– Der Türkenfatalismus hat den Grundfehler, daß er den Menschen und das Fatum als zwei geschiedene Dinge einander gegenüberstellt: der Mensch, sagt er, könne dem Fatum widerstreben, es zu vereiteln suchen, aber schließlich behalte es immer den Sieg, weshalb das vernünftigste sei, zu resignieren oder nach Belieben zu leben. In Wahrheit ist jeder Mensch selber ein Stück Fatum; wenn er in der angegebenen Weise dem Fatum zu widerstreben meint, so vollzieht sich eben darin auch das Fatum; der Kampf ist eine Einbildung, aber ebenso jene Resignation in das Fatum; alle diese Einbildungen sind im Fatum eingeschlossen. – Die Angst, welche die meisten vor der Lehre der Unfreiheit des Willens haben, ist die Angst vor dem Türkenfatalismus: sie meinen, der Mensch werde schwächlich resigniert und mit gefalteten Händen vor der Zukunft stehen, weil er an ihr nichts zu ändern vermöge: oder aber, er werde seiner vollen Launenhaftigkeit die Zügel schießen lassen, weil auch durch diese das einmal Bestimmte nicht schlimmer werden könne. Die Torheiten des Menschen sind ebenso ein Stück Fatum wie seine Klugheiten: auch jene Angst vor dem Glauben an das Fatum ist Fatum. Du selber, armer Ängstlicher, bist die unbezwingliche Moira, welche noch über den Göttern thront, für alles, was da kommt; du bist Segen oder Fluch und jedenfalls die Fessel, in welcher der Stärkste gebunden liegt; in dir ist alle Zukunft der Menschen-Welt vorherbestimmt, es hilft dir nichts, wenn dir vor dir selber graut.
62
Advokat des Teufels. – "Nur durch eigenen Schaden wird man klug, nur durch fremden Schaden wird man gut" so lautet jene seltsame Philosophie, welche alle Moralität aus dem Mitleiden und alle Intellektualität aus der Isolation des Menschen ableitet: damit ist sie unbewußt die Sachwalterin aller irdischen Schadhaftigkeit. Denn das Mitleiden hat das Leiden nötig und die Isolation die Verachtung der anderen.
63
Die moralischen Charaktermasken. – In den Zeiten, da die Charaktermasken der Stände für endgültig fest, gleich den Ständen selber gelten, werden die Moralisten verführt sein, auch die moralischen Charaktermasken für absolut zu halten und sie so zu zeichnen. So ist Molière als Zeitgenosse der Gesellschaft Ludwigs XIV. verständlich; in unserer Gesellschaft der Übergänge und Mittelstufen würde er als ein genialer Pedant erscheinen.
64
Die vornehmste Tugend. – In der ersten Ära des höheren Menschentums gilt die Tapferkeit als die vornehmste der Tugenden, in der zweiten die Gerechtigkeit, in der dritten die Mäßigung, in der vierten die Weisheit. In welcher Ära leben wir? In welcher lebst du?
65
Was vorher nötig ist. – Ein Mensch, der über seinen Jähzorn, seine Gall- und Rachsucht, seine Wollust nicht Meister werden will und es versucht, irgendworin sonst Meister zu werden, ist so dumm wie der Ackermann, der neben einem Wildbach seine Äcker anlegt, ohne sich gegen ihn zu schützen.
66
Was ist Wahrheit? – Schwarzert (Melanchthon): "Man predigt oft seinen Glauben, wenn man ihn gerade verloren hat und auf allen Gassen sucht, – und man predigt ihn dann nicht am schlechtesten!" – Luther: Du redest heut’ wahr wie ein Engel, Bruder! Schwarzert: "Aber es ist der Gedanke deiner Feinde, und sie machen auf dich die Nutzanwendung." – Luther: So wär’s eine Lüge aus des Teufels Hinterm.
67
Gewohnheit der Gegensätze. – Die allgemeine ungenaue Beobachtung sieht in der Natur überall Gegensätze (wie z. B. "warm und kalt"), wo keine Gegensätze, sondern nur Gradverschiedenheiten sind. Diese schlechte Gewohnheit hat uns verleitet, nun auch noch die innere Natur, die geistig-sittliche Welt, nach solchen Gegensätzen verstehen und zerlegen zu wollen. Unsäglich viel Schmerzhaftigkeit, Anmaßung, Härte, Entfremdung, Erkältung ist so in die menschliche Empfindung hineingekommen dadurch, daß man Gegensätze an Stelle der Übergänge zu sehen meinte.
68
Ob man vergeben könne?--Wie kann man ihnen überhaupt vergeben, wenn sie nicht wissen, was sie tun! Man hat gar nichts zu vergeben. –-Aber weiß ein Mensch jemals völlig, was er tut? Und wenn dies immer mindestens fraglich bleibt, so haben also die Menschen einander nie etwas zu vergeben, und Gnadeüben ist für den Vernünftigsten ein unmögliches Ding. Zu allerletzt: wenn die Übeltäter wirklich gewußt hätten, was sie taten – so würden wir doch nur dann ein Recht zur Vergebung haben, wenn wir ein Recht zur Beschuldigung und zur Strafe hätten. Dies aber haben wir nicht.
69
Habituelle Scham. – Warum empfinden wir Scham, wenn uns etwas Gutes und Auszeichnendes erwiesen wird, das wir, wie man sagt, "nicht verdient haben"? Es scheint uns dabei, daß wir uns in ein Gebiet eingedrängt haben, wo wir nicht hingehören, wo wir ausgeschlossen sein sollten, gleichsam in ein Heiliges oder Allerheiligstes, welches für unsern Fuß unbetretbar ist. Durch den Irrtum anderer sind wir doch hineingelangt: und nun überwältigt uns teils Furcht, teils Ehrfurcht, teils Überraschung, wir wissen nicht, ob wir fliehen, ob wir des gesegneten Augenblickes und seiner Gnaden-Vorteile genießen sollen. Bei aller Scham ist ein Mysterium, welches durch uns entweiht oder in der Gefahr der Entweihung zu sein scheint; alle Gnade erzeugt Scham. – Erwägt man aber, daß wir überhaupt niemals etwas "verdient haben", so wird, im Fall man dieser Ansicht innerhalb einer christlichen Gesamt-Betrachtung der Dinge sich hingibt, das Gefühl der Scham habituell: weil einem Solchen Gott fortwährend zu segnen und Gnade zu üben scheint. Abgesehen von dieser christlichen Auslegung wäre aber auch für den völlig gottlosen Weisen, der an der gründlichen Unverantwortlichkeit und Unverdienstlichkeit alles Wirkens und Wesens festhält, jener Zustand der habituellen Scham möglich: wenn man ihn behandelt, als ob er dies und jenes verdient habe, so scheint er sich in eine höhere Ordnung von Wesen eingedrängt zu haben, welche überhaupt etwas verdienen, welche frei sind und ihres eigenen Wollens und Könnens Verantwortung wirklich zu tragen vermögen. Wer zu ihm sagt "du hast es verdient", scheint ihm zuzurufen "du bist kein Mensch, sondern ein Gott".
70
Der ungeschickteste Erzieher. –