Else Ury

Die beliebtesten Jungmädelgeschichten von Else Ury


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dem Verlust ihres Handtäschchens und ihre Bitten, sich doch nur etwas aus ihrem Rucksack zu essen nehmen zu dürfen, da sie solchen Hunger habe, erschienen durchaus glaubwürdig. Trotzdem wagte der Mann nicht auf eigene Faust zu handeln. Er sprach mit dem Stationsvorsteher. Der ließ sich von der jungen Reisenden ganz genau beschreiben, was in dem Rucksack enthalten sei. Als Annemarie schließlich noch einen einbeinigen Hampelmann aufzählte, den Bübchen seiner Mie in den Rucksack geworfen, und den sie sich zur Erinnerung mitgenommen, schien auch der Stationsvorsteher von der Richtigkeit ihrer Angaben durchdrungen. Er fällte ein salomonisches Urteil: »Den Rucksack dürfen Sie mitnehmen, das Geflügel und die Eierkisten bleiben hier, ob kein anderer sie verlangt. Nach einigen Tagen können Sie sich dieselben abholen.«

      »Nach einigen Tagen – ja, wie lange soll denn der Eisenbahnerstreik dauern?« Angstvolle Blauaugen hingen an dem Mund des Beamten.

      Der zuckte die Achsel. »Zwei Wochen, vielleicht auch drei oder vier, wer kann das wissen?«

      Es wurde dem jungen Mädchen schwarz vor Augen.

      Vier Wochen lang sollte sie hier ohne Geld in Sagan festsitzen? Tante Käthchens Mundvorrat reichte bei sparsamer Einteilung höchstens noch zwei Tage. Und jede Nacht konnte sie doch auch nicht im Wartesaal sitzend zubringen. Es half nichts, sie mußte Geld verdienen. Soviel, daß sie Unterkunft und Unterhalt davon bestreiten konnte. Und die Rückreisekarte vor allem.

      In ungewöhnlicher Nachdenklichkeit machte sich Doktors Nesthäkchen, den Rucksack auf dem Rücken, zur Stadt auf.

      Was konnte sie eigentlich?

      Wenig. Etwas Obersekundaweisheit, damit konnte man nicht viel Geld verdienen. Einige Mädchen in ihrer Klasse gaben jüngeren Schülerinnen Nachhilfestunden. Aber sehr einträglich waren dieselben nicht. Davon würde sie sich nicht ernähren können. Und dann mußte man erst Stunden haben.

      Ob sie sich zur Erntearbeit irgendwo verdingen sollte? Erntearbeiter waren jetzt gesucht, das wußte sie von Arnsdorf her. Aber wie oft hatte Peter sie ausgelacht. Dabei hatte sie doch wirklich schwere Arbeit niemals geleistet. Nee, damit war es wohl auch nichts.

      Das Städtchen war erreicht. Es war sauber und anheimelnd. Auf dem Marktplatz ging es lebhafter zu als gewöhnlich. Die wider ihren Willen hier festsitzenden Reisenden, die nichts zu tun hatten, schlenderten dort umher. Vor dem Schaufenster der Zeitungsexpedition scharten sie sich zum schwärzlichen Knäuel zusammen. Man hoffte irgend etwas über Wiederaufnahme des Verkehrs in der aushängenden Tageszeitung zu lesen.

      Annemarie drängte sich mit nach vorn. Aber nicht die politischen Nachrichten interessierten sie, sondern nur das Annoncenblatt.

      »Gesucht« prangte mit fetten Buchstaben als Überschrift. Was wurde denn alles gesucht?

      »Verkäuferin in der Konditorei Lippold« – das wäre gar nicht so übel. Berge von Streuselkuchen und leckeren Torten tauchten vor Annemarie auf. Aber dabei wurde sicherlich nicht freie Wohnung gewährt. Und das war für sie doch notwendig. Sonst blieb nicht viel von dem Gehalt übrig.

      Was suchte man noch?

      Junges Zickel – Hausknecht – Schäferhund – Nähmaschine – gut erhaltener Schweinetrog – Waschfrau – Kindermädel – – – halt, das war was.

      Hatte Cousine Elli sie nicht am liebsten als Kindermädel mit nach Kiel nehmen wollen? Hatte sie Bübchen nicht oft genug ganz allein versorgt? Zu einer Kindermädelstelle konnte sie sich mit gutem Gewissen melden. Den Pflichten würde sie genügen können. Und was das beste daran war, sie erhielt freie Wohnung und Kost. Von dem Gehalt konnte sie dann die Rückreise bestreiten.

      Herrlich – Annemaries Herz hüpfte vor Seligkeit. Noch einmal studierte sie die Annonce: Kindermädel gesucht Parkstraße 2. Dann machte sie sich auf den Weg, um ihr Glück zu versuchen.

      10. Kapitel

       Kindermädel

       Inhaltsverzeichnis

      Ein geschmackvolles, weißes Landhaus, mit blauen Klematisglocken über und über behangen, lag im sonnendurchleuchteten Garten. Das war Parkstraße Nr. 2. An der weißen Holzgittertür war ein Porzellanschild angebracht, »Dr. med. Waldemar Lange, praktischer Arzt. Sprechstunde 8-10, 4-6 Uhr«, stand darauf zu lesen.

      Annemaries Herz tat zum zweitenmal einen Freudensprung. Ihr Glücksstern hatte das Doktorkind gerade in das Haus des Arztes geführt. Wenn die Stelle bloß noch nicht besetzt war!

      Sie zog die Messingklingel. Die Tür öffnete sich von selbst. Den resedabesäumten Steig unter schwerbeladenen Obstbäumen schritt Annemarie entlang bis zur Steintreppe. Hinter dem Hause wurden Kinderstimmen laut. Sicher ihre zukünftigen Zöglinge.

      Die Eingangstür ward geöffnet. Annemarie stand in der Diele vor einem Mädchen mit Latzschürze und weißem Häubchen.

      »Sprechstunde ist schon vorüber. Sie müssen nachmittags um vier wiederkommen,« teilte ihr der dienstbare Geist mit.

      Annemarie mußte lachen, daß man sie für eine Patientin hielt.

      »Ich komme auf die heutige Annonce, um mich als Kindermädchen vorzustellen.«

      »Ach so.« Das Mädchen schlug sogleich einen vertraulichen Ton an. »Nu, soweit sein se jo hier ganz nett. Aber die Kleinste ist schrecklich verzogen. Und Butter und Zucker hat se eingeschlossen, und alle vierzehn Tage bloß – – –«

      »Das interessiert mich nicht,« unterbrach Annemarie die Vertraulichkeit mit einem ihr sonst fremden Hochmut. Nicht etwa, daß es sie verletzte, daß das Mädchen sie in ihrem Blümchenbauernkleid für ihresgleichen hielt. Im Gegenteil, das machte ihr Spaß. Aber es paßte ihr nicht, hinter dem Rücken der Herrschaften mit dem Mädchen über dieselben zu sprechen.

      »Nu, da kummen Sie ooch rein; Ihren Rucksack können Sie hier haußen lassen. Aber wenn und Se können nich gleich zuziehen, denn is es nischte. Ich muß zu meiner Muttel daheime, die is krank – – –« Damit öffnete das Mädchen die Tür zum Balkonzimmer und ließ Annemarie eintreten.

      Auf dem Balkon, der in den Hintergarten hinausschaute, war eine Dame mit glattgescheiteltem braunen Haar mit Zuschneiden von Kinderhöschen beschäftigt.

      »Gnädige Frau, hier wär’ ein Kindermädel auf die heutige Annonce,« meldete das Mädchen.

      »Das junge Mädchen kann zu mir auf den Balkon herauskommen.« Freundliche braune Augen blickten der nähertretenden Annemarie prüfend entgegen.

      »Guten Tag, liebes Kind. Ich brauche sofort Ersatz für mein Kindermädel, sind Sie frei?«

      »Ja – ich könnte gleich zuziehen.« Annemarie pochte das Herz, als ob es galt, das Abiturientenexamen zu bestehen.

      »Haben Sie Ihre Zeugnisse da?«

      Das junge Mädchen erblaßte. An die Notwendigkeit von Zeugnissen hatte sie nicht gedacht. Besaß sie doch nur ihre Schulzeugnisse.

      »Ich war noch nicht in Stellung – ich habe nur bei Verwandten geholfen.« Das kam etwas unsicher heraus.

      »Dann wissen Sie auch nicht mit Kindern umzugehen?«

      »O doch, ich habe den Kleinen dort meistens ganz allein besorgt, und ich habe Kinder riesig gern.« Die Blauaugen strahlten die Dame vertrauenerweckend an.

      »Das ist mir lieb. Und was verstehen Sie von Hausarbeit?«

      »Ich kann Zimmer aufräumen.« Das hatte sie wirklich schon mal getan, als das Hausmädchen zu Hause krank gewesen.

      »Na, was Sie nicht verstehen, zeige ich Ihnen. Sie sind ja jung und können noch lernen. Wenn Sie nur willig sind.«

      »Das werde ich sicher sein,« versprach das neue Kindermädel treuherzig.

      »Kinderwäsche müssen Sie natürlich waschen.«

      »Natürlich,« erklärte