Selim Ozdogan

Wieso Heimat, ich wohne zur Miete


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tragen keine Burka, sie tragen ein Çarşaf, die Augen sind nicht verschleiert, korrigiert Isa mich. Aber das ist ja eigentlich auch egal. Araber sind hier nicht besonders gut angesehen, auch wenn sie Geld bringen. Weil sie dreckig sind, sagen die Leute, weil sie sich nicht benehmen können, weil sie alles kaputt machen, weil sie geizig sind, aber das sind nur Vorurteile. Man kann die Leute nicht danach beurteilen, wie ihre Touristen sich benehmen. Das arabische Problem liegt woanders. Die verstehen sich untereinander nicht. Und warum verstehen sie sich nicht? Weil sie alle Mohammed oder Ali heißen. Das kann so nichts werden. Hallo Mohammed, wie geht’s? Gut, ich soll dich von Ali grüßen. Von welchem Ali? Von dem Bruder von Mohammed. Von welchem Mohammed? Na der, der neulich einen Sohn bekommen hat. Welcher von den beiden, der, der seinen Sohn Ali genannt hat, oder der, der seinen Sohn Mohammed genannt hat? Der, der ihn Mohammed genannt hat. Ach so, du meinst den Schwager von Ali. So reden die miteinander, glaub mir, so kann das nichts werden. Wenn die Araber sich verstehen würden, dann sähe die ganze Welt anders aus.

      Esra kommt ins Zimmer.

      Mohammed kann ich ja noch verstehen, sage ich, aber wieso Ali?

      Das war der Schwiegersohn, antwortet Isa.

      Wessen Schwiegersohn?

      Na, Mohammeds.

      Er lacht.

      Was machst du? fragt Esra. Füllst du seinen Kopf mit Scheiße? Lass den armen Jungen doch in Ruhe.

      Sie wendet sich an mich.

      Nimm nichts ernst, was Isa sagt, er redet alles schlecht, in seiner Brust ist kein Funken Hoffnung.

      Definier mal Hoffnung, entgegnet Isa, in einem Land, in dem die Kinder Klebstoff schnüffeln, weil er das Einzige ist, was ihnen Halt gibt. Definier mal Hoffnung in einem Land, in dem der Berater des Präsidenten live im Fernsehen sagt: Vergessen wir mal die Politik, die gesellschaftlichen Ereignisse, das ganze Tagesgeschäft, ich möchte Ihnen etwas sagen, wovon ich als Mensch, ich betone, als Mensch, überzeugt bin: Es gibt ausländische Kräfte, die Tag und Nacht daran arbeiten, unseren Präsidenten per Telekinese außer Gefecht zu setzen. Sie wollen ihn lähmen, sie wollen ihn paralysieren, sie wollen ihn handlungsunfähig machen, aber der Präsident steht seinen Mann, er lässt sich nicht unterkriegen.

      Er sieht mich an.

      Das ist wirklich passiert, sagt er. Satire ist nicht mehr möglich in diesem Land. Und ohne Satire gibt es auch keine Hoffnung. Leute wie Esra und Yunus versuchen deinen Kopf mit Scheiße zu füllen, nicht ich. Das sind die Nachwirkungen vom Tränengas, denen sind die ganzen Tränen ins Gehirn gesickert und jetzt stauen sich die Gedanken und sie glauben, das heißt, es würde irgendwann ein Damm brechen, und dann würde Demokratie dieses Land überfluten.

      Isa liegt auf dem Sofa, während er das sagt. Esra lächelt ihn an und schüttelt den Kopf auf eine Weise, als wollte sie sagen, dass er noch ein Kind ist.

      Wir schneiden gerade einen Film, wendet sie sich an mich, über die Proteste letztes Jahr. Willst du mal schauen? Dann siehst du, was die Menschen hier bewegt. Isa liegt eh nur auf dem Sofa. Dass er innerhalb von einer Woche in İzmir und in Bursa war, grenzt an ein Wunder.

      Luft, sagt Isa, die bewegen nur Luft. Weil sie atmen. Das halten sie dann für revolutionär.

      Ich gehe mit Esra. Yunus sitzt in seinem Zimmer vor dem Rechner und hat diesen konzentrierten Ausdruck, den er immer hat, wenn er dort sitzt, egal ob er spielt, ob er chattet, ob er programmiert oder im Internet surft. Yunus sitzt vor dem Rechner, wie er immer vor dem Rechner sitzt, aber die Bilder, die er mir zeigt, kenne ich noch nicht.

      Ich habe letztes Jahr viele Clips im Internet gesehen (Tausende Clips), die meisten Bilder kennt man irgendwann, doch Esra und Yunus haben Sequenzen im Intro ihres Films, die ich noch nie gesehen habe. Man sieht, wie Vermummte Graffiti sprühen, wie Menschen vor lauter Tränengas keine Luft mehr bekommen, ich sehe, wie Katzen und Hunde auf das Gas reagieren, ich sehe, wie Menschen auf der İstiklal gemeinsam das Fasten brechen, ich sehe, wie Tränengaspatronen zurückgeworfen oder in Kanister gesteckt werden, ich höre einen Mann auf einer Veranstaltung vor Tausenden Menschen mit heiserer Stimme brüllen.

      Ist das Erdoğan? frage ich.

      Ja, lacht Esra, das ist Recep Tayyip.

      Der sieht ganz anders aus, viel heller und weniger freundlich.

      Dann kommt ein schwungvoller Schriftzug, GPB, dann steht da Gezi Parkı Belgeselı, Untertitel werden eingeblendet: Gezi Park Documentary.

      Die ersten paar Minuten erzählen von den Anfängen der Proteste, es sind noch wenige Menschen, die versuchen, einen Bulldozer zu stoppen, der erste Bäume im Park entwurzelt. Wenn man die späteren Bilder kennt, wirkt alles harmlos und klein. Dann sieht man die Frau in dem roten Kleid, wie sie von einem Polizisten mit Tränengas besprüht wird, dieses Bild, das überall im Netz war. Doch die Gewalt eskaliert erst danach, als die Polizei den Park zum zweiten Mal gewaltsam räumt.

      Es wird eine Schrift eingeblendet: Die drei Aggregatzustände der staatlichen Gewalt.

      Als Nächstes kann man lesen: Fest. Man sieht Polizisten mit Knüppeln auf Demonstranten einprügeln und Zelte zerstören.

      Flüssig. Die Aufnahme eines Menschen, der allein mit gewölbter Brust vor einem Wasserwerfer steht, bevor der Strahl ihn meterweit nach hinten schleudert.

      Gasförmig. Ich sehe die schweren Tränengasschwaden, doch sie wirken wie Disconebel, weil man darin Menschen mit Gasmasken tanzen sieht. Einer hat ein Derwisch-Kostüm an und dreht sich auch wie ein Derwisch.

      Das ist ein Derwisch, sagt Esra, das ist kein Kostüm.

      Der Derwisch bleibt abrupt stehen und verbeugt sich in Richtung der Polizei, die weitere Tränengasgranaten abfeuert.

      Man sieht einen Polizeiwagen, auf dem steht: Halk İçin Emniyet, Adalet İçin Hizmet, Sicherheit für das Volk im Dienst der Gerechtigkeit. Dann wird zu einem Polizeiwagen übergeblendet, bei dem jemand die Schrift teilweise übermalt hat: Halk İçin Eziyet, AKP İçin Hizmet steht auf diesem. Qualen für das Volk im Dienste der AKP.

      Weiter sind wir noch nicht, sagt Yunus, das ist so ungefähr das erste Viertel oder Fünftel. Der Rest ist noch im Rohschnitt. Das hier wird die nächste Szene.

      Ich habe auf YouTube bereits gesehen, wie Beşiktaş-Fans mit einem geklauten Bagger einen Wasserwerfer in die Flucht schlagen, aber das waren ganz schlechte Aufnahmen, die hier sind viel besser.

      Woher habt ihr das?

      Ich bin ja selber Beşiktaş-Anhänger, sagt Yunus. Ich kenne ein paar Leute von Çarşı.

      Çarşı heißt Markt und Esra versteht wohl, warum ich so komisch gucke. Sie lächelt.

      Çarşı ist der Fanclub von Beşiktaş, sagt sie, die sind ziemlich bekannt. Sie haben den Demonstranten geholfen, sie kennen sich aus mit der Polizei.

      Du interessierst dich nicht für Fußball, sagt Yunus, während er etwas auf der Tastatur tippt.

      Nein.

      Wer sich für Fußball interessiert, kennt Çarşı, die haben einen internationalen Ruf. Schau hier: 2007 gegen Liverpool, das ist Çarşı.

      Man sieht die Fans und hört sie singen, die Kraft ist überwältigend. Es ist wie beim Film vorhin, ich fühle mich, als sei ich bis zur Unterkante der Schädeldecke angefüllt mit Energie und Freude.

      Sind das meine Wurzeln, dass ich bewegt bin, als könnte ich alle meine Blätter schütteln? Sind das meine Wurzeln, dass ich sofort wieder an Laura denke und mich ein Schmerz packt? Sind das meine Wurzeln und wachsen die Bäume besser, wenn man sie mit Tränengas gießt? Sind das meine Wurzeln, dass sich die Haare auf meinen Armen aufrichten, als wollten sie sich einer Ungerechtigkeit entgegenrecken? Habe ich zu viele Gedichte gelesen in diesem Buch? Was macht mein Kopf nur, wenn ich ihn alleine lasse?

      Wir können kein Deutsch, sagt Esra.

      Habe ich etwas gesagt?

      Die beiden sehen sich an, lächeln und dann lächeln sie mich an, während Yunus nickt.

      Was