eine deutliche Einsicht der Gebildeten ist zu finden, wo es um die Sendung und die Rolle des deutschen Volkes sich handelt. Auf das Eine oder das Andere mag in jedem andern Lande der Schriftsteller sich berufen, der über wichtige Zeitfragen spricht; hier gilt keine Berufung; die deutsche Selbstkenntniß muß auf künstlichem Wege erreicht werden. Zu was die Deutschen berufen seien, kann nur aus der Lage der Weltverhältnisse überhaupt, aus der politischen Stellung der europäischen Völker, endlich aus ihrer Geschichte bewiesen werden, keineswegs aber aus ihrem gegenwärtigen Bewußtsein oder Zustande. Diese, die Geschichte mag zuerst uns zeigen, was die Reflexion aus der Vergangenheit sich Tröstliches für die Gegenwart und Zukunft zu holen vermag; jene, die Lage von Europa soll darauf führen, in wie weit und welchen Stücken der ganze europäische Organismus der Mitwirkung eines seiner wichtigsten Glieder bedarf; endlich, das Resultat beider Fragen, verglichen mit dem gegenwärtigen Zustande Deutschlands, wird uns die thatsächliche Wahrheit der gewonnenen abstrakten Ideen, die Möglichkeit ihrer Verwirklichung beweisen.
Erster Theil.
Deutschland und seine Geschichte.
Kapitel I.
Entweder — oder.
Entstehen, Blühen und Vergehen — ist das allgemeine Gesetz, dem jede organische Existenz unterliegt, nach dem die Geschichte der Menschheit, wie das Leben des Einzelnen sich regelt. Zwischen diesen äußersten Enden stehen unzählige Mittelglieder — Familien, Geschlechter, Stämme, Nationen, Völker, also daß die Geschichte ein ungeheures, von zahllosen einzelnen Entwicklungen durchschlungenes Geflechte bildet, die sämmtlich vom Größten bis zum Kleinsten demselben Gesetze gehorchen. Allein seit Herder in seinen „Ideen“ es ausgesprochen, daß die ganze Menschheit in ihrer Entwicklung nur das Leben des Einzelnen abspiegle, seit er die Grundlagen erforscht hat, auf denen die Geschichte sich entwickelt, seitdem hat Niemand die innern Gesetze gefunden, worauf die Organisation und das Wachsthum des Menschen beruht, wornach, nur in vergrößertem Maßstab, das Leben der Menschheit sich abspinnt. Ehe nicht das Räderwerk der Seele zerlegt, nicht der Gang des Uhrwerks von der Stunde der Geburt an bis zu der des Todes enthüllt ist, gibt es, zwar eine allgemeine Uebersicht mit vielen Wahrheiten, aber keine Philosophie der Geschichte. Nun ist es noch ungleich schwerer, eines Volkes Anfang, Ende, den Stand seines Lebens, sein Alter zu bestimmen. Wo ist hier Anfang, wo Ende? Wo der Augenblick, da es, vom großen Urstamm sich lostrennend, oder aus mannigfachen Stämmen geeinigt, zu Einer Persönlichkeit mit bestimmtem Charakter erwächst; wo der Augenblick, in dem es diese Individualität verliert und, mit andern verschmolzen, in die allgemeine Fluth zurücksinkt? Wie lang oder wie kurz sind die Perioden seiner Entwicklung? Wie weit gehen die Gränzen seines Daseins? — Denn es kann wohl aus der Vergangenheit eines Volkes, wie des deutschen, aus dem Eindruck der Gegenwart auf ein hohes Alter geschlossen werden; doch, wie Deutschland schon einmal aus tiefer Altersschwäche in der Reformation sich neu verjüngt, wie es allein unter allen Völkern den Sturz seines Reiches überlebt hat, so kann es auch nochmals eine Jugend beginnen. Aber wenn sie nicht wiederkehrt diese Jugend, so sind wir zumeist unter allen Nationen Europas mit dem Tode bedroht. Denn Deutschland ist die Mutter der Völker, und seit sie aufgehört zu herrschen, seit Jahrhunderten, streben mündige und unmündige Kinder, die altersschwache zu knechten, und das letzte Joch zu zerbrechen; denn noch ist Gefahr, so lang sie nur lebt. Darum, ob ein plötzlicher Tod, ob tausendjähriges Leben uns erwartet, darüber entscheidet keine Berechnung. Unser Alter, unsre Lebenskraft ist verborgen vor unseren Augen.
Nur das Eine bleibt übrig, durch Beobachtung und Gefühl die leitenden Ideen zu finden, welche die deutsche Geschichte beseelen. Wenn anders Zusammenhang, Folge, Ordnung in ihnen liegt, so muß sich zeigen, ob der Gedankengang, den sie bilden, seinen Abschluß bereits erreicht hat, oder ob im Gegentheil Einheit und Leben erst durch eine große Zukunft, als nothwendiges Glied der Kette, ihnen verliehen werden muß? —
Es ist dieser Reichthum, die Klarheit der Ideen, was die deutsche Geschichte vor denen andrer Völker auszeichnet; man sieht die äußern Ereignisse, wie Blüthen und Früchte daraus hervorsprießen. Eben deßhalb liegt nicht, eine Menge von Thatsachen zu beleuchten, in unserm Zweck, nur die allgemeinsten Vorgänge, wie sie Jedem bekannt sind, wollen wir hervorheben; und wenn hieraus andere Folgerungen entspringen, als man gewöhnlich zu ziehen pflegt, so liegt es in einer Zusammenstellung des Ganzen, welche, entweder aus übertriebener Rücksicht auf Einzelnes oder aus Ungewohnheit übersichtlichen Denkens oder, wie es zunächst geschieht, weil sie an der Gegenwart kleben, von Andern vernachlässigt wird.
So viel zeigt uns alle Geschichte, daß das Volk an sich vergänglich, veränderlich ist, während die Raçe, der Typus unwandelbar und ewig dauert. Araber, Juden, Mongolen, Neger haben bestanden und werden bestehen, so lang es Geschichte gibt; Römer, Griechen, Franzosen, Russen, Deutsche fallen dem Untergang anheim, um so schneller, je weniger sie den Typus ihrer ganzen Raçe, um so langsamer, je mehr sie ihn darstellen. Hier ist also ein ewiger Wechsel gegeben; die Deutschen, als die ersten Träger des germanischen Typus unter den jetzigen Völkern, können diesen Typus an andere Völker abgeben; so wie die germanischen Völker überhaupt als Erstlinge des kaukasischen Typus ihn wiederum einem andern Völkerstamme überlassen können. Was folgt daraus? Zwei Bemerkungen, deren eine von denen, welche über der physischen Größe und Ausbreitung des deutschen Volks die Möglichkeit des Untergangs, d. h. des Verschwimmens in fremde Nationalität vergessen, die andere von der noch größern Zahl im voraus beherzigt zu werden verdient, welche, zufrieden mit einer untergeordneten Mittelstellung ihres Vaterlands, jede Rolle Deutschlands in Europa, auch wenn sie der ursprünglichen Natur zuwiderläuft, für gefahrlos, ja im Interesse des Friedens für segensreich erachten. Einmal: dem deutschen Volk ist keine Wahl gegeben, als entweder in erster Linie den germanischen Charakter auszudrücken oder sich selbst zu verläugnen. Weiter aber: diese Erstlingschaft kann sich nicht nach innen allein, sie muß sich auch nach außen ausprägen, das Haupt der germanischen Welt ist nach der Natur Europa’s zugleich der Mittelpunkt der kaukasischen. Denn wie in der alten unverbundenen Welt, ehe Rom den Erdkreis umfaßte, Aegypter, Griechen, Perser, Juden, Indier, obwohl in mannichfacher Berührung, doch getrennt auseinander lagen, so hat die neue Zeit eine Verbindung der Völker geschaffen, welche ganz Europa mit demselben Bande verknüpft, das ehedem die griechischen Republiken umschlang; so zwar, daß jeder innere Nachlaß, wie alles innere Wachsthum einer Nation zugleich nach außen eine Rückwirkung in ganz Europa hervorruft, welche um so lebhafter ist, je höher die Nation selbst an Bedeutung steht. Eben deßhalb kann das erste germanische Volk nur herrschen, es sei geistig oder leiblich — oder untergehn.
Die beglaubigte Geschichte, so weit sie unsere Entwicklung berührt, zerfällt in vier Abschnitte: in die alt-orientalische Zeit, mit den ersten großen Reichen, mit ägyptischer und jüdischer Weisheit; in die griechisch-römische Periode, worin der Weltgeist aufs südliche Europa übergeht, mit Ueberwindung persischer und karthagischer Größe; hierauf nach der großen Umwälzung der Völker und Staaten, in die christlich-germanische Weltordnung, gegenüber der muhamedanisch-arabischen, endlich in die neue Zeit, die in der Reformation die Kirche, später das Christenthum und den Staat umgestaltet, und mit der Erforschung des ganzen Erdballs eine europäische Universalmonarchie gegründet hat. Nun ist das deutsche Volk in der dritten Periode der Mittelpunkt der christlichen Ordnung gewesen; es hat durch die Reformation die vierte eröffnet; welche Stellung wird ihm, im Verlauf eben dieser Periode, zugewiesen sein?
Zweimal haben die Deutschen reinigend und verjüngend, wenn auch zerstörend zugleich, sich über Europa ergossen; am Anfange des Mittelalters und am Ende desselben, dort leiblich gegen das leibliche, hier geistig gegen das geistige Rom. Ist hierin Anfang und Ende ihrer Geschichte beschlossen, war der Protestantismus das letzte große Werk, an dem sie sich verblutet, und werden andere Völker fortsetzen, was wir begonnen? Oder im Gegentheil, war die Reformation der Grundstein eines größern Aufbau, sind wir allein befähigt, diesen Aufbau zu vollenden?
Wenn das