sich vor Freude. Da begegnete sie einem bitterbösen Blick der unweit stehenden Annemarie. War die neidisch? Veras große Freude verflog.
Nein, Neid kannte Doktors Nesthäkchen nicht. Aber sie fand es empörend, daß die »Polnische«, die ganz sicher eine Spionin war, solche Auszeichnung genoß. Wenn der deutsche Soldat wüßte, wem er sie hatte zuteil werden lassen!
Fräulein Hering versprach, dem Lazarett mit ihren Schulkindern bald wieder einen Besuch abzustatten. Annemarie verabschiedete sich von Schwester Elfriede. Die Soldaten winkten ihren kleinen Wohltäterinnen noch einen dankbaren Gruß zu.
Auf der Treppe suchte Vera an Annemaries Seite zu kommen.
»Willst du haben derr Tasch – biete, nemm ihm«, damit hielt sie der Schulkameradin das Täschchen, das ihr selbst solche Freude gemacht, schüchtern hin.
Annemarie war ganz bestürzt. Sie war ja ein von Herzen gutes Kind. Nur falsche Vaterlandsliebe hatte ihr Herz gegen Vera verhärtet. Aber jetzt fühlte sie, wie die Mauer der Verachtung, die sie künstlich gegen die kleine Fremde in ihrem Herzen aufgetürmt hatte, vor den rührenden Worten nicht mehr standhalten wollte.
»Ich danke dir – du hast sie ja geschenkt bekommen«, das klang zum erstenmal weniger schroff.
Dann ging Annemarie Arm in Arm mit Margot, Ilse und Marlene nach Hause, während Vera allein folgte.
Aber das schwarzhaarige Kind war nicht traurig. Nein, Veras Herz schlug so froh, wie schon lange nicht. »Lieber Gott, ich danke dir, daß Annemarie gerade heute am Weihnachtsabend freundlicher zu mir war«, dachte sie glücklich.
Auch Annemarie hatte ein Gefühl der Zufriedenheit. Kam das von der Freude, die sie den Verwundeten gemacht, oder daher, daß sie nicht so schlecht wie sonst gegen Vera gewesen? Doktors Nesthäkchen wußte sich keine Antwort darauf zu geben.
Von der hell erleuchteten Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche klangen die Glocken. »Frieden auf Erden«, so sangen sie. Wann würde endlich Frieden auf Erden sein?
12. Kapitel
Endlich Nachricht
Der erste Weihnachtsfeiertag blinzelte durch die Spalte des Fenstervorhanges in das Kinderzimmer. Da drin in dem weißen Bett blinzelte ebenfalls jemand – Nesthäkchen. Annemarie hatte sich durch den weiten Schulweg so an das frühe Aufstehen gewöhnt, daß sie selbst jetzt in den Ferien nicht ausschlafen konnte.
Es war auch ganz gemütlich, noch ein wenig im Bett zu dösen und an den gestrigen Weihnachtsabend zu denken. Eigentlich war er hübsch genug dafür ausgefallen, daß die Eltern nicht dabei waren. Zuerst freilich, als Fräulein zur Bescherung läutete, und Vater und Mutti unter dem brennenden Weihnachtsbaum fehlten, da war es Annemarie heiß in die Augen geschossen. Aber sie hatte die Zähne fest zusammengebissen – nein, Großmuttchen durfte nicht merken, daß sie traurig war. Die gute Großmama! Mit wieviel Liebe hatte sie jedes Enkelkind bedacht und jedem seine geheimsten Wünsche abgelauscht. Da wollte sie nicht undankbar sein. Eine süße, kleine Uhr hatte Annemarie bekommen, schon lange ihr sehnlichster Wunsch. War es da ein Wunder, daß die Traurigkeit schnell verflog?
Und was hatte sie selbst für Freude bereitet! Großmama sollte die Mutti doch auch nicht vermissen, da hatte Nesthäkchen statt ihrer der Großmama, die für alle sorgte, den Weihnachtstisch aufgebaut. Etwas merkwürdig war er zwar ausgefallen. Da gab es einen Haken für das Schlüsselbund, das immer Reißaus nahm, und eine Stahlbrille, um die goldene Brille zu suchen, wenn die, was öfters geschah, verlegt war. »Nanu, wollene Ohrenklappen, ja, soll ich denn an die Front, Herzchen?« hatte die Großmama lachend gefragt. Und als Annemarie ihr erklärte, daß sie für Ohrenreißen bestimmt seien, weil Großmama neulich nacht daran gelitten, da lachte die alte Dame noch weit mehr. Aber auch Süßigkeiten gehören zu einem richtigen Weihnachtstisch. Eine Stange Lakritze, für zwei Pfennige Johannisbrot und Gummizucker, alles, was Nesthäkchen selbst gern naschte, hatte sie der Großmama aufgebaut. Da war es kein Wunder, wenn auch bei Großmama die ernsten Gedanken, die gerade heute zu ihren fernen Töchtern hineilen wollten, zerflatterten, und die Freude an den Enkelkindern die Oberhand gewann. Und als Tante Albertinchen mit den grauen Ringellöckchen noch gar durch einen für die Soldaten zu klein geratenen Kopfschützer von Annemarie erfreut wurde, im Fall sie mal Zahnweh bekam, da herrschte trotz der Abwesenheit der Eltern frohe Stimmung im Braunschen Hause.
Eigentlich verstand Annemarie jetzt im Morgengrauen gar nicht, daß sie gestern so vergnügt gewesen. Wo nicht mal ein Weihnachtsgruß von Mutti gekommen war! Dachte denn Mutti gar nicht mehr an ihre Kinder?
In dem Nebenzimmer rumpelte Hannes Teppichmaschine. Fräulein wollte noch immer nicht aufwachen. Die Türglocke schellte – der Briefdurchwurf klappte herunter – wie der Wind war Annemarie aus dem Bett und draußen. Täglich kehrte sie enttäuscht von ihrem Morgenausflug wieder zurück, sicher würde es auch heute so sein.
Die Zeitung, eine Feldpostkarte an Hans, aber hier dies – Nesthäkchens Augen wurden unnatürlich groß. Das waren doch Muttis liebe Schriftzüge, die sie schon mehrere Monate nicht mehr gesehen. – »Großmama – Fräulein – ein Brief – ein Brief von der Mutti!« Annemarie brüllte es durch das noch schlafende Haus, als ob Feuer wäre.
Aus allen Türen kamen sie herbeigestürzt in den sonderbarsten Verkleidungen. Aber wer achtete in diesem Augenblick darauf, daß Großmama in der begreiflichen Aufregung ihren lila Schlafrock verkehrt, mit der Futterseite nach außen, übergestreift hatte! Wer sah, daß Fräulein sich statt in ihr warmes Umschlagetuch, in die Tischdecke gewickelt hatte, und daß Hans in der Eile in die Hosen von Klaus hineingefahren war? Aller Augen waren nur auf den Brief aus dünnem, überseeischem Papier gerichtet, den Nesthäkchen jubelnd wie eine Siegesfahne in der Luft herumschwenkte.
Die stets ängstliche Großmama bemerkte nicht einmal, daß Annemarie als Barfüßchen herumlief, und das wollte viel sagen.
An Großmama war der Brief gerichtet.
»Meine Brille, Herrgott, wo ist denn bloß meine Brille jetzt wieder hin?« in höchster Aufregung begann Großmama zu suchen. Annemarie brachte schnell die Weihnachtsbrille herbei: wie gut, daß sie Großmama die geschenkt. Aber als Großmama sie auf die Nase setzte, um nun endlich den Brief zu lesen, da waren keine Gläser drin.
»Die sollst du dir erst vom Optiker einsetzen lassen, weil ich deine Nummer nicht wußte«, erklärte Annemarie.
Solange konnte Großmama unmöglich mit dem Studieren des Briefes warten. Hans erbot sich, ihn vorzulesen. Fräulein hüllte inzwischen die vor Kälte und Erregung zitternde Annemarie in eine warme Schlafdecke.
»Geliebte Mutter, meine lieben, lieben Kinder«, begann Hans zu lesen. »Soeben erhalte ich Euer Schreiben über Holland, das wochenlang unterwegs gewesen sein muß. Zu meiner größten Bestürzung ersehe ich daraus, daß Euch keine meiner vielen Nachrichten bisher erreicht hat, und Ihr Euch Sorgen um mich gemacht habt. Ich habe mindestens zweimal die Woche an Euch geschrieben, manchmal auch öfters. Denn daß ich mit meinen Gedanken unausgesetzt bei Euch weile, könnt Ihr Euch denken. Auf meine Bitten hat Vetter Charles Edward Nachforschung gehalten, woran es liegt, daß meine Briefe nicht an Euch gelangen, da doch Post von hier nach Deutschland geht. Genaues hat auch er nicht erfahren können. Nur soviel, daß ich wohl meinen Empfindungen und Wünschen für unser teures Vaterland allzu deutlich darin Ausdruck verliehen habe, ohne daran zu denken, daß jeder Brief, der aus England herausgeht, einer Prüfung untersteht. Der Vetter meint, es wäre ganz sicher, daß meine Briefe von der Zensur angehalten und nicht weiter befördert seien. Eine andere Erklärung gibt es nicht. Darum will ich diesmal alles, was ich fühle, in mich verschließen, damit dieser Brief durchgelassen wird. Ich werde mich darauf beschränken, Euch die Tatsachen zu wiederholen, von denen ich annahm, daß Ihr sie längst kennt.
Die Kriegserklärung kam so überraschend für uns, die wir in unserer ländlichen Einsamkeit kaum die Zeitung lasen, daß sie Kusine Annchen und mich doppelt erschreckend traf. Ich war ganz krank vor Aufregung und wollte