wenn wir uns nicht mal an Fasching verkleiden dürften, wie wir wollen, meine Mutter hat geschrien, dass er nicht verstehe, was ein fester Rahmen sei, in dem sich Kinder sicher fühlten, mein Vater hat die Fernbedienung gegen den Bildschirm geschmissen und gebrüllt, dass auch mal Schluss sein müsse, und meine Mutter hat gesagt, sie kaufe sich ein Megafon, wenn es hier darum gehe, wer lauter sei.
Und später durfte ich mich nicht als Indianerzwerg verkleiden, weil es bei den Indianern keine Zwerge gab, wie meine Mutter gesagt hat. Bei den Cowboys auch nicht. Und bei den Piraten erst recht nicht.
Der Unterschied zwischen einem Kind und einem Zwerg ist ja das Alter, sagte mein Vater, wie soll er sich denn verkleiden als jemand, der älter ist? Das ist doch widersinnig.
Das heißt, du kennst gar keine Nationalhymnen, weil du immer einschläfst? fragt Esra nun.
Richtig, sage ich.
Das ist ja toll, sagt sie. Du bist echt ein interessanter Mensch.
Die Hälfte der Leute ist betrunken, die andere Hälfte ist auf Drogen und jetzt ist es doch so, als hätte ich ein Kontakt-High.
Bevor ich ins Bett gehe, klappe ich noch mal den Rechner auf, doch es gibt kein Internet. Ich klappe ihn wieder zu und lege mich hin.
Neuntes Kapitel, in dem Isa von einem Stromausfall erzählt, Emre das Reinheitsgebot nicht versteht und Gott nicht arbeiten geht
Am nächsten Morgen gibt es immer noch kein Internet und ich gehe zu Isa, der auf dem Sofa liegt und fernsieht.
Ach, sagt er, das kann passieren, probier es in ein paar Minuten wieder.
Es ging gestern Nacht schon nicht.
Er steht auf und geht zum Router.
Es ist nur das Internet, sagt er. Früher sind Strom und Wasser ausgefallen. Früher konnte sogar so jemand wie ich Stromausfälle verursachen. Setz dich, ich erzähle dir eine Geschichte. So von Mensch zu Mensch, ohne das Internet dazwischen. Dieses Internet hat so viel aus uns gemacht, mit Facebook sind alle zu Freunden geworden, mit Twitter sind alle zu Poeten und Pointenschlampen geworden, mit Instagram waren dann alle auf einmal Fotografen.
Er setzt sich wieder auf das Sofa, den Fernseher lässt er in der gleichen Lautstärke weiterlaufen.
Ich war 15, wir waren im Urlaub am Meer, fängt er an, ich war mit ein paar Freunden abends auf dem Jahrmarkt, wo es eine von diesen Maschinen gab, wo man gegenboxen kann, und die sagt dir dann, wie stark du bist. Wir waren jung, wir hatten Bier getrunken, wir hielten uns für die Größten. Ich war damals noch viel dünner als jetzt, aber fast genauso groß, und ich war stark. Ich habe als Letzter geschlagen. Ich wollte alle meine Freunde übertreffen. Ich habe ein paar Schritte Anlauf genommen, obwohl man das nicht durfte. Weil ich so groß bin, habe ich die Schlagfläche nicht richtig getroffen. Ich bin abgerutscht und mit der Faust in die Glasscheibe der Anzeige gekracht. Und dann wurde es mit einem Mal stockduster. Nicht nur an diesem Stand, sondern auf der ganzen Kirmes. Bevor es Ärger geben konnte, sind wir in dem ganzen Durcheinander schnell abgehauen. Meine Hand hat geblutet und tierisch weh getan, aber ich konnte im Dunkeln nicht genau sehen, wie schlimm es war. Als wir vom Jahrmarkt runter waren, haben wir bemerkt, dass im ganzen Dorf kein Licht brannte. Wir saßen noch ein bisschen herum, aber meine Hand fing an zu pochen und ich wollte nach Hause. Dort erzählte mein Vater mir, dass irgend so ein halbstarker Vollidiot auf dem Jahrmarkt einen Kurzschluss verursacht habe und jetzt das ganze Dorf ohne Strom sei. Er fluchte, die Mutter, der Vater, die Schwester des Vollidioten, alle wurden aufs Übelste beleidigt. Meine Hand war mittlerweile geschwollen, aber ich schaffte es irgendwie, sie in die Hosentasche zu stecken, obwohl ich dachte, ich müsste sterben vor Schmerz. Als ich sie dann im Zimmer im Kerzenschein ansah, war sie auf fast das Doppelte angeschwollen. Es war halb vier in der Nacht, als ich es nicht mehr aushielt vor Schmerz. Mir war egal, ob der Alte mich verprügeln würde oder nicht, mir war alles egal, ich wollte nur noch, dass dieser Schmerz nachließ. Ich weckte meine Mutter und erzählte ihr, was passiert war. Mein Vater hat mich dann ins Krankenhaus gefahren. Die Hand war gebrochen. Der Gips war schon wochenlang ab, als er wieder mit mir gesprochen hat. Schau, der Mittelfinger ist seitdem nicht mehr ganz gerade.
Er hält die Hand hoch, er hat eine deutliche Narbe auf der Mitte des Handrückens und tatsächlich ist der Mittelfinger ein wenig schief. Er klappt die übrigen Finger ein und lächelt.
Die Leute vergessen so schnell, sagt er. Heute weiß keiner mehr, wie man ohne Internet mit Mädels anbändelt. Ganze Nationen würden aussterben, wenn es kein Internet gäbe. Geh raus, mach draußen was.
Du gehst auch nie raus.
Ich plane eine Stadt. Das ist eine schwere Aufgabe.
Er wirft einen Blick auf den Router. Das Internet geht übrigens wieder, sagt er.
Ich hole den Rechner, klappe ihn auf, doch noch bevor alle Mails reingelaufen sind, ruft Emre an. Er sieht Isa im Hintergrund auf dem Sofa liegen und sagt dann: Vor dem da hinten hätte ich dich eigentlich warnen sollen. Der ist zu faul, die Augen zuzumachen, wenn er müde ist. Eigentlich müsste der nach Deutschland kommen, dann bräuchte er nicht mehr rauszugehen, er könnte sich alles im Internet bestellen.
Gehst du denn viel raus?
Ja, ich trinke fast jeden Abend Bier draußen. Es ist nicht teuer und es schmeckt gut. Aber ich verstehe diese Sache mit dem Reinheitsgebot nicht.
Das kann ja sogar ich dir sagen. Wasser, Hopfen, Hefe und Gerste, seit 1516, mehr ist in dem Bier nicht drin. Deshalb ist es bekannt in der ganzen Welt, weil es so gut ist.
Ja, sagt Emre, aber was war denn vor 1516 da alles drin? Hatten die damals Geschmacksverstärker, Konservierungsstoffe, künstliche Aromen, Lebensmittelfarbe, Süßstoffe, Antioxidantien, Schaumstabilisierer? War Deutschland damals bekannt als das Land, wo es schlechtes Bier gab, weil sie alles reinpantschten, was sie finden konnten? Waren da Hühnerfüße drin und Schweineköpfe? Alle laufen hier herum und sind stolz auf ihr gutes Bier, aber keiner kann mir erklären, warum die damals die Notwendigkeit gesehen haben, ein Reinheitsgebot zu erlassen.
Du hast recht, sage ich. Frag Hase mal. Der kennt sich gut aus in solchen Dingen. Warst du schon bei ihm?
Nein, noch nicht.
Er wollte dich gerne kennenlernen. Geh einfach mal vorbei. Der freut sich.
Und du, was treibst du so?
Ich habe Aya Triada zu Ende gebaut und dann wieder auseinandergenommen. Jetzt arbeite ich gerade an Sultan Ahmet.
Ganz schön religiös bist du unterwegs. Aber die Deutschen hier haben es auch mit Gott. Die glauben nicht an ihn, aber sie reden oft darüber. Ich habe im White Rabbit eine Frau kennengelernt, Daniela, die hat mir erzählt, dass sie gerade aus der Kirche austritt, damit sie keine Kirchensteuer mehr zahlen muss.
Ja, meine Mutter ist auch aus der Kirche ausgetreten, noch bevor sie nach Indien gefahren ist.
Was soll das denn sein, Kirchensteuer? Kann Gott nicht arbeiten gehen, wenn er Geld braucht? Die Menschen hier sollen bezahlen dafür, dass sie an Gott glauben. Eine Art Glaubensgebühr. Das ist ja so ähnlich wie diese Rundfunkgebühr, von der hat Daniela auch erzählt. Die bezahlt einfach jeder Haushalt, ob man einen Fernseher hat oder nicht, ist das richtig?
Ja.
Das heißt, du bist einfach Mitglied im Verein der Fernsehzuschauer, musst Gebühren zahlen und kannst nicht kündigen. Es sei denn, du bist obdachlos. Da ist die Kirche ja besser, da kann man wenigstens noch austreten. Gott kannst du verlassen, doch den Fernseher nicht. Aber wenn du Gott verlässt, kann dein Arbeitgeber dir kündigen, wenn es eine kirchliche Organisation ist, sagt Daniela. Die tun hier immer so, als hätten sie die Religion überwunden, aber das stimmt wohl nicht. Aber es ist gut, dass man Zwangsmitglied im Verein der Zuschauer ist, denn wenn man Gott verlassen und deswegen seinen Job verloren hat, dann hat man viel Zeit, um fernzusehen. In der Türkei glauben wir ja, dass alles in Deutschland seine Ordnung hat. Aber wir wissen nicht, dass diese Ordnung genauso wenig Logik hat wie unser Chaos.
Wieso Chaos, sage ich, hier brennt die Weihnachtsbeleuchtung das ganze Jahr über. Das ist doch eine klare Regel.
Zehntes Kapitel, in dem