Vera wurde nicht klug aus der Sache. War das nun Ernst oder Spaß?
»Ja, natürlich – schnell, zieh dich an. Aber warm machen mußt du dich, es ist verflixt kalt draußen.«
»Von das Norrdpol du wollen holen Kohlen? Rreden du auch nicht in Fieberr, Annemie? Sein du auch nicht krrank?« Ängstlich forschend betrachtete Vera das kälterote Gesicht der Freundin. Hatte sie am Ende auch die Grippe?
»Nee – nee – Verachen, ich bin ganz gesund. Du brauchst mich nicht so ängstlich anzusehen. Ich meine ja den Nordhafen und nicht den Nordpol, trotzdem es da wohl auch nicht kälter sein wird. Am Nordhafen werden von den Schiffen Kohlen verkauft, hat mir unser Portier gesagt. Da will ich für Großmama einen Zentner im Kinderwagen holen, und du sollst mir ziehen helfen.«
»Gerrn, aberr meine Tante nicht sein zu Hause. Ich nicht kann frragen ihrr Errlaubnis.«
»Desto besser!« Annemarie fürchtete wohl mit Recht die Einwendungen der Tante. »Mach’ rasch – bis deine Tante nach Hause kommt, bist du längst wieder da.«
Einige Minuten später schoben ein blondes und ein schwarzes Backfischchen, mit lustigen Augen aus der Pelzvermummung herauslugend, einen leeren Kinderwagen durch die schneeglitzernden Straßen.
Trap – trap – trap ging’s. Die Füße stampften den gefrorenen Schnee, um sich zu erwärmen. Der Weg zum Nordhafen war weit. Die eleganten Mietshäuser des Berliner Westens machten Geschäftsbauten, dann kasernenartigen Arbeiterhäusern Platz. Das Straßenpublikum veränderte sich ebenfalls. Man sah keine kostbaren Pelze mehr, sondern fadenscheinige Mäntel und Tücher, durch die der scharfe Nordostwind pfiff.
Die Mädchenaugen sahen nicht mehr lustig drein, sondern ziemlich jämmerlich. War man denn noch nicht bald da? Die Kälte prickelte in den Fingern, die den Wagengriff umspannt hielten.
»Wenn wir nachher den Zentner Kohlen nach Hause schieben, werden wir schon schwitzen,« tröstete Annemarie sich und die frierende Freundin. »Sieh nur, Vera, da kommen Kohlen – eins, zwei, drei Hundewagen. Nun ist es sicher nicht mehr weit,« frohlockte sie.
Mit neuen Kräften ging es vorwärts. Wirklich, bei der nächsten Straßenbiegung sahen die beiden den Nordhafen vor sich. Aber was sie noch erblickten, war nicht gerade dazu angetan, ihren gesunkenen Lebensmut zu heben. Schwarz von Menschen und Fuhrwerken aller Art wimmelte es vor ihnen bis zu den Kähnen hinunter, von denen die Kohlen ausgeladen wurden. Das war ein Gedränge und ein Geschrei, daß einem Sehen und Hören vergehen konnte.
Vera hielt die mutig vorwärts strebende Freundin ängstlich zurück.
»Wollen du gehen wirrklich in die Gewühl, Annemie?« fragte sie zögernd.
»Natürlich, denkst du, wir haben den weiten Weg in der Kälte gemacht, um jetzt das Hasenpanier zu ergreifen? Du kannst hier mit dem Kinderwagen warten, Verachen, ich werde sehen, daß ich Kohlen auftreibe. Auf Wiedersehen!« Da verschwand Annemaries dunkle Pelzmütze zwischen all den Menschen und Pferdeköpfen. Vera stand allein mit ihrem Kinderwagen da, und die Tränen schössen ihr in die Augen. War es vor Kälte oder vor Bangigkeit?
Hu – pfiff ein scharfer Wind vom Hafen her. Am Nordpol konnte es wirklich nicht eisiger sein als hier am Nordhafen. In der Tat, ein großes Opfer war es, das Annemarie heute von ihrer Freundschaft forderte.
Viertelstunde auf Viertelstunde verging. Annemarie kam nicht wieder. Vera hatte überhaupt kein Gefühl mehr in Händen und Füßen. Mit angstvollen Augen beobachtete sie den Zeiger der Kirchturmuhr drüben. Dreiviertel zwölf. Sie mußte nach Haus zu Tisch, wollte sie heute nachmittag nicht zu spät zur Schule kommen. Ob sie den Kinderwagen einfach im Stich ließ und fortging? Solche schwarzen Gedanken wälzte Vera in ihrem schwarzen Köpfchen. Jedes warme Freundschaftsgefühl hatte der eisige Nordost davongeblasen.
Da fühlte sie plötzlich etwas Heißes an ihren Lippen. Hinter ihr stand Annemarie und hielt ihr mit erklammten Fingern einen Topf schwarzen heißen Kaffees an den Mund. »Da trink, Verachen, daß du warm wirst. Es ist zwar kein Mokka, aber heiß ist er wenigstens. Ich habe ihn drüben in der Destille erstanden.«
»Haben du Kohlen?« Veras erstarrte Finger begannen an dem heißen Topf aufzutauen. Auch ihre erfrorenen Freundschaftsgefühle erwärmten sich unter Annemaries liebevoller Fürsorge wieder.
»Nee, noch nicht. Es ist ein zu großer Andrang. Da können wir bis morgen früh hier anfrieren. Aber einen Kavalier habe ich aufgegabelt, der mir die Kohlen besorgen wird.« Annemarie wies auf einen etwa fünfzehnjährigen Burschen, der ihr folgte. »Er besorgt mir die Kohlen zur Großmama hin. Ich habe ihm zehn Mark dafür gegeben und ihm warmes Essen und ein Paar abgelegte Stiefeln von Klaus versprochen. Dafür tut er’s. Wir können dann ruhig mit der elektrischen Bahn nach Hause fahren, den Kinderwagen lasse ich ihm hier.«
»Aber die Geld für die Kohlen? Du nicht können lassen frremde Mensch soviele Geld, Annemie,« flüsterte die Schwarze der Blonden warnend zu.
»Tu ich auch nicht, du Schlaukopf. Er will es auslegen. Heute nachmittag bekommen wir unsere Kohlen. Und nun schleunigst nach Hause, sonst denkt Großmama, ich sei irgendwo eingefroren.«
So gut es gehen wollte, schrieb Annemarie mit den klammen Fingern auf ein Notizblatt die Adresse der Großmama und überreichte sie ihrem Kavalier, der sie grinsend in Empfang nahm.
»Also, je mehr Kohlen, desto besser! Und passen Sie gut auf den Kinderwagen auf, es ist ein gepumpter.«
Dann fuhr Doktors schlaues Nesthäkchen, vor Kälte zitternd, aber stolz darauf, daß es seine Sache so sein gemacht hatte, mit Vera nach Haus.
Kulickes Kinderwagen sah kein Mensch mehr wieder. Doktor Braun mußte hohen Schadenersatz dafür leisten.
Großmama und Tante Albertinchen bekamen keine Kohlen, aber Annemarie und Vera – die Grippe.
13. Kapitel
Die Rotbemützten
Zwei Jahre sind seit jenem bösen Winter dahingegangen. Durch die Welt geht wieder ein Frühlingsahnen. Vom Grunewald her weht es lind und weich über das steinerne Häusermeer der Millionenstadt. Goldene Lichtwellen läßt die Frühlingssonne durch die weitgeöffneten Fenster in die Zimmer und in die Herzen der Menschen strömen. Auf den Straßen und Plätzen strecken welke alte Hände den Vorübereilenden die ersten Schneeglöckchen und Märzveilchen zum Verkauf entgegen. Kinder peitschen den Kreisel. Schwalben zwitschern in blauer Frühlingslust.
Wie eine Erlösung geht es nach bangem Winterdruck durch die aufatmende Menschheit. Lenz wird es! Alles Schwere, alles Drückende lacht die goldene Sonne davon.
Ei – hat denn das junge Menschenkind, das da an dem zierlichen Schreibtisch den Blondkopf tief in Bücher und Hefte vergraben hat, gar keinen Blick für den ans Fenster pochenden Lenz? Fühlt es nicht, wie kosend die Sonne es mit warmen Strahlenfingern streichelt?
Nein, Doktors Nesthäkchen murmelt lateinische Worte vor sich hin, rechnet mit Ix-Quadrat und Ypsilon. Durch das hübsche Köpfchen ziehen Geschichtszahlen, Literaturdaten, englische und französische Verben in buntem Reigen. Annemarie Braun hat keine Zeit, dem ersten schüchternen Anpochen des Lenzes zu lauschen. Noch ist der Druck, der seit Wochen ihre junge Seele mit eisernen Folterzangen umklammert hält, nicht gewichen. Noch steht es vor ihr, das drohende, immer näherkommende Schreckgespenst: das Abiturientenexamen.
O Gott! – Annemarie war seit Tagen gar kein Mensch mehr. Nur noch ein Examensbüffel. Dieser Ehrentitel stammte natürlich von Klaus, der nach eigenen berühmten Mustern der Schwester dringend davon abriet, auch nur noch ein Buch anzurühren. »Je weniger man zum Examen büffelt, um so besser besteht man es. Durch Lernen verdummt man bloß, und der gesunde Menschenverstand rostet ein.«
Aber Annemarie hatte wenig Zutrauen zu den Weisheitssprüchen des flotten Studenten. Die hielt sich lieber an Hans, der sich täglich die Zeit nahm, eine Stunde Latein und Mathematik