sitzen zusammen und ich sehe Yunus und Esra zu, wie sie die nächsten Schnitte machen, Szenen hin- und herschieben, kürzen, verlängern, aufblenden, abblenden. Ich sehe Bilder von Graffiti, Bilder vom Gezi-Park in den Tagen, in denen es dort für alle Essen und Trinken umsonst gab, ich sehe Fußballfans aller drei Istanbuler Vereine zusammen skandieren: Komm, sprüh doch, komm, sprüh doch, komm, sprüh doch Pfefferspray, zieh den Helm aus, lass den Stock los und lerne wie ein Mann zu stehen.
Ich sehe die Bilder und es fühlt sich an, als könnte man Aufregung durch die Augen inhalieren.
Als es schon dämmert, schlagen die beiden vor, Schluss zu machen und auszugehen, in eine Bar mit Livemusik.
Etwas später sitze ich mit Esra und Yunus an einem Tisch, auf der winzigen Bühne begleitet sich ein Mann auf der Saz und singt dazu traurige Lieder, die von Trennung handeln, von der Fremde und vom Schmerz. Er singt, als wüsste er, was mit Laura und mir passiert ist, er singt, als wollte er mir eine Stimme geben, und ich überlege, Laura anzurufen und dann nichts zu sagen, sondern nur das Telefon in Richtung Boxen zu halten. Ich drehe den Kopf und sehe nach draußen, weil ich so ein Gefühl habe, als wollte ein Engel aus meinen Augen rauspinkeln.
Auf der Straße sehe ich Nesrin. Ich springe auf, laufe raus und versperre ihr den Weg.
Hallo, ich wollte kein Hirschgelaber machen, sage ich. Du erinnerst dich an mich, wir haben uns vor ein paar Tagen vor dem Pudding Shop gesehen. Ich hatte wirklich Dreadlocks. Isa, mein anderer Mitbewohner, ist leider nicht dabei, der könnte dir das bestätigen. Was machst du hier? Bist du auch mit Freunden unterwegs?
Nesrin sieht mich an, sie guckt nicht so böse wie letztes Mal, warum sollte sie auch. Sie sieht mich an, schüttelt den Kopf und geht einfach weiter.
Hey, warte, rufe ich ihr hinterher, aber sie reagiert nicht.
Wenigstens habe ich ein paar Momente lang nicht an Laura gedacht. Ich gehe wieder rein.
Später gehen Yunus, Esra und ich noch in zwei andere Bars. Ausgehen in Istanbul ist anders, es ist laut nachts auf der İstiklal, viel lauter als tagsüber. Tagsüber habe ich gar nicht bemerkt, dass in den oberen Etagen der Häuser Clubs sind. Die haben jetzt ihre Musik aufgedreht, es schallt über die ganze Straße und mitten in der Nacht ist es hier immer noch so voll wie tagsüber, wenn die Geschäfte auf haben. Das liegt vielleicht auch an der Weihnachtsbeleuchtung. Und daran, dass man sein Geld ausgeben soll, bevor man tot ist.
Schließlich stehen wir mitten auf der İstiklal vor einem der Starbucks und wollen langsam nach Hause gehen.
Das Leben ist doch schön, mein Bruder, sagt Esra.
Yunus bleibt stehen, schließt die Augen und sagt: Ich höre Istanbul mit geschlossenen Augen, ich höre die Flüche, die Gesänge, die Lieder, die Plaudereien.
Ich sehe Esra an, ich sehe Yunus an, ich sehe die vielen Menschen, die an uns vorbeigehen. Die einen sind betrunken, die anderen sind auf Drogen. Meistens bin ich lustig, wenn es so ist. Du hast es gut, sagt Hase immer, du wirst schon vom Kontakt high. Die ersten Male habe ich immer verstanden: Du bist schon ein Kontakthai, und gedacht, ein Kontakthai sei jemand wie ich, der viel mit Menschen redet.
Ich verstehe dieses High-Sein nicht. Wenn man vorher nicht lustig ist, kann man auch hinterher nicht lustig sein. Und wenn man vorher und hinterher nicht lustig ist, was soll das dann für eine komische Mitte sein, in die man Bier hineinfüllt und Joints und Pillen? Ich verstehe nicht, wieso sich die Leute immer anders fühlen wollen, als sie sich fühlen. Aber ohne sie wäre Hase ja arbeitslos.
Wir können immer noch kein Deutsch, sagt Esra wieder, was hast du gerade gesagt?
Auch andere Muttersprachen haben schöne Wörter, sage ich.
Die einen sind betrunken, die anderen sind auf Drogen, meistens bin ich lustig, wenn es so ist. Doch heute ist niemand glücklich und ich denke an Laura, an das Lachen und an den Liebeskummer. Ich schlafe ein.
Achtes Kapitel, in dem wir keine Nationalhymne hören, von Krishna Mustafas Krankheit erfahren und das Internet nicht geht
Ich wache auf. Nicht weil Yunus mir Ohrfeigen gibt, denn Ohrfeigen helfen nicht. Wie viele Male bin ich schon geohrfeigt worden (Tausende Male), damit ich aufwache, und alle glauben immer, sie hätten das Richtige getan, denn am Ende bin ich ja wach. So wie der Prinz Dornröschen küsst und glaubt, sie würde deswegen aufwachen. Aber in Wirklichkeit wacht sie ja auf, weil die hundert Jahre rum sind. Man wacht immer auf, solange man nicht tot ist. Die Leute könnten beten, statt mich zu schlagen, dann würde ich auch wach werden. Beten oder Ohrfeigen, das macht in meinem Fall keinen Unterscheid. Ich werde wach, weil die Hymne zu Ende ist.
Geht es dir gut? fragt Esra.
Ich nicke.
Was ist passiert? will Yunus wissen.
Ich bin eingeschlafen.
Von jetzt auf gleich? Im Stehen eingeschlafen und einfach umgefallen?
Habt ihr doch gesehen.
Passiert das öfter?
Ja. Ich habe Hymnosomnie.
Hymnosomnie?
Ich stehe auf. Ja, das ist eine sehr seltene Krankheit. Man schläft ein, wenn eine Nationalhymne erklingt.
Die beiden sehen mich an.
Wirklich, sage ich.
War das ihre Hymne, was die Russen da hinten vorhin gesungen haben? fragt Esra.
Yunus legt kurz die Stirn in Falten, grinst dann und fängt an zu singen.
Als ich aufwache, schreit Esra ihn an, er solle aufhören.
So ist das immer. Zuerst bekomme ich Ohrfeigen, dann glauben die Leute mir nicht. Und fangen an zu singen. Ich höre immer nur die ersten zwei oder drei Töne. Hase hat mal einen ganzen Nachmittag damit verbracht, immer wieder abseitige Nationalhymnen in die Playlist zu schmuggeln, die gerade lief, weil er es nicht glauben konnte. Ich schlief wohl auch ein bei Hymnen, die ich mit Sicherheit vorher nie gehört hatte, Liechtenstein, Laos, Puerto Rico, Belize, Bangladesch, Zaire, Tonga, Bahrain. Sagte Hase. Ich habe versucht, ihm zu erklären, dass ich die Hymnen von Deutschland, Frankreich, England und den USA auch noch nie gehört habe, weil ich ja immer einschlafe. Manchmal ist sogar Hase dumm. Er rauchte eine Bong nach der anderen und jedes Mal, wenn ich aufwachte (Tausende Male), lag er am Boden und krümmte sich vor Lachen.
Laura glaubt, da würde eine Phobie dahinterstecken, ich müsste tief in mich gehen und nach den Gründen für diese Krankheit suchen.
Und dann? habe ich sie gefragt.
Dann kannst du geheilt werden.
Aber das ist doch eine tolle Krankheit, ich will gar nicht geheilt werden. Ich finde es toll, Nationalhymnen auf meinem MP3-Player zu haben. So kann ich im Bus, im Flugzeug, im Zug, bei Baulärm und Presslufthammer, sogar mitten auf Partys immer so lange schlafen, wie ich möchte.
Aber du kennst keine einzige Nationalhymne.
Ja, und?
Laura hat die Augen verdreht. Das war ein paar Wochen, bevor sie mir gesagt hat, ich hätte meine Identität noch nicht gefunden.
Er hätte gar nicht in der Türkei in die Schule gehen können, sagte meine Mutter zu meinem Vater, der es falsch fand, dass wir in Deutschland lebten und ich in die Waldorfschule ging. Er wäre jeden Montagmorgen bei der Nationalhymne eingeschlafen, die anderen hätten ihn gehänselt, wer weiß, ob die Ärzte das als Krankheit akzeptiert hätten. Er wäre vielleicht sogar angezeigt worden wegen Artikel 301.
Artikel 301 besagt, dass man die Türkei nicht verunglimpfen darf, sonst kann man ins Gefängnis kommen. Meine Eltern haben sich viel gestritten, als wir in Deutschland waren, wegen Gesetzen, daran kann ich mich noch erinnern. Es ging um Völkermorde, um Armenier, um Juden, um Leugnen, aber ich habe als Kind schon nicht verstanden, warum sie sich um etwas stritten, das irgendwo geschrieben steht und mit uns nichts zu tun hat.
Ich weiß auch noch, wie sie sich zu Fasching gestritten haben, weil ich als Zwerg verkleidet in die Schule gehen sollte. Das war das Motto für die Faschingsfeier. Mein