Else Ury

Die beliebtesten Jungmädelgeschichten von Else Ury


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Doktor Lange Annemarie aber sein neues Kindermädel nannte, das verstand Doktor Braun nicht. Die Hauptsache, das Kind war in guter Obhut, bis der Eisenbahnverkehr wieder aufgenommen wurde.

      Ja, Annemarie war wirklich bei Doktor Lange in Sagan gut aufgehoben. Nicht mehr als Kindermädel, sondern als liebes Pflegetöchterchen, das Frau Doktor gerne zur Hand ging. Latzschürzchen und Tollhäubchen wurden wieder abgelegt. Doch die Kinder, die mit Liebe an ihr hingen, versorgte Annemarie trotzdem mit Freuden. Eierkisten und Arnsdorfer Küken hielten durch Fürsprache des Arztes ebenfalls ihren Einzug bei Doktor Langes.

      Aber nur für kurze Zeit. Als nach acht Tagen der Eisenbahnerstreik zu Ende war, und Annemarie, mit Reisegeld von Doktor Lange versehen, dankbar Abschied von den Gastfreunden nahm, bedauerten diese aufrichtig, sich sobald von dem lieben Mädel wieder trennen zu müssen. Auch Doktors Nesthäkchen wäre gern noch bei den guten Menschen geblieben, wenn – ja, wenn es nicht heimgegangen wäre zu Vater und Mutter.

      11. Kapitel

       Tanzstunde

       Inhaltsverzeichnis

      Die lustigen bunten Astern in den grünen Blumenkästen, die Annemarie selbst vor ihren Fenstern gesät hatte, waren abgeblüht. Novemberregen schlug die letzten bräunlichen Blätter tot. Jenseits der Scheiben neigte sich ein blonder Mädchenkopf in angestrengter Arbeit über dickleibige Folianten und Hefte. Die Feder kritzelte eifrig. Ab und zu trat eine kleine Falte auf die weiße Mädchenstirn. Es war nicht so einfach, sich die Reife für die Prima zu erringen. An die Obersekunda wurden im letzten Halbjahr große Ansprüche gestellt. Doktors Nesthäkchen, so begabt es auch war, mußte fleißig arbeiten, um den Wünschen der Lehrer zu genügen.

      Außerdem gab Annemarie noch dreimal in der Woche zurückgebliebenen Schülerinnen unterer Klassen Nachhilfestunden. Der Ordinarius der Obersekunda hatte Umfrage in seiner Klasse gehalten, wer Nachhilfestunden übernehmen würde. Annemarie Braun und Marlene Ulrich hatten sich sofort gemeldet. »Denke nur, Marlene, was wir alles von dem schrecklich vielen Geld, das wir verdienen werden, bestreiten können,« hatte Annemarie frohlockend Pläne gemacht. »Theater-und Konzertbillette, Eisbahn und Tennis – Klaus hat von seinem Stundengeld sogar mit Hans im Sommer eine Wanderung durch den Schwarzwald unternommen.«

      Die Eltern waren allerdings nicht so recht einverstanden mit den Plänen des Töchterchens. »Kind, du hast selbst genug zu lernen, um gut im Gymnasium mitzukommen. Und wenn du dich in deiner freien Zeit im Haushalt betätigst, ist dir das gesünder und zuträglicher. Du hast doch selbst als Kindermädel bei Doktor Langes einsehen müssen, wie wenig du noch von wirtschaftlichen Dingen verstehst,« hatte die Mutter zu bedenken gegeben.

      »Ich vermiete mich ja so bald nicht wieder als Kindermädel.« Alle Einwürfe hatte Annemarie fortgelacht. »Und es dürfen überhaupt nur Schülerinnen, die gut in der Klasse stehen, Unterricht erteilen. Schlechte Schülerinnen werden zurückgewiesen.«

      »Es werden aber unter den guten Schülerinnen sicherlich junge Mädchen sein, die ein Taschengeld notwendiger brauchen als du, Lotte,« hatte auch der Vater eingewandt. »Die sich nicht nur Theaterbillette davon kaufen müssen, sondern in der heutigen schweren Zeit auch Kleider und Schuhe. Ich möchte nicht, daß meine Tochter ärmeren Mädchen ihren Verdienst fortnimmt.«

      »Tut sie ja auch nicht, Vatchen. Alle, die sich gemeldet haben, sind berücksichtigt worden und haben Stunden bekommen. Nur schwache Schülerinnen sind ausgeschaltet worden.«

      So verwandelte sich Doktors übermütiges Nesthäkchen dreimal in der Woche in eine ehrbare Lehrerin und wurde ein kleiner Krösus, wie Vater sie scherzweise nannte.

      Eine Stunde aber gab Annemarie, für die sie keine Bezahlung bekam, und die ihr trotzdem die größte Freude bereitete. Sie unterrichtete ihre Freundin Vera. Die junge Deutschpolin stand schlecht in der Klasse. Annemarie gab sich grenzenlose Mühe, das fehlerhafte Deutsch der Freundin einwandsfreier zu gestalten, und ihr behilflich zu sein, die Schwierigkeiten, die ihr aus dem mangelhaften Verständnis der deutschen Sprache erwuchsen, überwinden zu helfen. Denn ihr Onkel, Herr von Hohenfeld, wollte Vera, wenn sie zu Ostern nicht nach Unterprima kam, vom Gymnasium fortnehmen. »Unnütze Tierquälerei,« nannte er es. Vera sollte ins Lettehaus und Photographie erlernen. Nein, ohne ihre Vera machte Annemarie das Gymnasium auch keinen Spaß mehr. Vera mußte nach Unterprima versetzt werden.

      Die fleißigen Bemühungen der Freundinnen hätten auch sicher Erfolg gehabt. Wenn sie nur nicht in diesem Winter gerade Tanzstunde genommen hätten. Tanzstunde – ist es wohl möglich, an deutsche Grammatik, an Geometrieberechnungen und unregelmäßigen Verben zu denken, wenn es zu überlegen gilt, ob man bei dem neuen Tanz Hiawatha erst drei Schritte links, oder drei Schritte rechts machen muß? Welche Tour bei dem One-step zuerst kommt, ob die Schleiftour oder die Knickstour? Das waren Fragen von so ungeheurer Wichtigkeit, daß man darüber wirklich Parallelogramm, Virgil und Hermann-und-Dorothea-Aufsatz vergessen konnte.

      Frau Doktor Braun war gleich dagegen gewesen, Annemarie in diesem Winter Tanzstunde nehmen zu lassen. Sie kannte ihr zerfahrenes Töchterchen, das sich dadurch sicher von ihren Pflichten ablenken lassen würde. Sie riet ihrer Lotte, bis nach dem Abiturientenexamen mit der Tanzstunde zu warten.

      »Was – bis nach dem Examen? Dann bin ich ja eine Greisin. Neunzehn Jahre bin ich ja dann schon alt. Nee, Mutti, dann bin ich sicher so steifknochig wie Tante Albertinchen. Und die Mädel nehmen doch alle in diesem Winter. Wer weiß, ob Klaus dann gerade in Berlin studiert; dieses Jahr ist er doch noch hier. Und es ist doch gut, für alle Fälle einen Herrn zu haben, der mit einem tanzt, wenn man sitzen bleibt.«

      »Wenn man nachher in der Klasse sitzen bleibt, setzt es einen Tanz, der weniger schön ist, Lotte!«

      Was nützt alle Mutterlogik den Bitten und Versprechungen des Töchterchens gegenüber. Annemarie nahm mit ihren Freundinnen Tanzstunde und brauchte wirklich keine Angst zu haben, bei einem Tanz sitzen zu bleiben. Das lustige, anmutige Ding war die beliebteste Dame in der Tanzstunde. Selbst Vera, welche die leichtfüßige Grazie der Polin besaß und mit ihrem zarten Gesicht zu dem tiefschwarzen Haar als kleine Schönheit galt, wurde nicht so begehrt wie Doktor Brauns munteres, kindlich frohes Nesthäkchen.

      »Ja, wenn die Annemarie ihren Bruder Klaus mit seinen Freunden in der Tanzstunde hat, ist es kein Wunder, wenn sie immerzu aufgefordert wird,« meinten die Kränzchenschwestern. Aber diese Äußerung war nicht ganz frei von Neid, und daher nicht so recht maßgebend.

      Annemarie wollte ihrer Mutter beweisen, daß man Tanzstunde haben konnte, ohne seine Pflichten zu vernachlässigen. Darum lernte sie, daß ihr der Kopf rauchte, während draußen der Novemberregen gemütlich gegen die Dachrinne trommelte. Stand doch als Belohnung heute abend die Tanzstunde wieder in Aussicht.

      Einen französischen Aufsatz über Chateaubriands »Jerusalem« hatte sie augenblicklich auszuarbeiten. Ziemlich schwierig und »geisttötend«, wie allgemein von den Mädeln Kritik geübt wurde. » Les murs de Jerusalem se lèvent« – – – da – horch – Musik – ein Leierkasten trotz Wind und Wetter. Was spielte er denn? Ach, das Schwarzwaldmädel. Annemaries frische Lippen begannen die bekannte Melodie, die vom Hof heraufklang, mitzuträllern. »Lalalalala – lalalalala – les murs de Jerusalem se lèvent sur sept collines – tralala – tralala.« Die Füßchen begannen im Takt auf und niederzuwippen. » Les pierres des murs se composent de granit – – –« Da stürzten die Mauern von Jerusalem mit Annemaries Pflichtbewußtsein zugleich zusammen. Der Stuhl flog zu Boden, Annemarie aber zwischen Schreibtisch und Bett im Rheinländerschritt auf und nieder. Tralala – lalala. Was kümmerte sie noch, aus welchen Steinen sich die Mauern von Jerusalem zusammensetzten? Hin und her, rechts und links, rund im Kreis tralalalalala.

      Das Hausmädchen brachte das frisch geplättete Rosenknospenkleid. Sie blieb vor Erstaunen über ihr herumhopsendes Fräulein starr in der geöffneten Tür stehen.

      Aber schon hatte Annemarie sie beim Wickel. »Sie können doch Schwarzwaldmädel, los – Minna!« Tralala – lalala – Minna mußte mit, auf und