Else Ury

Die beliebtesten Jungmädelgeschichten von Else Ury


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seiner Kinder … Da – gab es einen ohrenbetäubenden Krach. Die Fensterscheiben zersprangen klirrend. Der Instrumentenschrank tanzte. Schwestern und Sanitäter kamen mit bleichen Gesichtern in das Zimmer des Chefarztes gestürzt: »Herr Stabsarzt – eine französische Fliegerbombe – sie scheint es auf unser Lazarett abgesehen zu haben – zum Glück ist sie fehlgegangen.«

      »Bande – der nicht mal das Rote Kreuz am Weihnachtsabend heilig ist!« Doktor Braun stieß es entrüstet hervor. Dann eilte er zu seinen Verwundeten.

      Während die Gedanken des Arztes aus dem fernen Feldlazarett in Frankreich den Weg heimwärts nahmen, dachte auch sein Nesthäkchen lebhaft dorthin. Der Vater hatte keinen Urlaub erhalten – grenzenlos enttäuscht war Annemarie. Aber wenn sie es sich richtig eingestand, war sie noch viel enttäuschter, daß der Zeiger ihrer weißen Kinderstubenuhr sich von Zahl zu Zahl schob, ohne daß die sehnlichst erwartete Mutter heimkehrte.

      Schon war es vier, jetzt mußte sie sich zur Weihnachtsbescherung im Schullazarett rüsten. Um halb fünf sollten sich die Schülerinnen der sechsten Klasse mit ihren Weihnachtspäckchen vor dem ehemaligen Schubertschen Lyzeum einfinden. Fräulein Hering, welche die Führung übernommen, erwartete sie dort.

      Jede Klasse bescherte einem anderen Lazarett, manche auch einem Kriegskinderhort. Dazu hatte jede Schülerin einen Pfefferkuchen, einen Apfel und eine Nuß mitbringen müssen. Stattliche bunte Teller waren aus diesen kleinen Beiträgen entstanden.

      Noch einen Blick ließ Annemarie durch ihre Stube wandern. Seit ihrem Aufenthalt im Kinderheim hatte sie sich daran gewöhnt, nie ihr Zimmer zu verlassen, ohne zu sehen, ob darin auch nichts herumlag. Nein – es war alles schön ordentlich. Ganz hinten in der Ecke hatte sie ihre Weihnachtsgeschenke versteckt und darüber die leere Puppenstube gestülpt. Dort würde sie keiner finden.

      Annemarie griff nach ihren vielen, vielen Paketen und Päckchen. Wie sollte sie die nur fortkriegen? Hanne hatte noch zu tun, und Klaus, der ihr hätte tragen helfen können, war selbst mit seinem Lehrer zu einer Lazarettbescherung. Fräulein putzte im Wohnzimmer mit Großmama den Baum.

      Aber Nesthäkchen war nie um einen Ausweg verlegen. Es holte sich aus dem Schrank der Brüder den großen Rucksack von Bruder Hans, da ging alles hinein.

      Potztausend – aber schwer war er! Doch trugen die Soldaten auf ihren anstrengenden Märschen nicht schwereres Gepäck auf dem Rücken? Na, also! Rasch fort, Margot wartete sicher schon unten.

      Ja, an dem Gitter des verschneiten Vorgärtchens stand bereits die Freundin neben einem weißen Kinderwagen. Die nahm doch nicht etwa ihr kleines Schwesterchen mit?

      Nein, Annemarie mußte lachen. Der Kinderwagen war vollgestopft mit Liebesgaben. Auch Margot lachte beim Anblick der Freundin. »Willst du eine Gletschertour machen, Annemarie?« fragte sie, auf den Rucksack weisend.

      Alle beide keuchten sie unter ihrer Last. Aber was wog die gegen das erhebende Gefühl, den verwundeten Kriegern eine Weihnachtsfreude zu machen.

      Nun waren sie alle in dem ehemaligen Schulhof versammelt. Viele der kleinen Mädchen hatten ihren Puppenwagen zum Transport der Gaben benutzt. Hilde Rabe war sogar, trotz des Tauwetters, mit ihrem Kinderschlitten vorgefahren.

      »Was, die ›Polnische‹ ist auch dabei?« Annemarie fragte es so laut, daß die unweit mit ihrem Gabenkörbchen stehende Vera zusammenzuckte.

      Stimmte denn der Weihnachtsabend, der die Menschen besser machen soll, an dem sie sich nur Liebes erweisen, nicht auch die Herzen der kleinen Mädchen milder?

      Nein, die Schülerinnen der sechsten Klasse, die soviel Mitleid mit den Verwundeten hatten, verwundeten selbst heute das Herz der armen Vera durch abweisende Blicke und unfreundliche Worte. Allen voran wieder Doktors Nesthäkchen.

      »Wenn Fräulein Hering wüßte, was wir wissen, würde sie Vera bestimmt nicht mit ins Lazarett nehmen – wie leicht kann sie da spionieren«, flüsterte Annemarie ihren Getreuen zu.

      Zum Glück blieb keine Zeit, sich weiter mit Vera Burkhard zu befassen. Die Kinder wurden in die tannengeschmückte einstige Schulaula geführt, wo ein großer Weihnachtsbaum blitzte und funkelte. Auf der langen Tafel darunter lagen die Heimatspakete für jeden Krieger.

      Ein wenig schlug den kleinen Mädchen das Herz, als die Verwundeten in ihren blau-weißgestreiften Anzügen jetzt den Saal betraten. Fröhliche Jugend bedrückt Krankheit und Elend. An Stöcken und Krücken schoben sie sich herein, am Arm der Schwestern, auf Tragbahren und im Stoßwagen wurden sie hineingebracht.

      Margot griff erregt nach Annemaries Arm. Unsagbar leid taten ihr die Ärmsten, die nicht einmal die Weihnachtslichter erstrahlen sahen. Auch Annemaries Blauaugen feuchteten sich – und gleichzeitig fühlte sie tiefe Beschämung. War sie sich nicht den ganzen Tag bemitleidenswert erschienen, daß sie heute ohne Vater und Mutter Weihnachten feiern mußte? Und wie glücklich war sie doch im Vergleich zu diesen Armen ringsum, die auch fern von ihren Lieben den Heiligabend begingen!

      Trotz der Schmerzen, die sie erdulden mußten, sahen die bleichen Gesichter zufrieden und dankbar aus. Der deutsche Soldat zeigt nicht nur im Kampfe seinen opferfreudigen Mut, sondern auch dem unerbittlichen Schicksal gegenüber.

      Von dem brennenden Weihnachtsbaum glitten die Blicke der verwundeten Krieger zu der blühenden Kinderschar, die zu beiden Seiten Aufstellung genommen. Da verklärten sich die Mienen. Jedem war es, als ob die eigenen Blondköpfe oder das kleine Schwesterchen daheim auf die Bescherung warteten. Einer der Ärzte setzte sich ans Klavier, und »Stille Nacht, heilige Nacht«, die Klänge des Weihnachtsliedes, zauberten den in der Fremde Weihnacht Feiernden die Heimat vollends vor. Tiefe Männerstimmen mischten sich mit den hellen der jungen Kinder. Da blinkte manche Träne im rauhen Kriegerauge – und keiner schämte sich derselben.

      Als der Sang geendet, trat eine der Schwestern zu den kleinen Mädchen. »So, Kinder, nun kann der Weihnachtsmann zu unseren Soldaten kommen!«

      »Schwester Elfriede!« Doktors Nesthäkchen schrie es freudig durch den großen Saal. Ehe Margot wußte, wo Annemarie geblieben, war sie auf die andere Seite auf eine Schwester mit sanftem Gesicht unter dem braunen Scheitel zugeeilt. »Schwester Elfriede, kennen Sie mich nicht mehr? Ich bin ja die Annemarie Braun, die Sie damals in Vaters Klinik gesund gepflegt haben, damals, als ich Scharlach hatte.«

      »Mädel, was bist du groß und stark geworden, dich hätte ich wirklich nicht wiedererkannt.« Schwester Elfriede, die früher an Doktor Brauns Klinik tätig gewesen, drückte ihrer einstigen kleinen Pflegebefohlenen ebenfalls erfreut die Hand.

      Aller Augen waren natürlich auf den reizenden Blondkopf gerichtet, dem man die Wiedersehensfreude so deutlich ansah.

      Die andern Kinder verteilten inzwischen ihre Päckchen, auch Annemarie überreichte nun den Verwundeten mit freundlichem Wort ihre Gaben. Bald war eine fröhliche Unterhaltung zwischen den kleinen Geberinnen und den Beschenkten im Gange. Die Soldaten erzählten, wo sie verwundet worden, und die Kinder lauschten mit heißen Wangen.

      Annemarie aber warf besorgte Blicke auf die schwarzlockige Vera – würde die auch nicht verraten, was sie hier hörte?

      Vera stand drüben bei den blinden Kriegern. Das weichherzige, kleine Mädchen fühlte sich zu den Unglücklichen am meisten hingezogen, während die andern Kinder in einer bedrückenden Scheu die Unterhaltung mit ihnen vermieden.

      Jetzt reichte sie ihnen die Tüten mit Pfefferkuchen und Marzipan, welche sie im Arm trug. Die törichte Annemarie lief eilends hinzu – Himmel, die Spionin würde doch nicht die deutschen Soldaten vergiften?

      »Du bist ein liebes, kleines Mädchen«, hörte sie da einen der Blinden zu Vera sagen. Sanft streichelte er das feine Gesichtchen, das er nicht sehen konnte. »Hast du auch nahe Angehörige im Felde?«

      »Ja, meinen Papa«, war die leise Antwort.

      »Entweder schwindelt die Polnische, oder ihr Vater kämpft gegen die Deutschen«, dachte Annemarie in ihrer Feindseligkeit.

      Der blinde Soldat holte ein zierliches Täschchen herbei, das er selbst geknüpft hatte. »Hier, Kleine, das schenke