Else Ury

Die beliebtesten Jungmädelgeschichten von Else Ury


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noch nicht satt«, meinte Fräulein, die von dem vorangegangenen Gespräch nichts wußte, ganz erstaunt.

      »Natürlich habe ich Hunger, dollen sogar, aber ich esse keine Stulle mehr. Besser, ich habe ein Loch im Magen, als wenn England Deutschland zu einem schmachvollen Frieden durch Aushungerung zwingt!« rief der Tertianer großartig, während seine Augen begehrlich an Schinken und Wurst hingen.

      »Na, dann iß wenigstens noch eine Schinkensemmel, wenn du keine Stulle mehr magst«, schlug ihm Großmama mit seinem Lächeln vor.

      In den braunen Jungenaugen blitzte es freudig auf. Aber »nee, nee – Semmel ist noch mehr Getreideverbrauch«, wehrte er ängstlich ab.

      »Weißt du, Klaus, man muß den Bogen nicht gleich zu straff spannen. Ich würde allmählich mit der Entbehrungskur beginnen«, es ist schwer für eine Großmutter, mit anzusehen, daß ihre Enkel nicht satt werden. »Heute ißt du statt der sonstigen fünf Stullen nur vier, und morgen bloß noch drei. Dafür kocht uns die Hanne Kartoffeln«, damit reichte Großmama dem armen, hungrigen Klaus Brot und Aufschnitt hinüber.

      Großmama hatte wie immer recht. Klaus kaute mit vollen Backen. Nesthäkchen jedoch blieb allem Zureden ungeachtet fest, trotzdem es auch ganz gern noch etwas gegessen hätte.

      Aber Annemarie hatte mit ihren Freundinnen gewettet, wer von ihnen es fertig brächte, sich mit zwei Butterbroten des Abends zu begnügen; da mochte sie sich nicht ausstechen lassen.

      Als Fräulein spät in das Kinderzimmer trat, regte es sich noch in dem Bett unter dem Wittdüner Strandbild.

      »Nanu, Annemie, schläfst du noch nicht?« wunderte sich Fräulein.

      »Nee«, das klang ganz mattherzig.

      »Ist dir was, Annemie?« forschte Fräulein besorgt.

      »Ja, ich habe Magenschmerzen«, kam aus Nesthäkchens Bett betrübt die Antwort.

      »Magenschmerzen – du hast gewiß Hunger, Annemie!« lachte Fräulein. »Das kommt davon, wenn man sich abends nicht satt ißt.«

      »Aber der Herr Direktor hat doch gesagt, daß Deutschland ausgehungert werden soll – – –«

      »Und da probierst du schon immer im voraus, wie das wohl ist.« Fräulein lachte noch mehr. »So hat das euer Direktor sicher nicht gemeint, Kind. Er hat vor unnötigem Getreideverbrauch gewarnt, daß nichts vergeudet und nicht unmäßig gegessen wird. Deine drei Stüllchen kannst du dir ruhig noch schmecken lassen, Annemie.«

      »Meinst du wirklich, Fräulein?« Nesthäkchen war immer noch zweifelnd. Aber es griff doch tüchtig in die Keksbüchse hinein, die Fräulein herbeiholte. »Sonst bist du morgen früh am Ende verhungert, wenn ich dich wecke, Annemiechen.«

      »Ach, liebstes, goldenes Fräulein, ich hatte ja solche Angst, daß ich am Ende verhungert bin, ehe Mutti zurückkommt. Aber jetzt ist mir schon viel besser, und die Magenschmerzen sind auch weg«, das gesättigte Nesthäkchen schlief nun endlich ein.

      Am andern Tage in der Schule aber stellte Annemarie stolz fest, daß sie die einzige von ihren Freundinnen gewesen, die ihre Vornahme, sich mit zwei Butterbroten fürs Vaterland zu begnügen, durchgeführt hatte. Denn Keks war doch kein Getreideverbrauch.

      »Wer belegte Stullen zur Schule mitnimmt, ist unpatriotisch«, sagte Annemarie laut in der Zwischenpause mit einem deutlichen Seitenblick auf die allein in der Ecke stehende Vera.

      Die ließ ihr Wurstbrot, in das sie gerade einbeißen wollte, erschreckt sinken. Zu Hause aber bat sie die Tante himmelhoch, ihr doch bloß nicht mehr »belegt« zum Frühstück mitzugeben. Wie verächtlich Annemarie Braun sie wieder deshalb angesehen hatte.

      Die mitleidige Regung, die Annemarie am Weihnachtsabend gegen Vera verspürt hatte, war längst verflogen. Es ist nicht leicht, ein rollendes Rad zum Halten zu bringen. Besonders, wenn man selbst den Anstoß dazu gegeben hat, wie Annemarie mit der allgemeinen Ausschließung Veras. Sollte sie jetzt plötzlich gerade das Gegenteil davon tun, was sie den andern geraten, und Vera nicht mehr aus ihrem Kreise ausstoßen? Nein, das hieß ja eingestehen, daß sie damit unrecht gehabt hatte. Sich solche Blöße vor der ganzen Klasse geben – das ließ ihr Stolz nicht zu. Aber es war ein falscher Stolz, der Doktors Nesthäkchen zurückhielt, der guten Regung ihres Herzens zu folgen.

      Annemarie fühlte das selbst, denn ihr Gewissen machte sich öfters bemerkbar, wenn sie Veras traurigen Augen begegnete. Wenn sie dieselbe in den Pausen, wo alles fröhlich durcheinander schwatzte und tollte, so verlassen und gemieden sah. Aber Nesthäkchen beruhigte die lästige Stimme, die ihr zuflüsterte: »Siehst du, das ist dein Werk«, mit einem trotzigen: »Und sie ist doch eine Spionin!«

      Die Brotkarten waren eingeführt worden. Bei Brauns wog Hans jetzt mit peinlichster Genauigkeit jede Schnitte auf der Briefwage ab, daß nur keiner mehr Gramm Brot verzehrte, als ihm zukam.

      »Hanne, Ihre Stullen sind viel zu dick, Sie essen ja allein hundertfünfzig Gramm abends, wie wollen Sie denn da den ganzen Tag mit Ihrem Brotanteil ausreichen«, stellte er der Köchin vor.

      Aber da kam er bei Hanne an die richtige.

      »Ich will Ihn’ mal was sagen, junger Herr, ich esse keene Gramms nich, ich esse meine Stullen und schere mich den Deibel drum, wieviel die wiegen. Und wer mich deshalb für ’ne schlechte Patriotin hält, dem jeb’ ich zur Antwort: Meine paar Ersparnisse hab’ ich jern fürs Vaterland und für unsere Kriejer jeopfert, aber von wejen meine Stullen, was jehen mir denn die Engländers an!«

      »Aber Hanne, doch nicht wegen der Engländer, um unserer deutschen Frauen und Kinder willen sollen wir sparsam sein und unsere Vorräte strecken«, jeden Tag hielt der Obersekundaner der Küchenfee einen derartigen Vortrag, wenn sie zuviel Fett an die Speisen tat. Aber stets mit dem gleichen Erfolge, daß Hanne ihm ungeduldig den breiten Rücken kehrte.

      Klaus aber, der Frechdachs, foppte sie obendrein: »Wenn ein noch größeres Geschütz als unsere Zweiundvierziger Mörser erfunden wird, dann heißt es nicht mehr die ›dicke Berta‹, sondern Ihnen zu Ehren sicher die ›dicke Hanne‹!«

      Auch Großmama war den Brotkarten nicht sehr hold. Das Alter gewöhnt sich ja schwerer an Neues, als die Jugend. Sie hatte immer einen reichlichen Haushalt geführt, und nun konnte sie nicht mal soviel trocken Brot kaufen, wie sie wollte! Ja, es wurde sogar knapp im Haus, denn Mäuschens Magen vergaß allmählich seinen Patriotismus und stieg wieder zu fünf Stullen abends empor. Großmama entzog es sich lieber selbst als den Kindern. Aber es ward ihr ganz ängstlich, so bei jedem Stück Brot, jedem Viertel Mehl überlegen zu müssen. Und Hans machte sie mit seinem Abwiegen und Berechnen von Grammen vollends wüst im Kopf.

      Was war das jetzt für eine Zeit, manchmal fand sich Großmama überhaupt nicht mehr darin zurecht.

      Fast in jeder Woche kamen die Enkel mit einem andern Anliegen aus der Schule heim.

      »Großmuttchen, hast du noch Gold?« erkundigte sich Nesthäkchen eines Tages.

      »Leider schmilzt es bei den Kriegspreisen jetzt sehr zusammen«, scherzte Großmama.

      »Du darfst aber gar kein Gold mehr haben, Großmuttchen, wir müssen alles Gold, was wir zu Hause auftreiben können, zur Schule mitbringen und Papiergeld dafür in Empfang nehmen.«

      »I, fällt mir ja nicht im Traume ein«, wies Großmama die Kleine energisch ab.

      Als vorsorgende und ängstliche Frau hatte sie sich soviel Geld wie möglich in Gold zurückgelegt. Gold behielt immer seinen Wert, selbst wenn Papiergeld wertlos war. Und das sollte sie jetzt fortgeben? Das wäre doch mehr als leichtsinnig!

      Aber Großmama rechnete nicht mit der Ausdauer und Beredsamkeit ihrer drei Enkel. Da kam der Klaus und trompetete durchs Haus: »Wer sein Gold nicht an die Reichsbank abliefert, versündigt sich am Vaterland!« Da hielt der Hans täglich ellenlange Vorträge, weshalb und warum es notwendig sei, alles Gold in den Staatsdienst zu stellen, daß Großmama allmählich mürbe wurde. Den Rest aber gab ihr Nesthäkchen mit seinen zärtlichen Bitten, Streicheln und Küssen. Das Schmeichelkätzchen setzte es zuerst durch,