Theodor Rohmer

Deutschlands Beruf in der Gegenwart und Zukunft


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Es gibt keine Epoche, in der Deutschland, gleich andern Staaten, ja nur gleich manchen seiner Kinder, zu harmonischer Vollendung oder auch nur der deutsche Geist zu innerer Ruhe gelangt wäre; große Plane sieht man vor ihrer Entfaltung gebrochen, das herrlichste Wollen von unwiderstehlichen Mächten zerstört; nirgend ein allseitiges gemeinsames Leben, sondern die eine Seite zu der, die andere zu jener Zeit entwickelt, unzählige Male zum Schaden des gemeinen Wesens; vor Allem aber nie und zu keiner Zeit eine bestimmte, unumstößliche, nach außen und innen unantastbare Staatsverfassung. Beklagenswerth ist Deutschland, wenn es an der Spitze von Europa über andern Völkern sich selbst vergißt; beklagenswerther noch, wenn es, entsagend seiner Weltmacht und in sich zurückgezogen, von Fremden zerrissen wird. Wozu das Alles? Woher so viel unentwickelte Keime, so viel gebrochene Tendenzen? Werden sie jemals und wann werden sie ihre Enderfüllung finden? — Wir betrachten die Intentionen, um welche die deutsche Geschichte sich gruppirt, und stellen die Perioden also voran, daß jede von ihnen Eine der großen Thatsachen in sich faßt.

      1 Der Urzustand des deutsches Volkes.

      2 Die Kriege der Deutschen wider die Römer. (Von Cäsars bis Marc Aurels Zeit.)

      3 Das Ausgehn der Deutschen über Europa. (Von Marc Aurel bis auf Chlodwig.)

      4 Das Frankenreich. (Von Chlodwig bis auf Ludwig das Kind.)

      5 Das deutsche Reich unter den sächsischen und fränkischen Kaisern bis zum Tode Heinrich III.

      6 Das deutsche Reich unter den fränkischen Kaisern und den Hohenstaufen.

      7 Vom Interregnum bis zur Reformation.

      8 Von der Reformation bis zum westphälischen Frieden.

      9 Vom westphälischen Frieden bis zum Untergang des Reiches[1].

      10 Die neueste Zeit.

      I. II. Die erste jener Perioden umfaßt die Kindes-, die zweite die Lehrzeit des deutschen Volkes. In der Urverfassung der Deutschen, in der Ungebundenheit der einzelnen Stämme und Gemeinden liegen die Keime, aus denen alle deutsche Geschichte erwachsen ist. Die antike Welt hatte in einem Ungeheuer geendigt, welches als absoluter Staat Nationalitäten, Provinzialismen und Individualitäten verschlang. Sie zu stürzen, eine neue zu bauen, erkor die Vorsehung ein Volk, in dem, bei maaßloser Freiheit der Stämme, Geschlechter, Familien die Macht des Individuums überwiegend hervortrat. Aus Freien und Adeligen besteht das Gemeinwesen; mit dem Grundbesitz, mit dem Recht und der Pflicht ihn zu schirmen, mit der Gewere ist die Freiheit verwebt. Bei größeren Unternehmungen, wenn der Staat zu festerer Gestaltung drängte, wählte man, aus den edelsten Geschlechtern, den Fürsten. Will man moderne Begriffe auf die älteste Verfassung anwenden, so war sie weder demokratisch, noch aristokratisch, noch monarchisch; sie war jene gesunde Mischung der drei Elemente, welche in unsern Tagen England zum glücklichsten Staate Europas macht. Nur als das mittlere Element überwog und hat zu allen Zeiten in Deutschland überwogen, das aristokratische. Die deutsche Religion war so einfach, daß die christliche Lehre den Deutschen mehr als eine höhere Zugabe, denn als widersprechend erscheinen mußte; der Kampf entspann sich später nur da mit Heftigkeit, wo mit dem alten Glauben zugleich die Freiheit bedroht wurde.

      Man sieht von Alters her die Deutschen in zahllose Völkerschaften gespalten, bis die Gefahr viele kleinere zu Bünden vereinigte, aus denen später die einzelnen Stämme, als organische Glieder des ganzen Körpers entstanden. Zersplitterung und Uneingkeit tritt in der zweiten Periode eben so scharf hervor, als jene Fähigkeit der Assimilation, die schon damals, wie noch in der neuesten Zeit, einzelne Theile von Deutschland dem romanischen Einflusse unterwarf. Die Fehler und Tugenden der Deutschen wirken so enge zusammen, daß jene eben so unentbehrlich zu ihrem Beruf erscheinen, als diese (z. B. Geduld oder Gründlichkeit) oft Schaden gebracht haben. Beide in ein richtiges Verhältniß zu setzen, bleibt die einzige Aufgabe; denn die Natur wird niemals ausgerottet.

      III. Nach einer langen Schule des Krieges und Lebens begannen die Besiegten die Sieger zu überwinden. Befruchtung der alten erstorbenen Welt, Verjüngung der verdorbenen Volksgeister in Europa war die erste Sendung des deutschen Volkes. Dazu gehörte ein freier kriegerischer Geist, die einfachste aufs Eigenthum gestützte Verfassung, jener zur Anschmiegung geeignete Charakter, jener Mangel an Centralisation, jene Zerspaltung in verschiedene Individualitäten, deren jede von der Vorsehung in das ihr passende Land geführt wurde. Die Römer, wie zur Herrschaft, waren auch zur Fortbildung des Christenthums unfähig geworden. Die Deutschen im Ausland nahmen es in verschiedenen Gestalten an, und wie die Kirche selbst, so mußten bald auch die neugebildeten Staaten der Einheit entgegenreifen.

      IV. Aufbau einer neuen, christlich-germanischen Weltordnung war die zweite Aufgabe der Germanen. Diese ward erfüllt, indem gleich nah am germanischen Stammland, wie an den romanischen Ländern das Frankenreich erstand, das vom Ebro bis zur Raab alle germanischen Staaten allmählich vereinigte, und in Karl dem Großen die Erbschaft des römischen Westreiches durch das Kaiserthum, so wie die Schirmvogtei der christlichen Kirche übernahm. Hier konnte die alte deutsche Verfassung, trotz ihrer unendlichen Freiheit, zum Staate sich gestalten; das Königthum ward ein andres, durch das Verhältniß des Eroberers zum Gefolge, wie durch römische Einflüsse, und die Kirche heiligte die Macht der Merowinger und ihrer Erben, der Hausmeier. Nach Karl dem Großen zerfiel das Reich und unter den Drangsalen barbarischer Einbrüche sonderten sich die einzelnen Völker, um selbständig heranzuwachsen.

      Zu eben dieser Zeit wurden die Normannen mächtig; sie vollendeten in Europa das große Werk germanischer Ausbreitung, indem sie die Spitzen der Länder und den Osten besetzten, worein die Deutschen nur flüchtig eingedrungen waren.

      V. In der nun beginnenden Entwicklung der Völker nach innen und außen die oberste Stellung einzunehmen, war der weitere Beruf des deutschen Volks; unter den Sachsen und Franken bis auf Heinrich III. ward er erfüllt. Heinrich I. war der Schöpfer der innern Größe, Otto I. trug die Kaiserwürde auf Deutschland über. Auf dem Kaiser und dem Papst beruhte die Einheit der christlichen Welt; aber die Kirche, wie sie alle Verhältnisse des Lebens durchdrang, war damals eng verbrüdert mit dem Staate, der Glaube zu unbedingt, als daß ein geistiger Gegensatz entstehen konnte; die Kaiser förderten die Macht der Hierarchie. Der deutsche Geist, ohne innere Zerrissenheit, konnte sich nach außen wenden: die höchste politische Blüthe, wie die höchste Einheit Deutschlands fällt in diese Zeit.

      VI. Die europäische Menschheit vor einer hierarchischen Universalmonarchie zu wahren, war die vierte Arbeit des deutschen Geistes. Die Hierarchie, wie sie Europa erzogen hatte, schritt zur politischen Vormundschaft; das Kaiserthum, wie ihm die Schirmvogtei der Kirche gebührte, wollte die Einheit der Kirche und des Staats, d. h. die Unterordnung dieser unter jenen. Also kämpfte Idee gegen Idee, die Gemüther erwachten zu höherem Leben, und der deutsche Geist entfaltete in diesem Zeitraum seine schönsten Blüthen. Es war eine große Kulturepoche der Menschheit; das Ritterthum mit dem Minnegesang, das Bürgerthum in den Städten, die Baukunst, die romantische Poesie, die Scholastik, all das, durchdrungen von der christlichen Anschauung, war die gereifte Frucht der neuen christlichen Weltordnung. Große Intentionen lagen damals in der Zeit; verhüllt in den Aberglauben machten sie sich in den Kreuzzügen Bahn. Der Kampf war um so mächtiger, als die Vorsehung auf beiden Seiten die größten Männer gegenüber, oder doch in geringer Entfernung von einander stellte.