Das war ein Witz.
Ach so.
Was heißt achso?
Das ist so ein deutsches Wort, das man immer sagen kann.
Und wir sind uns auch nicht einig, sagt Yunus, wenn es ein Mädchen wird, möchte ich es Tazyık nennen, wenn es ein Junge wird, Toma.
Beide lachen.
Ich verstehe wieder nicht.
Kennst du Toma?
Nein, sage ich.
Toma, das ist die Abkürzung für Toplumsal Olaylara Müdahale Aracı, so heißen hier die Wasserwerfer, die sprühen Wasser mit viel Druck. Druck, tazyık, du kennst das Wort?
Ich nicke.
Toma, Toplumsal Olaylara Müdahale Aracı, zu Deutsch Interventionsfahrzeuge für gesellschaftliche Ereignisse. Das ist lustig. Als würde man Panzer Streitwagen für nicht verbale Auseinandersetzungen nennen.
Ihr habt euch im Tränengas kennengelernt? frage ich. Das finde ich romantisch.
Ich war schon tagelang mit Toma beschäftigt, sagte Yunus, ich dachte, es wird etwas Ernstes mit uns, doch dann habe ich Esra im Park gesehen, wie sie Essen verteilt hat. Ich habe sie gesehen und dachte: Es gibt keine hässlichen Mädchen, es gibt nur zu wenig Tränengas.
Beide sehen mich an.
Er ist nicht von hier, sagt Esra, er versteht die Witze nicht.
Es ist über ein Jahr her, sagt Yunus, aber wir zitieren immer noch die Graffiti von damals. Hast du um Taksim herum mal gesehen, wie viele Wände grau überstrichen sind? Fast alle. Dort standen diese Sprüche, und wir werden sie später noch unseren Kindern erzählen. Gezi wird später mal als der Wendepunkt angesehen werden, weil wir dort das erste Mal Demokratie, Respekt und Brüderlichkeit gelebt haben, ohne Führer, ohne Dogmen, ohne Druck. Das erste Mal in der Geschichte dieses Landes.
Dort hat unsere Liebe ihren Anfang genommen, sagt Esra.
In einer Tomakratie, sagt Yunus.
Ich habe die Proteste letztes Jahr im Internet mitbekommen. Hase hat mich darauf aufmerksam gemacht. Aus dem Widerstand gegen ein geplantes Bauprojekt auf dem Gezi-Park, der einzigen Grünfläche, die es in der Nähe von Taksim noch gibt, wurde eine riesige Bewegung, alle demonstrierten gegen die Regierung. Sonst interessiere ich mich nicht für solche Sachen, doch ich mochte die Energie, die ich dort sah. Ich habe mir viele Clips auf YouTube angesehen und die Hashtags auf Twitter verfolgt.
Esra und Yunus leben die Schwingungen von damals weiter, sie reiten immer noch auf der Welle des letzten Jahres, sie haben die Liebe herausgezogen und für sich bewahrt. Deswegen bekomme ich Gänsehaut. Deswegen verknotet sich mein Magen.
Laura habe ich auf einer Party angesprochen, weil ich auf Partys immer alle Frauen anspreche, die ich noch nicht kenne.
Krishna Mustafa, das ist aber ein schöner Name, hat sie gesagt.
Danke, den habe ich zum Geburtstag bekommen, habe ich geantwortet.
Dann hat sie gelacht, obwohl das die Wahrheit war. Wir haben keinen Pudding Shop und keinen Gezi-Park, wir haben nur ein Lachen, aber das ist doch auch ein guter Anfang.
Alles fängt mit A an. Das ist eine Wahrheit.
Laura mit ihren blonden Haaren, die von den Wurzeln bis zu den Spitzen gehen, Laura mit ihren Beinen, die so lang sind, dass sie bis zum Boden reichen, Laura mit ihren Brüsten, die genau in ihren BH reinpassen. Laura, die mit mir Memory spielte und Lego, mit der ich im Herbst aus Kastanien Tiere bastelte. Laura, die auch gerne Nudeln mit Ketchup isst und dabei fernsieht, Laura, mit der man Keiner darf den Boden berühren spielen konnte und Pippi Langstrumpf gucken (Tausende Male), anstatt in irgendeinen Arthouse-Film zu gehen, wo Kaffeetassen so lange gezeigt werden, bis ich einschlafe. Was lustig ist, Kaffeetassen zum Einschlafen, und wenn man aufwacht, hat man nichts verpasst. Aber Pippi Langstrumpf finde ich noch schöner.
Laura. Liebeskummer. Beides fängt mit L an. Warum? Hätte ich eine Elena finden sollen, Elena wie Ewigkeit? Oder eine Isabelle, die immer für mich da ist?
Alles fängt mit A an. Ich klappe meinen Rechner auf. Laura ist nicht online, das weiß ich, sie ist jetzt auf der Arbeit. Im Kindergarten. Ich klappe den Rechner wieder zu. Ich schreibe ihr auf WhatsApp, dass ich sie vermisse und dass ich gerne wieder mit ihr zusammen wäre. Dass ich in Istanbul bin und suche. Ich schreibe ihr, was ich ihr jetzt schon fünfmal so ähnlich geschrieben habe, ohne dass sie geantwortet hat.
Ich höre Yunus und Esra nebenan ins Yunus’ Zimmer lachen. Ich mache den Fernseher an. Auf dem Couchtisch liegt ein Buch mit Gedichten auf Türkisch und Deutsch, wahrscheinlich gehört es Emre. Ich lese die Seite, die ich aufs Geratewohl aufschlage.
Bist du denn fremd hierhergezogen –
Ach, warum weinst du, Nachtigall?
Und hast ermattet dich verflogen?
Ach, warum weinst du, Nachtigall?
Ach, wie so bitter klingt dein Flehen!
Neu lässt du meinen Schmerz erstehen!
Du möchtest deinen Freund wohl sehen?
Ach, warum weinst du, Nachtigall?
Ihr Augen, die im Schlafe ruhten,
Erwachend hebt ihr an zu bluten –
Mein Herz verbrennt in hellen Gluten –
Ach, warum weinst du, Nachtigall?
Ich schlage das Buch wieder zu und weine. Das letzte Mal habe ich geweint, als ich 15 war. Ich sollte kochen lernen, weil meine Mutter einen modernen Mann aus mir machen wollte. Ich wollte nicht. Sie redete wie immer viel, Worte wie Gleichberechtigung, tradierte Rollenverteilung, Machtgefälle, patriarchale Wertvorstellungen konnte man bei uns zu Hause fast jeden Tag hören. Es war falsch, dass Männer über Frauen bestimmten. Und deshalb war es richtig, dass eine Frau über einen Jungen bestimmte.
Das letzte Mal habe ich geweint, als ich 15 war und Zwiebeln schneiden musste.
Ich habe nie kochen gelernt, aber es hat mir auch nie gefehlt.
Sechstes Kapitel, in dem Krishna Mustafa zum Sommerfest der deutschen Gemeinde geht, sein Leichenhemd gesegnet wird und er seine zweite Tafel dunkle türkische Schokolade probiert
Ich suche im Internet nach Beschäftigungen, die keine Touristen anziehen. Touristen wollen ja im Urlaub meistens dasselbe machen, was sie zu Hause machen, nur mehr davon. Sie wollen mehr trinken, mehr feiern, mehr fernsehen, mehr essen, mehr Sex haben und mehr nichts tun. Aber sie wollen auch die Wahrzeichen der Stadt sehen, ihre Museen und Ruinen und all das. Ich glaube, man sagt Touristenmagnet dazu. Aber in erster Linie sind wahrscheinlich die Touristen magnetisch. Die ziehen sich alle gegenseitig an. Und dort, wo sie sich am dollsten anziehen, wurden früher berühmte Gebäude errichtet. Da machen die Touristen dann Fotos, wo sie selber mit drauf sind. Sie kennen die Gebäude nämlich schon von vielen Fotos und wissen, dass es zwar schon genug Bilder davon gibt (Tausende Bilder), aber noch keine mit ihnen drauf.
Wenn du etwas über den Wald lernen möchtest, fragst du dann einen Baum oder fragst du die Vögel? hat Isa gesagt. Ich glaube, er hat das rhetorisch gemeint. Ein Baum kann ja seine Wurzeln nicht sehen. Der Vogel kann die Wurzeln des Baumes aber auch nicht sehen. Isa hat die Maulwürfe und die Regenwürmer vergessen, die Erde und das Wasser.
Die Vögel, die Vögel sind vielleicht die Deutschen, überlege ich. Die fliegen hierher und singen dann ihre Lieder.
Die deutsche Gemeinde in Istanbul veranstaltet ein Sommerfest in Nişantaşı, das ist nicht so weit weg von mir. Alle mit einem Bezug zu Deutschland sind herzlich eingeladen. Das Fest findet heute statt. Manchmal ist es so, als wäre das Leben Lego. Alle Teile passen zusammen.
Manchmal ist das Leben aber auch wie eine Scherbe, die ganz hinten unter den Küchenschrank gerutscht ist. Alle Teile, die passen könnten, sind schon längst im Müll. Und man hat trotzdem etwas, das Glück bringt.
Als Kind bin ich mit meiner Oma in Offenburg ein paarmal auf dem Gemeindefest ihrer Kirche gewesen. Da waren ganz viele alte