Else Ury

Die beliebtesten Jungmädelgeschichten von Else Ury


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Soviel, daß ich die Reise nach Berlin bezahlen kann – das konnte sie doch der Dame unmöglich sagen.

      »Mein jetziges Mädel erhält dreißig Mark im Monat. Ich würde Ihnen dasselbe geben. Bin ich zufrieden, lege ich zu. Ist Ihnen das recht?« fragte die Dame.

      »Ja, natürlich.« Eine Fahrkarte vierter Klasse bekam man dafür sicher nach Berlin.

      »Schön, dann will ich’s mit Ihnen versuchen, trotzdem ich sonst nie ohne Zeugnisse oder Erkundigungen miete. Aber ich bin in Verlegenheit. Und ich denke, daß ich mich nicht in Ihnen täusche. Hoffentlich bleiben wir lange beisammen.«

      »Ich hoffe gerade das Gegenteil, daß die Eisenbahnsperre recht bald aufgehoben wird,« dachte Annemarie und schämte sich, daß sie in Gedanken das Vertrauen der netten Dame täuschte. Aber was wollte sie machen? Sagte sie, daß sie die Stelle nur vorübergehend haben wollte, würde man sie sicher nicht nehmen. Wovon sollte sie dann leben?

      »Also dann ist die Sache in Ordnung. Wie heißen Sie?«

      »Annemarie Braun.« Einen fremden Namen mochte Doktors Nesthäkchen doch nicht angeben.

      »Wie alt?«

      »Ich werde siebzehn.« Sie war zwar vor kurzem erst sechzehn geworden, aber sie sagte damit keine Unwahrheit.

      »Wo sind Sie her?«

      »Aus – aus Arnsdorf in Schlesien.« Da kam sie ja wirklich her.

      »Schön – haben Sie Verwandte am Ort?«

      »Nein, ich bin ganz fremd hier.«

      »Dann können Sie Ihren Korb bringen und sobald als möglich zuziehen. Mein Mädchen ist aus einem Dorf in der Umgegend und möchte am liebsten sofort nach Hause, da die Mutter erkrankt ist.«

      »Ich könnte gleich hierbleiben, gnädige Frau. Das Notwendigste habe ich in meinem Rucksack draußen, und mein Korb – mein Korb ist noch unterwegs.« Das war wieder keine Lüge.

      Dennoch wurde die gnädige Frau stutzig. Da schien irgendwas nicht zu stimmen. Aber sie war in großer Verlegenheit und froh, so schnell ein Kindermädel zu bekommen. Auch machte ihr die Neue einen denkbar guten Eindruck. So freundlich und freimütig war das junge Ding. Vielleicht ein bißchen zu fein, aber das war nur gut im Verkehr mit den Kindern. Da lernten sie nichts Schlechtes.

      »Gut, dann bleiben Sie gleich hier, Annemarie. Und noch eins. Sie müssen in den Sprechstunden den Patienten die Tür öffnen, lernen, Bestellungen für Herrn Doktor ganz genau aufzuschreiben und das Telephon zu bedienen. Es ist nicht allzu schwer.«

      »Das kann ich schon«, entfuhr es Annemarie unüberlegt.

      »Woher denn?« Wieder stutzte die Dame.

      Das neue Kindermädel wurde rot bis an die krausen Blondhaare. »Ich habe zu Hause schon mal bei unserm Doktor geholfen.« Ach Gott, dies war das schwerste für die ehrliche Annemarie, daß sie ständig die Wahrheit umgehen mußte.

      Frau Doktor Lange gab sich zufrieden. Der Grund war einleuchtend.

      »Nun werde ich Sie gleich mit Ihren kleinen Pflegebefohlenen bekannt machen, Annemarie.« Die Dame schritt eine von der Veranda hinabführende Treppe hinunter in den Garten. Das neue Kindermädel folgte, selig, daß das schwere Examen so gut vorübergegangen war.

      »So, Rudi und Kätherle, das ist eure neue Annemarie! Nun seid mal recht lieb zu ihr.«

      Ein allerliebstes, vielleicht zweijähriges Mädchen kam auf die Mutter mit tappelnden Schritten zu. Annemarie fing es lachend auf. Das Kleine verzog erst das Mündchen ein wenig, als ob es weinen wollte. Aber als es in Annemaries lustige blaue Augen blickte, begann es ebenfalls zu lachen und zu jauchzen.

      »Das freut mich, Annemarie, daß unser Kätherle gleich zu Ihnen geht. Der Rudi, unser Großer, wird schon bald zehn Jahre. Gib der Annemarie die Hand, Rudi. Und dann ist da noch die Edith – wo steckst du denn, Mädel? Komm, sage artig guten Tag.« Um die Ecke der Laube lugte ein braunes Lockenköpfchen und verschwand sofort wieder.

      »Wir werden uns schon anfreunden«, versprach Annemarie und ließ Kätherle wie Bübchen Huckepack reiten. Durch den ganzen Garten klang das Jauchzen. Das braune Lockenköpfchen wagte sich wieder neugierig hervor.

      »Nun, ich sehe, Annemarie, daß Sie mit Kindern umzugehen wissen. Ich überlasse Ihnen jetzt meine kleine Gesellschaft. Gefrühstückt hat sie schon. Aber Sie selbst werden vielleicht hungrig sein?« fragte Frau Doktor freundlich.

      »Ja, ich habe seit heute morgen noch nichts gegessen«, gab Annemarie zu. »Aber ich habe noch Stullen in meinem Rucksack, die werden sonst alt.«

      »Stullen?« lachte Rudi sie aus. Er kannte das Wort nicht.

      »Das sind Schnitten«, belehrte ihn die Mutter. »Aber wie kommen Sie zu dem Berliner Ausdruck, Kind?«

      »Ich – wir haben Verwandte in Berlin, die uns öfters besuchen«, redete sich Annemarie in größter Verlegenheit heraus. Nun mußte sie doch schwindeln.

      »Lassen Sie sich in der Küche einen Topf Suppe zu Ihren Schnitten geben, Annemarie. Rudi, zeige der Annemarie die Küche.« Kopfschüttelnd ging Frau Doktor Lange zurück ins Haus. Ob sie recht getan hatte, das fremde Mädchen, von dem sie nichts wußte, nur auf sein vertrauenerweckendes Wesen hin ins Haus zu nehmen? Irgend etwas war da nicht ganz in Ordnung – am Ende war sie von Hause fortgelaufen. Aber schlecht war das Mädel sicher nicht. So konnten die blauen Augen nicht lügen.

      Das neue Kindermädel hatte die Bekanntschaft der Köchin gemacht, einer ziemlich mürrischen Person. Es hatte seiner Vorgängerin den Korb fortschaffen helfen und sich selbst mit seinem Rucksack im Kinderzimmer einquartiert. Das war gut, daß sie nicht mit der brummigen Auguste zusammen wohnen mußte, sondern bei den Kindern schlafen sollte. Auguste hätte sich gewiß auch über die elegante Wäsche des neuen Mädchens gewundert.

      Frau Doktor legte ein frisch gewaschenes schwarzes Satinkleid, Latzschürzen und Häubchen auf den Tisch.

      »Annemarie, Ihr Bauernkleid ist ja sehr nett, aber Herr Doktor wünscht, daß unser Mädchen in den Sprechstunden Schwarz trägt. Ich gebe daher jedem neuen Mädchen ein Kleid, zwei Schürzen und zwei Häubchen. Sind Sie länger als ein Jahr bei uns, dürfen Sie die Sachen behalten.«

      Annemarie mußte lachen. Da würde sie das Kleid wohl kaum bekommen. Als Frau Doktor die Kinderstube verlassen hatte, schlüpfte sie in ihre neue Livree.

      O Gott, sah sie drollig aus! Wie zu einem Kostümball. Das Kleid paßte vorzüglich, Annemarie war ja groß und schlank. Die Schürze mochte auch noch gehen. Verlangte doch auch Mutti, daß sie zu Hause eine Schürze tragen sollte. Aber das Häubchen! Nein, war das komisch – war das ulkig! Das neue Kindermädel lachte sein hübsches Spiegelbild unter dem weißen Tollhäubchen an, daß es Tränen in den Blauaugen hatte. Wenn doch nur eine der Kränzchenschwestern zum Mitlachen hier gewesen wäre. Was Vera wohl zu ihr sagen würde!

      »Ei, Annemarie, Sie freuen sich ja so über Ihren neuen Staat. So was haben Sie wohl daheim in Ihrem Dorf noch nicht gesehen?« Lächelnd beobachtete die zurückkehrende Frau Doktor die Lustigkeit ihres Kindermädels. »Nun können Sie noch für Kätherle ein Paar Höschen plätten und dann mit den Kindern spazieren gehen. Sind Sie gewöhnt, mit Gaseisen oder Bolzen zu plätten?«

      Ach, das neue Kindermädel war gar nicht gewöhnt, zu plätten. Das bekam seine Wäsche, seine Blusen und weißen Kleider tadellos von dem Hausmädchen daheim hergerichtet. Mutti hatte manchmal gesagt, ihre Lotte solle sich nicht so bedienen lassen. Sie könne sich ganz gut allein eine Bluse aufplätten. Aber dann war ganz sicher die gute Hanne eingesprungen und hatte ihr das Plätteisen aus der Hand genommen. Nein, das litt die nicht, daß Doktors Nesthäkchen selbst plättete. Das »Kind« hatte sich gerade genug mit Lernen abzuquälen.

      »Bei uns zu Hause wurde elektrisch geplättet.«

      Wieder mußte sich Frau Doktor über ihr vornehm gewöhntes Mädchen wundern. Aber elektrische Kraft war ja auf dem Lande billig, schließlich war man jetzt in jedem Nest schon vorgeschritten.