Selim Ozdogan

Wieso Heimat, ich wohne zur Miete


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erzählt, Sultan Ahmet, Hagia Sophia, Süleymaniye, die Gebetsrufe, die bärtigen Männer, aber ich habe keine einzige Moschee gesehen. Wie viele Male (Tausende Male) bin ich nun schon die İstiklal Caddesi hoch- und runtergelaufen, die Fußgängerzone im Zentrum, bin aufs Geratewohl durch die Seitenstraßen gegangen, durch die kleinen, verwinkelten Gassen, durch die Passagen, doch ich habe keine einzige Moschee gesehen. Dafür jede Menge Kirchen. Griechisch-orthodox, evangelisch, katholisch, gotisch, armenisch, ich kenne mich nicht damit aus, griechisch-römisch, Freistil, Schmetterling und wie das alles heißt. Überall, an jeder Ecke eine Kirche. Aber keine einzige Moschee.

      Dafür wurde mit Einbruch der Dunkelheit die Weihnachtsbeleuchtung eingeschaltet. Über die gesamte Länge der İstiklal gibt es Sterne, Schneeflocken, Tannengrün. Während ich nach Moscheen und dem Islam Ausschau halte, geht die Weihnachtsbeleuchtung an. Mitten im August.

      In Deutschland glauben Menschen wie meine Mutter ja, dass die Welt bald untergeht, nur weil es ab September Spekulatius und Lebkuchen im Supermarkt gibt. Ich frage einen der Sesamkringelverkäufer, ab wann die Weihnachtsbeleuchtung hier brennt. Er sieht mich verwundert an.

      Ab wann?

      Ja, wann im Jahr fängt das an? Im Mai, im Juni, im Juli, wann wird diese Beleuchtung eingeschaltet?

      Die brennt jede Nacht, sagt er, das ganze Jahr über. Wir sind ja keine Christen.

      Wir sind keine Christen, wiederhole ich.

      Ja, sagt er, wenn wir Christen wären, dann gäbe es eine Zeit dafür, so ist das mit der Religion und den Festen, es gibt für alles eine Zeit. Nur dem Verrückten ist jeder Tag ein Fest.

      Wir sind keine Christen, wiederhole ich, aber warum stehen dann hier überall Kirchen herum? Seit Stunden suche ich eine Moschee, aber ich finde keine einzige.

      Der Mann lacht. Die haben wir gebaut, damit die Leuchtreklame sich nicht so allein fühlt, sagt er.

      Ich denke nach.

      Die Kirchen sehen aber älter aus als die Weihnachtsbeleuchtung, sage ich.

      Der Mann lacht, als hätte ich einen Witz gemacht.

      Wir sind keine Christen, wiederhole ich. Und wenn die Christen jeden Tag ein Schaf schlachten oder jeden Tag fasten würden …

      … dann wären sie keine Moslems, beendet er meinen Satz. Du hast es verstanden, mein Junge. Es gibt für alles eine Zeit. Die Christen kaufen mehr ein, wenn die Weihnachtsbeleuchtung an ist, hier wird das ganze über Jahr viel verkauft.

      Ich nicke und denke nach. Zum Opferfest wird viel Fleisch konsumiert. Das könnte man auch in Deutschland nutzen, um den Konsum anzukurbeln. Wenn man es das ganze Jahr über tut, wird man ja nicht Moslem davon. Gut, jeden Tag wäre übertrieben, aber man könnte doch ruhig einmal die Woche Opferfest feiern. So wie die Grünen diesen vegetarischen Tag in den Kantinen vorgeschlagen haben. Davon hat Hase mir erzählt. Das kam nicht gut an. Aber einmal die Woche noch mehr Fleisch wäre etwas anderes. Man muss das Lamm oder Schaf, die Ziege oder die Kuh ja nicht unbedingt selber schlachten. Oder das Schwein. Schließlich sind wir keine Moslems.

      Der Sesamkringelverkäufer sieht mich an.

      Schließlich sind wir keine Moslems? sagt er aufgebracht.

      Keine Christen, meinte ich. Ich verabschiede mich und gehe weiter.

      Komisch, dass ich bei dem Gedanken an Fleisch Lust auf Schokolade bekommen habe. Es gibt keine Moscheen, aber kleine Läden findet man an jeder Ecke. Ich kaufe in einem eine dunkle türkische Schokolade. Sonst mache ich mir nicht viel aus Essen, aber die Schokolade muss schmecken. Wenn ich groß bin, möchte ich mal Nachtischler werden und einen Schokoladen bauen, sagt Hase immer. Ich mag Schokolade. Nicht Zucker und Pflanzenfett, ich mag Schokolade, deswegen steht auf der Packung Kakaoanteil 70 % drauf. Ich stecke mir ein Stück in den Mund.

      Es schmeckt nicht. Die Schokolade ist nicht schlecht, sie schmeckt nur nicht. Überhaupt nicht. Schlimmer als Vollmilchschokolade. Ich gucke noch mal auf die Packung. 70 % steht da. Dunkle Schokolade kauft man doch wegen des Geschmacks. Was habe ich davon, wenn da 70 % Kakao drin ist, aber der Kakao nicht schmeckt? Das ist ja wie ein Konzert, zu dem 70.000 Zuschauer kommen, die aber alle taub sind.

      Ich werfe die Tafel weg und sehe auf mein Handy. Noch eine halbe Stunde bis zur Verabredung mit meinem Vater vor dem Starbucks auf der İstiklal. Vielleicht liegt es an der Schokolade, vielleicht liegt es an den Religionen, den Kirchen, den fehlenden Moscheen, der immerwährenden Weihnachtsbeleuchtung, der Tatsache, dass es in Deutschland Halloween gibt, aber kein Opferfest, auf jeden Fall verlaufe ich mich heillos. Dabei kennen alle Leute, die ich frage, den Starbucks auf der İstiklal, nur schickt mich jeder in eine andere Richtung und schließlich weiß ich gar nicht mehr, ob ich eher bergauf oder bergab muss, um überhaupt die Fußgängerzone wiederzufinden.

      Als ich endlich vor dem Starbucks stehe, bin ich zwanzig Minuten zu spät. Mein Vater ist nicht da. Zwölf Jahre habe ich ihn nicht gesehen, aber ich würde ihn sofort erkennen. Da bin ich mir sicher. Ich bekomme eine SMS. Mein Vater schreibt, dass er über vierzig Minuten auf mich gewartet hat, dass er sein Handy im Auto vergessen hatte und jetzt auf dem Heimweg ist. Ob mit mir alles in Ordnung sei.

      Ich schaue auf die Uhr. Ich schaue lange auf die Uhr an meinem Handgelenk. Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort, und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort, sagt meine Mutter immer. Und dass die Dinge ihr Geheimnis von selbst enthüllen, wenn man nur geduldig und ruhig ist.

      Schläft ein Lied in allen Dingen. Schläft. Ich habe es verpennt. Ich habe es verpennt, die Uhr umzustellen.

      Zweites Kapitel, in dem Krishna Mustafa seinen neuen Mitbewohner kennenlernt, ihm den Grund seiner Reise erklärt und einen Auftritt von Erdoğan sieht

      Isa war gestern nicht zu Hause, ich habe den Schlüssel bei den Nachbarn geholt. Jetzt höre ich, wie er aufschließt, stehe auf und sehe mich im Flur einem eins neunzig großen Mann gegenüber. Er ist dünn, hager im Gesicht, mit schulterlangen, leicht gewellten braunen Haaren, die in der Mitte gescheitelt sind. Sein Vollbart ist kurz, aber ungepflegt.

      Wir geben uns die Hand.

      Krishna Mustafa, sage ich.

      Isa, sagt er, hocherfreut. Willkommen in Istanbul, willkommen in der Türkei. Ich hoffe, du hast gut hierhergefunden.

      Ja, danke. Es war kein Problem. Es war leichter, als eine Moschee zu finden.

      Tut mir leid, dass ich gestern nicht hier sein konnte, ich war in Bursa auf einer Hochzeit. Krishna Mustafa, was ist das für ein Name?

      Wir setzen uns ins Wohnzimmer und ich erzähle ihm die Geschichte, die ich immer erzähle. Sie gehört zum Kennenlernen dazu wie die Komplimente über die Sprachkenntnisse.

      Dein Türkisch ist recht ordentlich, dafür, dass du so lange nicht mehr hier warst, sagt Isa.

      Danke, gleichfalls, sage ich.

      Und was machst du jetzt hier? möchte er wissen. Emre hat nur erzählt, dass du die Türkei besser kennenlernen möchtest.

      Emre ist mein Cousin und wohnt seit gestern in meinem WG-Zimmer in Freiburg, dafür habe ich sein Zimmer hier.

      Nein, nicht die Türkei, sage ich. Ich möchte mich besser kennenlernen. Meine Wurzeln. Ich bin gekommen, weil ich meine Identität finden möchte.

      Ich denke an Laura und wie sie gesagt hat: Du machst mich wahnsinnig, Krishna, du hast einfach deine Identität noch nicht gefunden, du bist 24, aber hast noch nicht mal angefangen, dich selbst zu suchen. Du hast keine Meinung zur Türkei, zu deinem Verhältnis zu deinem Vater oder zu deinen Wurzeln, du willst überhaupt nicht herausbekommen, wo du im Leben stehst. Du musst doch mal eine Perspektive entwickeln, einen Horizont. Ich kann mit so jemandem einfach nicht zusammenbleiben. Das musst du verstehen.

      Deine Identität?

      Isa lacht, als hätte ich einen Witz gemacht.

      Ich habe auch gelacht, als Laura zu mir gesagt hat, ich hätte meine Identität noch nicht gefunden. Weil ich sie ja nie irgendwo verloren hatte. Ich habe gelacht und sie hat mich verlassen.

      Und