt konnte er erkennen, dass das Licht durch den freigelegten Eingang der Höhle hereinströmte. Gerade war Martin dabei, hinaus ins Freie zu klettern. Maria folgte ihm; Federlin schien schon draußen zu sein. Hilarius schickte sich an, seinen unförmigen Körper durch die schmale Öffnung zu zwängen. Diesmal gelang es ihm mit geringeren Schwierigkeiten, und bald stand er in dem sonnendurchfluteten Wald. »Federlin, führ uns nach Eberberg«, sagte er mit einer Stimme, die keine Widerrede duldete.
Der Gaukler hängte sich seinen Dudelsack um, nickte und ging voran. Hilarius war erstaunt, dass er sich wortlos fügte.
Der Weg war lang und beschwerlich, auch wenn das Wetter gut und angenehm war. Sie begegneten den Mordgesellen nicht mehr; Federlin schien etliche Schleichwege zu kennen, und nur selten überquerten sie eine Straße, und noch seltener folgten sie einer für eine kurze Zeit.
Der Wald schien vor Leben zu bersten; Rehe und Wildschweine sah Hilarius in der Ferne; Kaninchen und Hasen hoppelten und hasteten oft vor ihren Füßen dahin, und mehr als einmal beschwerte sich Martin und sagte, dass er großen Hunger habe.
»In der Abtei wird sicherlich gut für euch gesorgt werden«, gab Federlin jedes Mal zur Antwort. »Wir dürfen keine Zeit verlieren.«
Hilarius bemerkte, dass Maria sehr oft neben Martin herging. Der Pater hörte, wie sie ihm ihre Lebensgeschichte erzählte. Bei bestimmten unziemlichen Stellen wusste der arme junge Mönch vor Verlegenheit gar nicht, wo er hinschauen sollte. Hilarius hatte diese Schwierigkeiten nicht. Wenn er diese Dirne in ihrem dreckigen, aber teuren Kleide betrachtete, wurden seine Blicke immer wieder von ihrem tiefen Ausschnitt angezogen. Er spürte, wie sich bei ihm Gefühle regten, die er lange überwunden geglaubt hatte. Dieser herrlich weiße Brustansatz, diese aufregende Wölbung, diese schmale, elegante Hüfte … all das verstörte ihn. Sie war wie eine Hexe, die einen mächtigen Liebeszauber gewirkt hatte. Wieder und wieder sah er sie von der Seite an, schaute auf ihren wiegenden Gang, auf die schlanken Fesseln und die hübschen braunen Locken. Es war, als ströme das Böse bei jedem Schritt wie ein schrecklich verführerischer Duft aus ihr heraus.
Martin war ihrer Gegenwart erlegen. Er gab seinem Bedauern über ihre misslichen Erfahrungen stotternd Ausdruck, und es war deutlich zu sehen, wie die Engel und Dämonen in ihm um die Vorherrschaft kämpften. Die ewige Verführerin … Die Schlange … Schweigend lief Hilarius manchmal neben ihnen und manchmal hinter ihnen her. Nun, da sie schon weit weg vom Schlupfwinkel der Räuber waren, erlaubte Federlin sich bisweilen, ein lustiges Liedchen auf seinem Dudelsack zu pfeifen. Doch auch die munterste Weise geriet ihm eigenartig schwermütig und traurig. Was für ein Gegensatz zu seinem unbekümmerten, kecken Gehabe …
In der Abenddämmerung ließen sie endlich den Wald hinter sich und kamen an Getreidefelder, auf denen die Halme bereits kniehoch standen. Weit in der blauen Ferne erhoben sich die Dächer und Türmchen einer kleinen Stadt. Hilarius hatte inzwischen vollkommen die Orientierung verloren, doch er glaubte zu wissen, dass auf dem Weg nach Eberberg keine Stadt zu passieren war. Er fragte Federlin danach.
»Ach, es hat schon seine Richtigkeit«, antwortete dieser leichthin zwischen zwei lang gezogenen, klagenden Tönen. »Ich habe halt einen anderen Weg genommen – einen sichereren.«
Je näher sie der Stadt kamen, desto zweifelhafter erschien Hilarius die ganze Sache. Inzwischen war das Tor deutlich zu sehen; es war bereits geschlossen.