Vergangenheit des Menschengeschlechts gezogen; die Zukunft des Orients, die Aussichten jedweden europäischen Staates, die Bestimmung, die jedem einzelnen vom Schicksal gegeben ist, — das Alles liegt ihnen klar, wie keinem andern Volk vor Augen. Aber es ist traurig zu sagen, und doch wahr, ja seit langer Zeit bewährt — sie, die Alles zu wissen meinen, wissen Nichts von sich selbst; von des deutschen Volkes Beruf und Sendung, von seiner Stellung unter den europäischen Völkern, von seiner Zukunft weiß Niemand zu sagen. Und wie sollte es anders sein? Ist ja doch der Deutsche von französischen und englischen Zuständen oft besser unterrichtet, als von denen des eignen Vaterlandes; ist ihm doch das staatliche und politische Treiben andrer Völker klarer aufgeschlossen, als das Staatsleben des vielgegliederten Bundes? Darum verzichtet er, über sich selbst zu denken, und anstatt getroffen zu werden von der seltsamen Stellung, worein Deutschland durch das Geschick versetzt worden ist, und zu fragen, was sie bedeuten wolle, glaubt er sich geboren zu ewiger Ruhe, und sieht ruhig über seinem Haupte die Geschichte vorüberziehen, wie sie von andern Mächten gespielt wird, wie sie ihm (denn jenen andern hat es so beliebt) nicht mitzuspielen ziemt. Da haben sich denn in Europa einige allgemeine unbestimmte Begriffe über das deutsche Volk gebildet; es ist den Einen eine seltsame Völkerfamilie, in die Mitte von Europa gesetzt, um das Gleichgewicht zwischen romanischen und slavischen Weltmächten, nicht durch politische Kraft, sondern durch die Schwere seines Daseins zu erhalten, trefflich zur Assimilation und immer geeignet, wo es gilt, verunglückte Pläne der Vergrößerung durch Stücke seines eigenen Fleisches zu ergänzen; den Andern ein großes gebildetes Volk von Denkern, voll Geist und Wissen, geschaffen um zu denken, wo die Andern handeln, aber doch so verrostet in unpraktischem Studium, daß die Schätze des Geistes, die es aus den tiefen Schachten zu Tage fördert, gleich ungeschliffenen Edelsteinen, erst von Andern verständlich und zum Gemeingute Europas gemacht werden können; den Dritten ein sinnender, träumender Haufe voll gutmüthiger Pietät, versunken in Idealität, Poesie und Musik, und so ungeschickt für die Dinge dieser Welt, daß ihr politisches Leben, kümmerlich genährt von den Brocken, die von der Herren Tische fallen, niemals zur Mündigkeit gedeihen kann. Diese Vorstellungen, genährt, ja zuweilen verbreitet von deutschen Auswanderern, finden den Weg nach Deutschland, und weil sie von außen kommen, und weil überdieß all das auch zu klar am Tage liegt, so werden sie wohl auch geglaubt. Denn die Masse, allzuferne von den Reminiscenzen deutscher Herrlichkeit, und wenig begeistert von den neuen, folgt wie allenthalben dem Zuge, der von den höhern Klassen ausgeht; und der Mittelstand, d. h. die große Masse der Gebildeten, in denen der Kern des Volkes beruht, wird durch Verhältnisse und Umgebungen, hauptsächlich aber durch die Erziehung von einer höhern Ansicht der Dinge abgeschreckt. Nämlich von Allem, was den Geist und das Herz, wenn nicht zur Vaterlandsliebe (welche ja der aufgeklärten Mitwelt wenig mehr, als eine längst verschollene republikanische Thorheit ist), doch wenigstens zu irgend einem nationalen Gefühl antreiben kann, ist im öffentlichen Unterricht Nichts zu finden. Nicht nur, daß die Religion, welcher als Grundlage unserer ganzen Bildung die unmittelbarste Wirksamkeit zukommt, außer aller Beziehung zu den humanen Studien steht, während doch beide sich durchdringen und beleben sollten; daß die Geschichte fast überall entweder zu allgemein oder zu provinziell, nirgend in deutschem Sinne vorwiegend behandelt wird; sondern auch die antiken Sprachen selbst dienen lediglich zu logisch-grammatischer Verstandesübung; es gilt für unnöthig, durch tieferes Verständniß der lebensvollen Wahrheiten des klassischen Alterthums auf die Gemüther zu wirken. So ist der Lauf in den deutschen Gymnasien; noch weniger vermag der Realunterricht, weil nur auf materielle Bedürfnisse zielend, den Ideen eine höhere Richtung zu verleihen. Wenn endlich der Geist selbstständig zu werden beginnt, so geht die Erziehung auf die Hochschulen über; die Blüthe der Nation wird hier gebildet, und die Männer, denen diese Aufgabe anvertraut ist, sind im Auslande die deutsche Aristokratie genannt: aber ohne diesen Ausspruch bestreiten zu wollen, auch sie sind mit wenigen Ausnahmen heutzutage nicht geneigt, die menschliche Bildung im Ganzen und frische thatkräftige Entwicklung des Geistes dem Reichthum des Wissens vorzuziehen. Ist der Jüngling also beladen, so gilt seine erste Sorge dem, was mit einem widrigen Ausdruck Carrière genannt wird; dazu kann, wer sich den Geist ungetrübt von der Last des Gedächtnisses, die Seele frisch und frei von dem Streben erhalten will, das die Wissenschaft, nach Schillers Worten, zur Kuh herabwürdigt, selten gelangen; die Mehrzahl in Nahrungs- und Beförderungssorgen erdrückt, kommt weit genug, um Weiber zu nehmen und zu sterben. Diese letztere Klasse, was kann sie anderes, als jedes Streben nach deutschem Ruhm und deutscher Größe zu den unreifen Träumen werfen, an denen die deutsche Burschenschaft, und das mit Recht, sich verblutet hat? Der höhere Stand aber und der höchste, theils geschreckt von eben dieser Erscheinung, theils einseitig befangen in der Stellung, worein ihn der Prinzipienkampf der Zeit verweist, ohne lebendigen Zusammenhang mit dem Volke (denn der alte Erbadel schließt sich ab, während der Verdienstadel der Bureaukratie angehört), ist jedem Aufschwunge, wenn auch nicht innerlich, doch amtlich abgeneigt, der, über Kunst und Wissenschaft, über materielle Interessen hinausgehend, das Volksbewußtsein ergreift, ohne zu bedenken, daß politische Unmündigkeit allein es ist, was den deutschen Völkern, wie den deutschen Fürsten am Mark des Lebens zehrt. Die Wenigen aber, die ein tieferes Bewußtsein in sich tragen, hüllen sich in kraftloses Schweigen; sei es, weil sie mißverstanden zu werden fürchten, sei es, weil sie indolent geworden durch bittere Erfahrung, oder endlich, weil sie keine Hoffnung sehen, als in der Umkehr der jetzigen Zustände; und diese hinwiederum erscheint ihnen unausführbar auf gesetzlichem Wege, denn jeder andere Weg widerstrebt dem deutschen Geist, noch mehr dem deutschen Herzen. Wohl gibt es noch Manche, die vernehmlich sprechen und es ehrlich meinen, aber den Meisten ist die deutsche Freiheit nur die Tochter des französischen Liberalismus, und sind sie ja ächt deutschen Sinnes, so schwindet die allgemeine Idee vor den nächsten Bedürfnissen der lokalen Gegenwart.
So ist denn im deutschen Volke kein klares, ausgesprochenes Bewußtsein zu finden, weder von seiner Natur, noch dem Beruf, den ihm für unsere Zeit die Vorsehung angewiesen hat. Und während der Franzose sich für den Verfechter der Civilisation, für den Erstling der Politik und des Krieges hält, während der Engländer sich zur Seeherrschaft und damit zur Kolonisation der übrigen Welttheile, während selbst der Russe sich im Lauf der Zeiten zu einer slavischen Universalmonarchie berufen glaubt, kann das deutsche Volk nur neugierig bang die Zukunft fragen, was sie aus ihm wohl machen werde; dasselbe Volk, dem in der Betrachtung des Geistes, wie in der Kenntniß aller Völker kein anderes gewachsen ist. Sich selbst kennen aber ist bei den Völkern, wie bei den Einzelnen, von Alters her die erste Bedingniß des Lebens gewesen, und könnten wir heute ein höheres Orakel, als das delphische war, um das Eine befragen, was uns Noth thut — der alte Spruch der griechischen Weisen würde vielleicht auch den Deutschen zur Antwort gegeben. Denn wie der einzelne Mann, welcher, der eigenen Natur unkundig, seine Kräfte nicht zu bemessen vermag, auch kein Gefühl hat von dem Werthe, der ihm zukommt, und von der Stellung, welche er im Verhältnisse zu Andern zu fordern berechtigt ist, so erstirbt in jeder Nation, deren Bewußtsein sich verloren hat, auch das Nationalgefühl; es erlischt der Sinn für Ruhm und Ehre, ohne den kein Gemeinwesen besteht, und von Schmach zu Schmach, von Schwäche zu Schwäche wird so lange gesunken, bis der Untergang droht. Denen freilich mag es ein Gräuel sein, wenn ein Volk sich kennt und fühlt, die in der Sprache des freien Mannes Verdacht wittern, und wie sie das Wort „Volk“ vernehmen, vor dem Gegensatz erbeben, den sie darin zu finden meinen: gleich als ob das Haupt von den Gliedern, und die Glieder vom Haupt zu trennen wären. Es ist aber in Deutschland den Fürsten nicht weniger Noth, sich kennen und fühlen zu lernen, als dem Volke; hätten sie immer sich gefühlt, es stünde anders um Deutschlands Macht und Ehre. So weit wenigstens, Dank sei es den Umständen, ist es gekommen, daß das Gefühl der Einigkeit, das Bedürfniß derselben lebhafter, als je das deutsche Volk durchdrungen hat: der erste Schritt, ohne den keine Selbstkenntniß erreicht wird. Daß in einem Augenblick politischer Krise das deutsche Volk vernehmlich seine Einigkeit, und damit den festen Willen kundgegeben, seine Rechte insgesammt zu wahren, das ist, wer fühlt es nicht? ein erfreuliches Lebenszeichen. Aber glauben, daß damit etwas gethan, frohlocken, daß die deutsche Stimme nach langer Zeit auch jenseits der Gränzen widerhallt hat, wähnen, daß ein fliegender Enthusiasmus mächtig genug sei, um zu bestehen in der großen Probe der That — das hieße zum Verdienst erheben, was zu unterlassen Schmach gewesen wäre. Sind wir so tief gesunken, daß die kleinste Zuckung gereizter Geduld uns mit Stolz erfüllt?
Wodurch das deutsche Bewußtsein sich verloren,