zu erledigen und die Unterrichtsstunden, die man selbst gab, pünktlich innezuhalten. Da kann der Rodelschlitten noch so sehr nach dem Grunewald locken – für derartige Extravergnügungen blieb der Sonntag. Selbst die Tanzstunde mit all ihren Zauberklängen wurde mit Aufbietung aller Willenskraft in den Hintergrund geschoben, solange die Schulbücher das Regiment führten. »Ich lerne, daß mir der Kopf raucht, da merke ich die Kälte nicht,« pflegte Annemarie zu scherzen.
Eine Unterrichtsstunde, die Nesthäkchen erteilte, war aber doch der Kälte zum Opfer gefallen. Vera hatte gestreikt. Ihre Wohnung, die Zentralheizung hatte, wurde schon seit Wochen wegen des Kohlenmangels nicht mehr geheizt. Ob die Mieter sich auch beschwerten, ob sie drohten und schimpften, es nutzte ihnen alles nichts, sie mußten frieren. Annemaries »Grönland« war nicht wärmer. Das Familienzimmer, das die Mutter den jungen Mädchen zur Verfügung stellte, wurde als Mittelpunkt aller häuslichen Geräusche abgelehnt. Annemarie machte den Vorschlag, die Nachhilfestunde auf den Neuen See, der sich seit Wochen in eine spiegelblanke Eisbahn verwandelt hatte, zu verlegen. Mit Begeisterung nahm die Freundin diesen Ausweg an. Vera war eine vorzügliche Eiskünstlerin, und auch Doktors Nesthäkchen lief anmutig und graziös. Ja, ja – auf dem Neuen See wurde man warm. Dort würde es mit dem Unterrichten und Lernen sicher gehen. Es wäre auch gegangen, denn guten Willen dazu brachten Lehrerin und Schülerin mit. Wenn es nur dort keine Musikkapelle gegeben hätte, die alle die neuen Tänze, die man aus der Tanzstunde her kannte, erklingen ließ. Konnte man dabei trockene Grammatik treiben, wenn es einem in den Beinen zuckte, einen eleganten Eistanz zu vollführen, der die Bewunderung der vom schneeumböschten Ufer Zuschauenden erweckte? Da tauchte plötzlich in Nesthäkchens gelehrten Auseinandersetzungen irgendein Tanzstundenjüngling auf und warf die ganze deutsche Grammatik, die Annemarie so mühsam Veras hübschem Köpfchen einzutrichtern bemüht war, über den Haufen. Veras Versetzungsaussichten nach der Prima standen schlecht. Und daran waren nur die Kälte und die Kohlennot schuld.
In die Schule gingen die Mädel diesen Winter gern. Dort wärmte man sich wenigstens auf. Die städtischen Behörden wurden genügend mit Kohlen versorgt. Aber eines Tages wartete auch dort eine Überraschung. Herr Lustig, der Gesanglehrer, der die erste Stunde gab, da man zum Singen kein Licht brauchte, teilte den Schülern mit, daß der Unterricht heute zum letztenmal im Lyzeum erteilt würde. Das benachbarte Knabengymnasium sollte künftig auch der Bildungsstall der weiblichen Gymnasiasten werden. Der Unterricht würde nachmittags von zwei bis sieben Uhr dort stattfinden. Auf diese Weise würde die Heizung doppelt ausgenützt, und die Hälfte der Schulen sparte Kohlen.
»Fein, da können wir uns wenigstens ausschlafen!« Annemarie Braun rief es begeistert.
»Mein Vater ist vormittags auf dem Gericht, da kann ich in seinem warmen Arbeitszimmer meine Aufgaben machen,« frohlockte Marlene.
»Ich auch« – »ich auch.« Es war eine allgemeine Freude über die Veränderung. Allerdings erhoben sich auch einwendende Stimmen: »Das geht nicht, ich habe zweimal in der Woche nachmittags Turnstunde« – »wir haben doch unser Lesekränzchen am Sonnabend nachmittag« – »meine Klavierstunde kann bestimmt nicht verlegt werden« – »unsere Tanzstunde fängt schon um sechs Uhr an, die versäumen wir auf keinen Fall – – –« Trotz Turn-und Klavierstunde, trotz Lesekränzchen und Tanzstunde hatten die Behörden kein Einsehen. Der Schulunterricht fand künftig am Nachmittag statt.
»Nun kann der Eskimo aus Grönland fortziehen,« erklärte Nesthäkchen daheim und beschlagnahmte täglich nach der Morgensprechstunde das behaglich warme Zimmer des Vaters.
Doktor Braun liebte diese Gemeinschaft eigentlich nicht. Er hatte gern sein Reich für sich. An seinen Schreibtisch durfte allenfalls Muttis ordnende Hand sich wagen. Und selbst dann behauptete er, daß ihm alles verlegt sei und daß man nichts mehr finde. Jetzt, wo sein huschliges Nesthäkchen sich an seinem Heiligtum breitmachte, war das schlimmer als je. Bald fehlte ein Rezept, bald ein Kassenbon. Heute lag das Hörrohr nicht an seinem Platz, morgen wagte sich gar ein vergessenes französisches Buch zwischen medizinische Fachschriften.
»Wenn du deine Gedanken und deine Siebensachen nicht zusammenhalten wirst, marschierst du wieder nach Grönland zurück – verstanden, Lotte?« drohte Doktor Braun seinem Nesthäkchen.
Das aber lachte zu Vaters Worten. »Ehe meine Frostpfoten nicht geheilt sind, darfst du mich nicht rausschmeißen, Vatchen. Sonst kriege ich am Ende auch noch die Grippe!« Der Schlaukopf wußte, wie besorgt der Vater stets gewesen, daß sich sein Nesthäkchen in dem ungeheizten Raum etwas holen könnte.
Mutti aber sorgte sich eigentlich jetzt noch mehr, wo sie Annemarie im warmen Sprechzimmer ihres Mannes bei der Arbeit wußte. Wie leicht konnten dort noch Grippebazillen herumschwirren und ihr Nesthäkchen bedrohen. Fehlte doch jetzt schon die Hälfte der Klasse. Auch die Lehrer waren zum Teil erkrankt. Alle mußten sie der Modekrankheit ihren Tribut zahlen.
»Wir sind gefeit, Muttchen – in ein Doktorhaus wagt sich die Grippe nicht – presente medico nihil nocet
,« prahlte Nesthäkchen mit seinen lateinischen Kenntnissen.
Aber die Grippe, die heimtückische, nahm keine Rücksicht auf Annemaries lateinische Gelehrsamkeit. Die schlüpfte ungesehen die mit roten Läufern belegte Treppe hinauf. Mit der aus der Schule heimkehrenden Margot huschte sie in die Thielensche Wohnung hinein. Dort scheuchte sie Margot mit brennender Stirn auf das Krankenlager. Auch die kleinen Geschwister ergriff sie. Doktor Braun ging manchen Tag dreimal hinüber, um nach den Schwerkranken zu sehen. Besonders Margot fieberte erschreckend hoch. Und wenn Annemarie den Vater nach dem Befinden der Freundin fragte, zuckte er nur die Achsel. Es stand sehr schlecht.
Annemarie hatte jetzt weder Lust zum Lernen, noch zum Schlittschuhlaufen oder zum Tanzen. Still und gedrückt stand das ausgelassene Backfischchen am Fenster, hauchte Gucklöcher in die eisblumigen Scheiben und starrte zu Thielens hinüber. Dort waren die Fenster nicht zugefroren, da sie dem scharfen Ostwind weniger ausgesetzt waren. Ab und zu tauchte dort drüben eine weiße Schwesternhaube am Fenster auf. Dann klopfte Annemaries Herz schneller. Wie mochte es Margot gehen?
Lieber Gott, wenn sie stürbe! Annemarie hatte kein reines Gewissen der kranken Freundin gegenüber. Hatte sie sich nicht oft über Margots pedantische Art lustig gemacht? Hatte sie ihr nicht den Namen »Tugendschäfchen« beigelegt? Und wie oft hatte sie Vera zärtlich umschlungen, sie gestreichelt und geherzt, bloß um Margot eifersüchtig zu machen. Wenn sie doch nur noch mal ihr Unrecht wieder gut machen konnte!
Gar zu gern hätte Annemarie persönlich nachgeschaut, wie es der armen Margot erging. Aber die Eltern hatten jegliche Verbindung mit Thielens der Ansteckungsgefahr wegen streng verboten.
Doch die Grippe kümmerte sich weniger als Nesthäkchen um das Verbot der Eltern. Durch die Hintertür wagte sie sich in die Braunsche Küche hinein. Minna, das Stubenmädchen, war die erste, die von ihren Fängen ergriffen wurde. Hanne pflegte sie getreulich und warf sich in die Brust: »Na, mir soll die Jrippe man drei Schritt von’n Leibe bleiben. Mit mich wird sie so leicht nich fertig.«
Es schien wirklich, als ob die Grippe vor der resoluten Hanne Respekt hätte. Sie machte einen großen Bogen um die energische Küchenfee herum und streckte die knöchernen Finger nach der schlanken Frau mit dem früh ergrauten Haar über dem noch jungen Gesicht am Fensterplatz des Wohnzimmers aus.
Mutti war krank. Jedes Kind empfindet ein Unbehagen, wenn die Mutter, die für alle da ist, für alle sorgt, das Bett hüten muß. Annemarie hatte dieses Unbehagen in gesteigertem Maße. Denn sie durfte nicht zur Mutter hinein; sie nicht pflegen und ihr Gesellschaft leisten, wie ihr Herz sie trieb. Ja, man schickte sie sogar aus dem Hause. Mutti selbst hatte es so angeordnet. Denn bei jungen Menschen trat die Grippe gefährlicher auf als bei reiferen. Frau Doktor Braun hatte nicht eher Ruhe, als bis ihr Nesthäkchen mit einem kleinen Handkoffer zur Großmama übergesiedelt war. Man mußte ihr den Willen tun, um das Fieber nicht zu steigern.
Für Annemarie bedeutete es von klein auf einen Festtag, wenn sie bei der Großmama sein konnte. Da war es so friedlich, so hell und sauber zwischen den alten Mahagonimöbeln, den blühenden Tulpen und Hyazinthen an allen Fenstern und den schneeweißen Tüllgardinen. Und Großmama selbst war so appetitlich, stets freundlich und voll Verständnis für alle kindlichen Wünsche. Diesmal jedoch