Licht ausschalten: denn er hatte seinen Saal nur auf zwei Stunden vermietet.
Das gab nun erst einen Tumult und einen Jubel.
Vera fand ihre Tante nicht, Marianne purzelte in den Waschkorb und Annemarie tanzte selbst in der ägyptischen Finsternis noch den Tanz zu Ende. Hatte eine Mutter glücklich ihr Küken ergattert, war es im nächsten Augenblick wieder übermütig im Dunkeln entwischt.
Schließlich aber hatte man doch alle in die Garderobe spediert. Ein Gewirr von Überschuhen und Beinen. »Kinder, habt ihr schon eure französische Ausarbeitung über Jerusalem fertig?« erkundigte sich Marlene, den rosa Seidenschal um das dunkle Haar schlingend.
»Quatsch – dazu ist morgen noch Zeit« – »heute denken wir nicht an die dumme Schule« – – – Annemarie aber lachte: »Jawohl, sur les murs de Jerusalem nous dansons boston et foxtrott
.«
Großmama zärtlich untergeärmelt, tanzte Doktors Nesthäkchen unter dem aufgespannten Regenschirm im Bostonschritt die regennassen Straßen entlang nach Haus. Die alte Dame mußte mit, ohne Rücksicht auf die spritzenden Pfützen. Der Unband war nicht zu regieren. Noch im Nachthemd tanzte Annemarie ins Bett hinein – und dort ging’s weiter zum Federball.
12. Kapitel
Kohlennot
Kalt war’s – bitterkalt. Der Nordost pfiff und heulte im Ofen. Dort konnte er sich austoben, so viel er Lust hatte, denn in vielen Berliner Öfen brannte kein Feuer. Die Kohlennot war groß in der Millionenstadt.
In Nesthäkchens gemütlichem Mädchenstübchen blühten jetzt Eisblumen an den Fenstern statt bunter Winden und Astern. Und gemütlich war es dort durchaus nicht mehr. Hundekalt war es in Annemaries Reich. »Grönland« hatte Annemarie es getauft. Denn die wenigen Kohlen, die man bekam, mußten zur Heizung des Sprechzimmers und des gemeinsamen Wohnzimmers verwendet werden.
Zwischen der weißen Blumenkrippe und dem Bett mit der rosenroten Steppdecke marschierte ein Eskimo mit rosenroter Nasenspitze hin und her. Er trug einen Pelzmantel der Mutter und Pelzüberschuhe an den Füßen, als ob statt des Teppichs meterhoher Schnee dort läge. Eine dicke grünwollene Rodelmütze war tief über die Ohren gezogen und verdeckte alle widerspenstigen Blondhaare. Der grüne Wollschal, der mehrfach um den Hals geschlungen war und bis an die rosenrote Nasenspitze reichte, ließ in sekundenlangen Zwischenräumen Atemwolken hervorquellen. Denn es war so kalt in dem Zimmer, daß man seinen Hauch sah. Die Hände des Eskimos steckten in riesengroßen Fausthandschuhen, die zur Wintersportausrüstung des ältesten Bruders gehörten. Sie hielten den Tacitus wie zwei gewaltige Bärentatzen gepackt. Und wären die strahlenden Blauaugen nicht über der rosenroten Nasenspitze gewesen, so hätte wohl keiner in der Eskimokleidung Doktors Nesthäkchen erkannt.
Hin und her tappten die Pelzschuhe, auf und ab. Denn es war unmöglich, bei der eisigen Temperatur am Schreibtisch zu sitzen. Mit den Atemwolken quollen lateinische Sätze durch die Maschen des grünen Rodelschals. Der Eskimo war so vertieft in seine lateinische Lektüre, daß er nicht merkte, wie sich die Tür hinter ihm öffnete.
»Jotte doch, so’n armes Wurm! Bei lebendigem Leibe muß es hier erstarren. Jeh doch bei deine Mutti, Annemiechen – drin in der Wohnstube is es schön mollig.« Das blaurote Gesicht Hannes blickte voll gutmütigen Mitleids auf den frierenden Eskimo.
»Nee, das geht nicht, Hanne. Drin ist mir zu viel Radau. Dabei kann kein Mensch Tacitus lernen,« klang es dumpf aus der Wollvermummung.
»Radau? Dir piept es woll, Kind. Frau Doktorn ist die ruhigste Frau von der Welt. Wenn du selbst man keinen Radau machst!«
»Das verstehen Sie nicht, Hanne. Drin singt und flötet Mätzchen: Muttis Schere und ihr Fingerhut fallen abwechselnd runter: Klaus kommt plötzlich rein und fängt laut hämmernd an, Stiefel zu besohlen. Und zum Überfluß bimmelt alle paar Minuten das Telephon. Zu Tacitus braucht man unbedingte Ruhe und Sammlung.«
»Na, denn friere meinetwegen weiter mit Tacitussen,« knurrte die Küchenfee, ärgerlich, daß Nesthäkchen keine Vernunft annehmen wollte. »Da – trinke mal erst das heiße Warmbier, was ich dich jekocht habe, Kind.« Sie stellte eine dampfende Tasse auf den Tisch. »Wenn man inwendig jut einheizt, braucht man auswendig keine Kohlen.«
»Hanne, Sie sind doch die allerbeste, trotzdem Sie solch ein Knurrteufel sind. Ich habe aber ein Mittel, das noch besser einheizt als Warmbier und Kohlen.« Damit kriegten die Bärentatzen des Eskimos die nichts Böses ahnende Hanne zu packen und begannen sie im Foxtrottschritt durchs Zimmer zu schleifen.
»Annemiechen – biste denn janz und jar varrickt,« japste die dicke Hanne atemlos. »Tanz’ meinetwegen mit Tacitussen Foxtrott, aber mir laß jefälligst unjeschoren.« Damit knallte sie die Tür hinter sich zu.
Der Eskimo lachte wie ein Kobold hinter ihr drein. Dann machte er sich über das Warmbier her. Wirklich, ganz mollig wurde einem danach. Noch ein paarmal die Arme um den Körper geschlagen, wie Nesthäkchen das den auf der Straße frierenden Berliner Droschkenkutschern abgesehen hatte, und nun wieder mit frischen Kräften an die Arbeit.
Die Klingel stand jetzt während der Sprechstunde nicht still. Denn Hand in Hand mit der Kälte schritt die Grippe, die heimtückische Krankheit, die so viele blühende Menschenleben dahinraffte, durch die Straßen der Großstadt. Da war kaum ein Haus, das sie mit ihrem schlimmen Besuch verschonte. Die Ärzte hatten Tag und Nacht keine Ruhe. Und Doktor Braun in seinem unermüdlichen Pflichteifer gönnte sich knapp die Zeit zu den Mahlzeiten.
»Du treibst es so lange, bis du selbst nicht mehr weiter kannst, Ernst,« warnte seine Frau besorgt.
»Zu Essen und Trinken muß Zeit sein. Das dankt einen kein Deibel nich, wenn man nachher selbst auf de Nase liejt,« räsonierte Hanne, wenn sie immer wieder das aufgewärmte Essen in die Kochkiste zurückpacken mußte, weil stets neue Hilfsbedürftige erschienen.
Auch Annemarie bat den Vater unter zärtlichem Streicheln, sich doch ein wenig mehr Ruhe zu gönnen. Aber weder die Sorge seiner Gattin, weder Hannes Gebrumm, noch Nesthäkchens Betteln vermochten Doktor Braun von seiner unausgesetzten Pflichterfüllung zurückzuhalten. Dieses strenge Pflichtbewußtsein wurde, ohne daß der Vater es wußte, seinen Kindern zum nachahmenswerten Beispiel. Hans, sein Ältester, bedurfte dessen nicht erst. Der war schon als Schuljunge stets der Primus durch alle Klassen gewesen; der hatte seine Examina mit Auszeichnung gemacht und war jetzt als Referendar ebenso tüchtig und fleißig wie als Schüler. Mit Klaus hingegen lag die Sache anders. Klaus hatte stets das Wort befolgt: »Wer die Arbeit kennt und sich nicht drückt – der ist verrückt.« Durch das Gymnasium hatte er sich mit viel Geschick mittels Klatschen und Eselsbrücken glücklich hindurchgeschwindelt. Wie er durch das Abiturium mit durchgerutscht war, blieb der Braunschen Familie ein ungelöstes Rätsel. Denn arbeiten hatte ihn keiner je zum Abiturientenexamen gesehen. Die Studentenzeit aber hielt er nun vollends lediglich für den Zweck des Kollegschwänzens, des Kneipens und des darauf folgenden Katers eingerichtet. Er verbummelte in den ersten Semestern gehörig. Jetzt aber, wo er den Vater Tag und Nacht im Dienste der Menschheit tätig sah, begann er sich seines Drohnenlebens zu schämen. Das äußerte sich dadurch, daß er nicht jede Kneipe-und jeden Bierbummel mehr mitmachen mußte. Daß er bei den Kollegs nicht nur als Gast, sondern als regelmäßiger Hörer erschien. Und daß er zu Hause für die gesamte Familie, Hanne und Minna miteingerechnet, Stiefeln besohlte, in denen zwar kein Mensch laufen konnte, da stets irgendwo ein Nagel heimtückisch herausschaute. Dafür machte aber diese segensreiche Beschäftigung um so mehr Lärm und ward zum Apfel der Zwietracht zwischen ihm und Nesthäkchen. Denn Annemarie behauptete voll Undankbarkeit, durch das abscheuliche Gehämmer beim Lernen gestört zu werden. Während Klaus seinerseits geltend machte, daß bei Annemaries lautem Auswendiglernen der sanftmütigste Mensch die Tollwut bekommen könne.
Annemarie lernte augenblicklich in der Tat »mit Dampf« trotz der Kälte. Sie mußte fleißig sein, um bald Medizin studieren zu können, und den Vater, der ohne Rücksicht auf seine Gesundheit immer hilfsbereit