Фридрих Вильгельм Ницше

Gesammelte Werke


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Fal­le ver­zich­ten, daß er den Tä­ter liebt: frei­lich büßt er so in des­sen Au­gen an Ehre ein und wird viel­leicht der Ge­gen­lie­be da­durch we­ni­ger wür­dig. Aber auch auf alle Ge­gen­lie­be Ver­zicht leis­ten ist ein Op­fer, wel­ches die Lie­be zu brin­gen be­reit ist, wenn sie dem ge­lieb­ten We­sen nur nicht we­he­tun muß: dies hie­ße sich sel­ber mehr we­he­tun, als je­nes Op­fer we­he­tut. – Also: je­der­mann wird sich rä­chen, er sei denn ehr­los oder voll Ver­ach­tung oder voll Lie­be ge­gen den Schä­di­ger und Be­lei­di­ger. Auch wenn er sich an die Ge­rich­te wen­det, so will er die Ra­che als pri­va­te Per­son: ne­ben­bei aber noch, als wei­ter­den­ken­der, vor­sorg­li­cher Mensch der Ge­sell­schaft, die Ra­che der Ge­sell­schaft an ei­nem, der sie nicht ehrt. So wird durch die ge­richt­li­che Stra­fe so­wohl die Pri­vat­eh­re als auch die Ge­sell­schaft­seh­re wie­der­her­ge­stellt: das heißt – Stra­fe ist Ra­che. – Es gibt in ihr un­zwei­fel­haft auch noch je­nes an­de­re zu­erst be­schrie­be­ne Ele­ment der Ra­che, in­so­fern durch sie die Ge­sell­schaft ih­rer Selbst-Er­hal­tung dient und der Not­wehr hal­ber einen Ge­gen­schlag führt. Die Stra­fe will das wei­te­re Schä­di­gen ver­hü­ten, sie will ab­schre­cken. Auf die­se Wei­se sind wirk­lich in der Stra­fe bei­de so ver­schie­de­ne Ele­men­te der Ra­che ver­knüpft, und dies mag viel­leicht am meis­ten da­hin wir­ken, jene er­wähn­te Be­griffs­ver­wir­rung zu un­ter­hal­ten, ver­mö­ge de­ren der ein­zel­ne, der sich rächt, ge­wöhn­lich nicht weiß, was er ei­gent­lich will.

      Die Tu­gen­den der Ein­bu­ße. – Als Mit­glie­der von Ge­sell­schaf­ten glau­ben wir ge­wis­se Tu­gen­den nicht aus­üben zu dür­fen, die uns als Pri­va­ten die größ­te Ehre und ei­ni­ges Ver­gnü­gen ma­chen, zum Bei­spiel Gna­de und Nach­sicht ge­gen Ver­feh­len­de al­ler Art – über­haupt jede Hand­lungs­wei­se, bei wel­cher der Vor­teil der Ge­sell­schaft durch un­se­re Tu­gend lei­den wür­de. Kein Rich­ter-Kol­le­gi­um darf sich vor sei­nem Ge­wis­sen er­lau­ben, gnä­dig zu sein dem Kö­nig als ei­nem ein­zel­nen hat man dies Vor­recht auf­be­hal­ten; man freut sich, wenn er Ge­brauch da­von macht, zum Be­wei­se, daß man gern gnä­dig sein möch­te, aber durch­aus nicht als Ge­sell­schaft. Die­se er­kennt so­mit nur die ihr vor­teil­haf­ten oder min­des­tens un­schäd­li­chen Tu­gen­den an (die ohne Ein­bu­ße oder gar mit Zin­sen ge­übt wer­den, zum Bei­spiel Ge­rech­tig­keit). Jene Tu­gen­den der Ein­bu­ße kön­nen dem­nach in der Ge­sell­schaft nicht ent­stan­den sein, da noch jetzt, in­ner­halb je­der kleins­ten sich bil­den­den Ge­sell­schaft der Wi­der­spruch ge­gen sie sich er­hebt. Es sind also Tu­gen­den un­ter Nicht-Gleich­ge­stell­ten, er­fun­den von dem Über­le­ge­nen, ein­zel­nen, es sind Herr­scher-Tu­gen­den, mit dem Hin­ter­ge­dan­ken: "ich bin mäch­tig ge­nug, um mir eine er­sicht­li­che Ein­bu­ße ge­fal­len zu las­sen, dies ist ein Be­weis mei­ner Macht" – also mit Stolz ver­wand­te Tu­gen­den.

      Ka­suis­tik des Vor­teils. – Es gäbe kei­ne Ka­suis­tik der Moral, wenn es kei­ne Ka­suis­tik des Vor­teils gäbe. Der frei­es­te und feins­te Ver­stand reicht oft nicht aus, zwi­schen zwei Din­gen so zu wäh­len, daß der grö­ße­re Vor­teil not­wen­dig bei sei­ner Wahl ist. In sol­chen Fäl­len wählt man, weil man wäh­len muß, und hat hin­ter­drein eine Art See­krank­heit der Emp­fin­dung.

      Zum Heuch­ler wer­den. – Je­der Bett­ler wird zum Heuch­ler; wie je­der, der aus ei­nem Man­gel, aus ei­nem Not­stand (sei dies ein per­sön­li­cher oder ein öf­fent­li­cher) sei­nen Be­ruf macht. – Der Bett­ler emp­fin­det den Man­gel lan­ge nicht so, als er ihn emp­fin­den ma­chen muß, wenn er vom Bet­teln le­ben will.

      Ei­ne Art Kul­tus der Lei­den­schaf­ten. – Ihr Düs­ter­lin­ge und phi­lo­so­phi­schen Blind­schlei­chen re­det, um den Cha­rak­ter des gan­zen Welt­we­sens an­zu­kla­gen, von dem furcht­ba­ren Cha­rak­ter der mensch­li­chen Lei­den­schaf­ten. Als ob über­all, wo es Lei­den­schaft ge­ge­ben hat, es auch Furcht­bar­keit ge­ge­ben hät­te! Als ob es im­mer­fort in der Welt die­se Art von Furcht­bar­keit ge­ben müß­te! – Durch eine Ver­nach­läs­si­gung im klei­nen, durch Man­gel an Selbst-Beo­b­ach­tung und Beo­b­ach­tung de­rer, wel­che er­zo­gen wer­den sol­len, habt ihr sel­ber erst die Lei­den­schaf­ten zu sol­chen Un­tie­ren an­wach­sen las­sen, daß euch jetzt schon beim Wor­te "Lei­den­schaft" Furcht be­fällt! Es stand bei euch und steht bei uns, den Lei­den­schaf­ten ih­ren furcht­ba­ren Cha­rak­ter zu neh­men und der­ma­ßen vor­zu­beu­gen, daß sie nicht zu ver­hee­ren­den Wild­was­sern wer­den. – Man soll sei­ne Ver­se­hen nicht zu ewi­gen Fa­ta­li­tä­ten auf­bla­sen; viel­mehr wol­len wir red­lich mit an der Auf­ga­be ar­bei­ten, die Lei­den­schaf­ten der Mensch­heit al­le­samt in Freu­den­schaf­ten um­zu­wan­deln.

      Ge­wis­sens­biß. – Der Ge­wis­sens­biß ist, wie der Biß des Hun­des ge­gen einen Stein, eine Dumm­heit.

      Ur­sprung der Rech­te. – Die Rech­te ge­hen zu­nächst auf Her­kom­men zu­rück, das Her­kom­men auf ein ein­ma­li­ges Ab­kom­men. Man war ir­gend­wann ein­mal bei­der­sei­tig mit den Fol­gen des ge­trof­fe­nen Ab­kom­mens zu­frie­den und wie­der­um zu trä­ge, um es förm­lich zu er­neu­ern; so leb­te man fort, wie wenn es im­mer er­neu­ert wor­den wäre, und all­mäh­lich, als die Ver­ges­sen­heit ihre Ne­bel über den Ur­sprung brei­te­te, glaub­te man einen hei­li­gen, un­ver­rück­ba­ren Zu­stand zu ha­ben, auf dem je­des Ge­schlecht wei­ter­bau­en müs­se. Das Her­kom­men war jetzt Zwang, auch wenn es den Nut­zen nicht mehr brach­te, des­sent­we­gen man ur­sprüng­lich das Ab­kom­men ge­macht hat­te. – Die Schwa­chen ha­ben hier ihre fes­te Burg zu al­len Zei­ten ge­fun­den: sie nei­gen da­hin, das ein­ma­li­ge Ab­kom­men, die Gna­de­n­er­wei­sung zu ver­ewi­gen.

      Die Be­deu­tung des Ver­ges­sens in der mo­ra­li­schen Emp­fin­dung. – Die­sel­ben Hand­lun­gen, wel­che in­ner­halb der ur­sprüng­li­chen Ge­sell­schaft zu­erst die Ab­sicht auf ge­mein­sa­men Nut­zen ein­gab, sind spä­ter von an­de­ren Ge­ne­ra­tio­nen auf an­de­re Mo­ti­ve hin ge­tan wor­den: aus Furcht oder Ehr­furcht vor de­nen, die sie for­der­ten und an­emp­fah­len, oder aus Ge­wohn­heit, weil man sie von Kind­heit an um sich hat­te tun se­hen, oder aus Wohl­wol­len, weil ihre Aus­übung über­all Freu­de und zu­stim­men­de Ge­sich­ter schuf, oder aus Ei­tel­keit, weil sie ge­lobt wur­den. Sol­che Hand­lun­gen, an de­nen das Grund­mo­tiv, das der Nütz­lich­keit, ver­ges­sen wor­den ist, hei­ßen dann mo­ra­li­sche: nicht etwa weil sie aus je­nen an­de­ren Mo­ti­ven, son­dern weil sie nicht aus be­wuß­ter Nütz­lich­keit ge­tan wer­den. – Wo­her die­ser Haß ge­gen den Nut­zen, der hier sicht­bar wird, wo sich al­les lo­bens­wer­te Han­deln ge­gen das Han­deln um des Nut­zens wil­len förm­lich ab­schließt? – Of­fen­bar hat die Ge­sell­schaft, der Herd al­ler Moral und al­ler Lob­sprü­che