nun stand er unmittelbar bevor, der furchtbare Tag. Morgen – morgen um diese Zeit! Da trug sie entweder stolz die rote Abiturientinnenmütze oder – was wahrscheinlicher war – sie war mit Pauken und Trompeten durchgerasselt.
Hatte es Margot Thielen am gegenüberliegenden Fenster nicht viel besser? Der preßte der herannahende morgige Tag nicht das Herz mit tausend Examensqualen ab. Die saß gemütlich da drüben und entwarf zierliche Formen für Buchschmuck, Möbelstoffe und Handarbeiten. Denn sie besuchte die Kunstgewerbeschule.
Auch Vera Burkhard beneidete Annemarie heute. Wie hatte sie damals – zwei Jahre waren es gerade jetzt her – bedauert, daß Vera, welche die Reife für Unterprima nicht erlangt hatte, das Gymnasium verlassen mußte. Einen »Tyrann« hatte sie Veras Onkel heimlich gescholten, daß er ihrem täglichen Beisammensein erbarmungslos ein Ende gemacht hatte. Und heute? Wie dachte Annemarie heute darüber? Klug und einsichtsvoll hatte der Regierungsrat von Hohenfeld gehandelt, daß er Vera im Lettehaus künstlerische Photographie erlernen ließ; daß er sie nicht den Examensnöten des morgigen Tages ausgesetzt hatte.
Dort im Schrank hing das neue Examenskleid. Dunkel natürlich, der düsteren Schwere des Tages entsprechend. Mutti ahnte nicht, daß es morgen schon das Tageslicht erblicken sollte. Mutti und Vater sollten sich nicht auch noch um ihre Lotte aufregen und Sorgen machen. Dazu war Zeit genug, wenn sie durchgeplumpst war.
Ahnte Mutti wirklich nichts? Die Tür, die zum Wohnzimmer führte, ward leise geöffnet. Gedämpfte Schritte kamen näher. Besorgte Mutteraugen liebkosten das ziemlich blasse Mädchengesicht. Dann eine weiche, zärtliche Hand über flimmerndes Blondhaar – war es die Hand der Mutter oder streichelnde Sonnenfinger? Die Tür schloß sich wieder geräuschlos. Nur ein großes Stück Schokolade auf dem lateinischen Wörterbuch bewies der nicht von ihren Büchern Aufblickenden die mütterliche Fürsorge.
Drinnen im Nebenzimmer sagte Frau Doktor Braun seufzend zu ihrem Manne: »Wenn bloß das Examen unserer Lotte erst vorüber wäre. So oder so. Mir ist schon alles gleich. Das Bücherhocken ist nicht mehr mitanzusehen. Ganz blaß ist das arme Ding von dem Lernen bis in die Nacht hinein und von der Aufregung.«
»Na, nun hat es ja wohl die längste Zeit gedauert, Elsbeth. Aber wenn ich vorher gewußt hätte, daß das Mädel es so heiß nimmt, hätte ich nie und nimmer meine Einwilligung dazu gegeben. Ich dachte, unser Nesthäkchen wird mit seiner kecken Unverfrorenheit das Examen spielend bewältigen. Und nun wird sie mir dadurch zur nervösen jungen Dame. Das beste an ihr, die gesunde Frische des Körpers und des Geistes, geht dabei flöten!«
An das Fenstersims, vor dem der weiße Schreibtisch stand, schoß im Bogenflug ein Schwälbchen vorüber. »Quiwitt – quiwitt – komm mit – komm mit« – – – so zwitscherte es lockend. Annemarie beachtete es nicht.
Vom gegenüberliegenden Fenster ertönte der Freundschaftspfiff. Dreimal kurz hintereinander. Der drang hinein bis in Annemaries Verschanzung hinter mathematischen Formeln. Geistesabwesend hob sich der Blondkopf.
Drüben gestikulierte Margot in Zeichensprache. »Ich gehe jetzt Tennis spielen,« verkündeten die Fingerverrenkungen. »Komm mit! Du bist dann morgen frischer, als wenn du heute noch arbeitest.«
Annemaries Zeigefinger gab kurz und ausdrucksvoll Antwort. Er tippte nur gegen die Stirn, ob die Freundin nicht recht bei Troste sei, sie heute am Vortage des Examens zum Tennisspiel aufzufordern. Dann tauchte Annemaries Blondkopf wieder in ein Meer von Zahlen und Buchstaben unter.
Die Telephonklingel – Annemarie hatte es sich während der letzten Arbeitswochen abgewöhnt, sich dadurch stören zu lassen. Hannes breites Gesicht lugte zur Tür herein.
»Annemiechen, du sollst am Telephon kommen – – –«
»Zum Kuckuck, ich habe keine Zeit.«
»Hab’ ich ja auch schon Fräulein Veran jesagt. Aber se sagt, se müßte dir sprechen, sagt se.«
»Na ja, ich komm’ gleich.« Die sonst immer liebenswürdige Annemarie rief es ungehalten. Nervös und aufgeregt war sie durch das angestrengte Lernen und das Angstfieber vor dem morgigen Tage geworden.
»Na, wenn dis varrickte Examen vorüber is, mach’ ich auch drei Kreuze hinterdrein,« brummte Hanne ingrimmig.
»Nee, Hanne, dann gibt’s anderes für Sie zu tun. Dann müssen Sie backen und kochen für unser Abiturientenfest. Wenn – ja, wenn mich der Deibel nicht ans Schlafittchen genommen hat!« Das war wieder Doktors lustiges Nesthäkchen.
»Verachen – bist du’s?« erklang’s gleich darauf am Telephon. »Wie mir’s geht? Na, ungefähr so, wie dem Verurteilten kurz vor der Hinrichtung. Nein, mein Herz, ich gehe heute nicht mit dir spazieren! Ich lerne heute doch nichts mehr? Na, wenigstens brauche ich mir dann keine Vorwürfe zu machen, wenn’s schief geht. Du kommst morgen hin? Kneife beide Daumen – alle guten Geister seien mir gnädig!«
Wieder nur Sonnengeflirr und Lenzesweben draußen – drinnen Federgekritzel und Seitengeraschel. Plötzlich ward das Physikbuch, in dem Annemarie gerade studierte, mit lautem Knall zugeschlagen.
»Schluß!« sagte eine Stimme hinter Annemarie. »Jetzt hat’s ein Ende mit ochsen. Zieh dich an, wir gehen in den Tiergarten.«
»Nein, Hans, ich habe noch schrecklich viel zu wiederholen. Physik, die Gegenkaiser, schwäbische Dichterschule, Latein und Miltons Paradies. Vor Mitternacht werde ich damit nicht fertig.«
»Und dann willst du morgen frisch ins Examen steigen, Kleines? Nichts da. Was du heute noch nicht weißt, wirst du in den paar Stunden auch nicht mehr erwischen. Jetzt gehen wir spazieren. Dann ißt du Abendbrot und legst dich um halb zehn ins Bett. Es ist wichtiger, daß man einen klaren, freien Kopf mit ins Examen bringt, als daß man sich vor lauter aufgespeicherter Rumpelkammerweisheit überhaupt nicht mehr darin zurechtfindet. Hör’ auf mich, bemoostes Haupt, und hole deinen Hut, Kleines. Marsch!«
Annemarie schwankte noch immer. »Nur wenn du mir versprichst, Hänschen, mich unterwegs noch Latein und Mathematik abzufragen.«
»Den Deibel werd’ ich! Kein Wort wird beim Spazierengehen von dem verflixten Examen gesprochen. Los, Kleines!«
»Na, wenn ich rassele, hast du die Schuld, Hans!« Zögernd holte Annemarie Hut und Jackett herbei. Dabei streifte ihre Hand das im Schrank hängende Examenskleid. Wie ein Dolch fuhr es ihr durchs Herz. O Gott, war sie leichtsinnig, die Bücher im Stich zu lassen!
Doktors Nesthäkchen war in den letzten beiden Jahren eine junge Dame geworden. Kaum kleiner als der Bruder, rank und schlank wie eine Weidengerte. Das Blondhaar flimmernd im Sonnenschein und das schmal gewordene Gesichtchen so lieb und süß, daß manch bewundernder Blick das bildhübsche Mädel streifte. Annemarie merkte es nicht. Die war mit ihren Gedanken mittendrin in dem morgigen Tage.
Sie sah den Schulrat vor sich sitzen, daneben den Direks, der ihr, seitdem sie damals einen Schülerrat hatte gründen wollen, nicht ganz grün war. Fräulein Neuberts Eulengläser funkelten bösartig im Sonnenlicht und – – –
»Na, Annemie, ist’s hier nicht schön?« Hans war auf dem Platz vor der Kunstschule stehen geblieben, der wie ein großes Beet von farbenprächtigen Hyazinthen und Tulpen leuchtete.
»Wie meinst du?« Nesthäkchen sah und hörte nichts.
»Ja, potztausend, Mädel, du hast doch sicher eben wieder zwischen a und b Quadrat gesteckt. Denkst du, es ist interessant für mich, in einer Gesellschaft spazieren zu gehen, gegen die der Fisch noch geschwätzig ist?« räsonierte der Bruder gutmütig.
»Ich habe dir ja gleich gesagt, du sollst mich zu Hause lassen. Die Examensfurien sind hinter mir her, ich kann ihnen nicht entrinnen.«
»Entrynnien meinst du wohl.«
Da mußte Nesthäkchen lachen, hell und jung, wie es das so gerne tat. Und plötzlich war es, als ob das frische Lachen den Druck, der ihr die Seele abpreßte, sprengte. Frei und leicht ward es Annemarie plötzlich zumute. Sie sah jetzt erst, wie übermütig die goldenen Sonnenfüßchen auf dem Wege hin und her sprangen. Daß die