dick oder still und jedes hatte ein Tamagotchi, nur ich nicht.
Hier sind mehr Kinder, sie haben iPads oder Smartphones, hier sind mehr junge Eltern, es ist voll und alle scheinen sich zu amüsieren. Ich gehe ein wenig herum, und noch bevor ich jemanden ansprechen kann, fragt mich eine Dame auf Türkisch, was ich denn hier mache.
Ich bin neu in Istanbul, sage ich auf Deutsch, ich war neugierig, wie es hier wohl ist. Und was machen Sie hier?
Ich bin Vorsitzende der Brücke, sagt sie.
Der Bosporus-Brücke?
Nein, des Vereins. Kennen Sie den noch nicht? Wir wollen ein Bindeglied zwischen den Ländern, Menschen, Kulturen und Sprachen schaffen, deshalb der Name Brücke.
Ah, sage ich, ich verstehe. Wie lange sind Sie denn schon hier?
44 Jahre, sagte sie, im Oktober werden es 44 Jahre. Eine lange Zeit, um immer zwischen zwei Kulturen zu leben.
Sie können gut Deutsch, sage ich.
Das verlernt man nicht so schnell, erwidert sie. Und wissen Sie schon, wie lange Sie bleiben möchten?
So ungefähr ein halbes Jahr.
Was machen Sie denn hier?
Ich bin auf der Suche nach meinen Wurzeln.
Es gibt keine Wurzeln, sagt sie, das Leben ist für uns eine Brücke, auf der man die ganze Zeit hin- und herfährt, bis man keinen Sprit mehr hat. Man kommt nicht an.
Ich hatte nie das Gefühl, irgendwo hin- und herzufahren. Und einen Führerschein habe ich auch nicht.
Aber ich will wissen, was unter der Brücke ist, sage ich.
Obdachlose, sagt sie, unter der Brücke sind immer nur Obdachlose, die keine Heimat mehr haben, die runtergefallen sind. Wir, wir fahren zum Glück noch, sagt sie und nimmt noch einen Schluck von ihrem Sekt.
Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus, flog durch die stillen Lande, als flöge sie nach Haus, sagt meine Mutter immer. Ich möchte noch fragen, wie das dann wäre, wenn man mit der Fähre auf die andere Seite fährt oder fliegt, statt über die Brücke zu gehen, doch sie winkt jemandem, den sie wohl kennt, sagt Moment und verschwindet in der Menge.
Bald darauf setze ich mich mit einem Stück Schokokuchen vom Buffet und einem Kaffee an einen Tisch. Ich höre zu, wie ein Lehrer sich mit einer zukünftigen Kollegin unterhält, die noch neu in Istanbul ist und im neuen Schuljahr an der Deutschen Schule anfängt. Er schwärmt von seiner Wohnung in Cihangir mit Blick auf das Goldene Horn. Sie erzählt von dem ganzen Papierkram, den sie für ihre Aufenthaltsberechtigung zu erledigen hatte.
Ich weiß, sagt der Mann, ich habe das alles letztes Jahr schon hinter mich gebracht. Nie sind alle Papiere komplett, es fehlt immer noch irgendeine notarielle Beglaubigung, ohne Steuernummer gibt es keine Krankenversicherungsnummer, ohne Krankenversicherungsnummer keine Steuernummer, es ist mühselig. Und mit Englisch kommt man nicht weit.
Ja, sagt die Frau, es ist das Ausländeramt, aber niemand dort kann irgendeine Fremdsprache.
Das gehört sich so für ein Ausländeramt, sage ich. Meine Mutter hat mich früher regelmäßig mit irgendwelchen Leuten aufs Amt geschickt, damit ich für sie übersetze. Das war ihr wichtig, dafür durfte ich sogar Schule schwänzen.
Wir bekommen ja jemanden von der Schule gestellt, sagt die Frau, sonst wäre das unmöglich, diese Aufenthaltsberechtigung zu bekommen.
Für was für Leute haben Sie denn übersetzt? fragt der Mann.
Flüchtlinge, sage ich, Asylanten, von Abschiebung Bedrohte, welche mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus. Meine Mutter war ja ehrenamtlich bei FFB.
FBB?
Eine Flüchtlingsorganisation.
Deutsche Flüchtlinge?
Nein, Türken.
Sie haben für Türken übersetzt? Aber die können doch schon Türkisch.
Ja, Türken können Türkisch. Aber bei der Ausländerbehörde arbeiten ja nur Deutsche.
Bei welcher Ausländerbehörde? Wo sind Sie denn bitte gewesen?
In Freiburg.
Ach so … Jetzt verstehe ich.
Ach so. Emre hatte gesagt, ich soll darauf achten. Ach so.
Weder der Schokokuchen noch der Kaffee schmecken, also lasse ich beides stehen und kaufe später auf dem Heimweg im Supermarkt eine Tafel dunkle Schokolade. Eine andere Marke als letztes Mal. Doch die schmeckt auch nicht. Überhaupt nicht. Warum gibt es hier dunkle Schokolade, wenn sie nicht schmeckt? Die Schokolade schmeckt schlimmer als Cadbury. Wieso kaufen die Leute das? Oder weiß hier jeder Bescheid und die Schokolade steht nur im Regal, damit Leute wie ich sie kaufen? Leute, die sich mit der heimischen Schokolade nicht auskennen? Ich verstehe es nicht.
Ich verstehe vieles noch nicht. Als ich nach Hause komme, sitzt Yunus vor der Konsole und spielt GTA.
Yunus, was ist eigentlich Hirschplauderei? frage ich ihn.
So sagen wir für leeres Gelaber ohne Inhalt, antwortet er.
Ach so, sage ich. Und was bedeutet kefen?
Leichenhemd.
Aha.
Das sagt der Verkäufer am Kiosk unten immer, wenn ich etwas kaufe, kefene bereket. Ich wusste, etwas wurde gesegnet, aber nicht was. Segen deinem Leichenhemd. Das sagen sie wahrscheinlich, damit man sein Geld ausgibt, bevor man tot ist. Vielleicht ist dafür die Schokolade da. Nicht, damit man sie isst, sondern damit man eine Gelegenheit hat, Geld auszugeben.
Der Chor der Einäugigen stellt sich vor und erzählt die Geschichte, wie ein Teppichhändler über den Tisch gezogen und ein Esel verkauft wird
Schamlos, wie ihr seid, werdet ihr wissen wollen, was denn der Chor der Einäugigen hier soll. Was hat er zu tun mit Krishna Mustafa und was mit unserer Geschichte, die im Pudding Shop ihren Anfang nahm?
Ihr werdet großen Nutzen aus dem Chor ziehen, auch wenn der Einäugige nicht König ist im Land der Blinden, wie gerne behauptet wird. Im Land der Blinden ist der Einäugige der Einzige, der sich nicht im Dunkeln zurechtfindet. Er ist derjenige, der sich am Tisch stößt, an der Tür, derjenige, der den Weg nicht findet, derjenige, der nach Licht fragt, wenn alle anderen keines brauchen. Der Einäugige ist eine bemitleidenswerte Figur im Land der Blinden, weil er ihnen nichts erzählen kann, das von Wert wäre in ihrer Welt. Er ist derjenige, der sich im Dunkeln beim Kochen in die Finger schneidet und stolz darauf ist, dass er Tag und Nacht unterscheiden kann.
Doch der Chor der Einäugigen, liebe Leser, wird euch großen Gewinn bringen, denn er kennt Geschichten. Liebesgeschichten, Gruselgeschichten, Biografien, Fabeln, Märchen, Parabeln, Allegorien und Keinegorien. Die Geschichten des Chors sind wahre Geschichten. Dafür bürgen wir mit unseren Stimmen. Wahre Geschichten wie die folgende, in der ein Amerikaner, ein Türke und ein Esel die Hauptrollen spielen:
Der Amerikaner war ein Experte auf dem Gebiet des Orientteppichs, einer, der schon mehrere Bücher darüber veröffentlicht hatte. Er kam in die Türkei und wohnte bei einem befreundeten einäugigen Türken in Istanbul. Tagsüber zog er allein in die Stadt und abends kam er heim und hatte Teppiche gekauft. Stolz zeigte er sie dem Einäugigen und sagte: Dieser hier ist 12.000 Dollar wert, aber ich habe ihn für 4.000 gekauft. Dieser hier ist 800 Dollar wert, aber ich habe nur 300 dafür bezahlt. Diesen hier kann ich zu Hause für 2.000 verkaufen, aber ich habe den Händler immerhin auf 1.400 runtergehandelt.
Als der Einäugige wissen wollte, wie der Amerikaner das machte, die Teppiche so günstig zu kaufen, sagte dieser nur: Ich habe da so meine Tricks.
Nun ergab es sich, dass der Amerikaner ins Landesinnere fahren wollte, in ein Dorf, das vor einigen Jahren berühmt geworden war, weil man Ruinen in seiner Nähe gefunden hatte. Der Amerikaner interessierte sich für Dinge, die so alt waren, dass niemand mehr wusste, wem sie gehört hatten. So ähnlich, wie sich die Menschen für Jesus interessieren, obwohl sie ihn nicht gekannt haben. Und ihr Vater ihn nicht gekannt hat. Und ihr Großvater ihn auch nicht gekannt hat. Und ihr Großvater