man ja gar nicht wissen konnte, daß sie Ulrich sei. Wir rufen uns nämlich alle beim Vatersnamen. Mich nennen die frechen Jungs »Neschthäkche«. Wie sie das herausgebracht haben, daß ich zu Hause so genannt werde, wird ein ewiges Geheimnis bleiben.
Also zuerst ging’s auf den Hohenrechberg. Das ist ein Kalvarienberg. Ein Stationsweg führt zu dem Wallfahrtskirchlein. Alljährlich finden dorthin Prozessionen statt. Die Holzschnitzereien, die den Leidensweg Christi darstellen, stammen aus dem frühesten Mittelalter und sollen künstlerisch sehr schön sein. Ilse war nicht davon fortzubekommen. Zwei Mann mußten sie gewaltsam weiterschleppen, sonst stände sie noch heute dort. Für mich war es in der Tat ein Leidensweg. Ein Nagel hatte sich heimtückischerweise aus meiner Stiefelsohle herausgebohrt. Humpelnd hielt ich meinen Einzug auf Hohenrechberg.
Marlene hatte recht behalten. Sie hatte dem Wetter gleich nicht getraut. Ihr Hühnerauge, unser bester Wetterprophet, zuverlässig wie ein Barometer, hatte sich bemerkbar gemacht. Das bedeutet Regen. Sie hatte davon abgeraten, den Ausflug zu unternehmen. Wir lachten sie natürlich aus. Was kümmert wandernde Studenten ein Hühnerauge. Nun kam die Strafe. Schon auf dem Wallfahrtswege brodelten links und rechts aus der Tiefe Nebelschwaden empor. Als ob boshafte Bergkobolde ihr Spiel mit uns trieben, breiteten sie über das Tal feuchtgraue Regentücher aus und nahmen uns jeden Ausblick. Die Ruine Hohenrechberg ragte plötzlich so schemenhaft dicht vor uns aus dem Grau heraus, daß Ilse mir vor Schreck meinen Arm blau kniff. Aber es hatte auch wirklich etwas Gespenstisches, wie die vom Blitz geborstenen Türme, Zinnen und Burgmauern so jäh aus dem Nebelmeer emportauchten.
Im Pfarrhaus droben labte man uns durchnäßte Wanderer mit heißer Milch. Die Viehmuse ließ sich einen Hammer geben und nagelte meinen Stiefel zurecht, wobei er unverschämterweise die Äußerung tat: »Ein Tierarzt muß halt a jedes Viehle beschlage könne.« Der Regen hörte nicht auf. »Es schüttete wüscht«, was bei uns zulande heißt: »Es regnet Bindfaden«. Wir saßen fest. Aber das störte unsere gute Laune nicht im geringsten. Höchstens Marlenes; es kann aber auch sein, daß ihr Hühnerauge die Schuld daran trug.
Egerling setzte sich ans Klavier und spielte Gassenhauer, trotzdem er doch geischtlich werden will. Wir andern tanzten. Der Herr Pfarrer war über Land und die alte Pfarrköchin hatte ihre Freude an unsrer Ausgelassenheit.
»Aber zu esche könne sie uns nix gebe«, meinte sie, sie hätten allein nichts. Das glaubten wir ihr natürlich nicht. Die unverfrorenen Schwaben kletterten in den Hühnerstall und suchten nach Eiern. Triumphierend kamen sie mit ihrer Beute, zwei Stück, zurück.
»Die müsche für den Herrn Pfarrer bleibe«, zeterte die Köchin. Das sahen unsere Studenten schließlich ein. Aber nun drangen sie keck in das Reich der Köchin vor und untersuchten Küche und Speisekammer. Eine Schüssel kalter gekochter Kartoffeln war alles, was sie erwischten. Speck hatten wir im Rucksack, und nun gingen wir daran, Bratkartoffeln zu machen. Das heißt Ilse und Ziegenhals; meine Hilfe verschmähte man undankbarerweise mit der Begründung, daß dann am Ende aus den Bratkartoffeln Mohrenköpfe würden. Als wir gerade im besten Schmausen waren, kam der Herr Pfarrer nach Haus. Er war nicht wenig überrascht, das Haus bei dem argen Wetter besetzt zu finden.
»Ei – ei«, meinte er lächelnd, nachdem wir uns ihm vorgestellt hatten und wegen des Überfalls um Entschuldigung gebeten, »ei, liabe, junge Gäscht hob’ i immer gern. Hascht den Studentle auch brav was vorg’setzt, Kathinka?«
»Mer hobe selber nix«, brummte die Pfarrköchin.
Der Herr Pfarrer war reizend. Von Bezahlung wollte er durchaus nichts wissen. »Studentle könne nix zahle, die hobe nix«, lachte er. Als wir keine Ruhe gaben, brachte er schließlich seine Armenbüchse herbei. Da hinein durften wir etwas werfen. Dann gab er uns, da es glücklicherweise mit »schütten« nachgelassen, noch ein Stück Wegs das Geleit nach dem Hohenstaufen.
»Wann die Engle wandern, hängt der Himmel voller Geige«, sagte er und wies auf ein winziges Stücklein Himmelsblau, das aus dem Wolkengeschiebe hervorlugte. Hurra – bald lachte die Sonne wieder, trotz Marlenchens Hühnerauge, und blieb uns treu. Ihr könnt Euch nicht denken, wie bezaubernd die sogenannten »Randwanderungen« auf der Schwäbischen Alb sind. Immer neue, abwechslungsreiche Bilder, bald Talblick, bald romantische halbverfallene Burgen. Wie ist’s, mein liebes Brüderlein, hast Du nicht Lust, mich in den Ferien zu besuchen? Es lohnt sich. Die Schwäbische Alb ist keine Gipfelkette, wie unsere andern deutschen Mittelgebirge, sondern eine weite Hochfläche, auf der sich Waldungen, Felder und Weiler breiten. Ganz eigenartig. Die Wanderung unter der kundigen Führung des Herrn Pfarrer war doppelt genußreich. Er erzählte uns von einem unterirdischen Gang, der von dem Hohenrechberg zum Hohenstaufen führte, und der während der Bauernkriege ein wichtiger Schlupfwinkel gewesen sein soll. Mächtig graulich!
Vom Hohenstaufen waren wir sehr enttäuscht. Die stolze Staufenburg ist gänzlich eingeäschert. Kein Trümmerrestchen erzählt mehr von dem Glanz des einst hier hausenden mächtigen Kaisergeschlechts.
Auf dem Hohenstaufen wurde photographiert. Die erste Aufnahme habe ich natürlich verwackelt. Aber jetzt geht’s schon ganz nett und macht mir riesige Freude. Sagt doch das der Großmama, die ich tausendmal grüßen lasse. Brief und Bilder sind auch für sie bestimmt. In dem kleinen Städtchen Kirchheim blieben wir über Nacht. Aber geschlafen haben wir nicht viel. Wir fünf Damen alle in einem saalartigen Zimmer. Da könnt Ihr Euch denken, was wir angegeben haben. Einer unsrer Studenten hat auf dem Billard übernachtet, die andern in der Scheune.
Am Sonntag Morgen ging’s in goldener Sonnenfrüh den steilen Teckberg hinauf zur Hohen Teck. Die jetzige Königin von England entstammt dem dort einst gebietenden Herzogsgeschlecht. Diese Weisheit kommt natürlich nicht aus meinem dummen Kopf, sondern aus dem schwarzhaarigen Marlenes. Auch Egerling, der in dieser Gegend daheim ist, sorgte für unsere Bildung. Er zeigte uns beim Aufstieg Schwamm-und Korallenfelsen, die deutlich von den Zeiten Zeugnis ablegen sollen, da noch das Jurameer die Felsen umbrauste. Auch auf versteinerte Krater – Maare nennt man sie in Schwaben – machte er uns aufmerksam. Das sind Vulkanüberbleibsel. Diese gelehrten Sachen sind ja manchem ganz interessant, aber ich begeistere mich nun mal für die blauenden Buchenwälder und weltfernen Waldschluchten mit ihren rieselnden Silberbächlein, die Eichendorff besungen hat. Auch die umfassende Rundsicht vom Aussichtsturm droben war mir viel wichtiger als sämtliche Krater und Versteinerungen. Denkt mal – ich habe die Alpen gesehen! Nach dem vorhergehenden Regentag war alles doppelt klar.
Also, Ihr seht, wie gut es Eurem ausgesetzten Nesthäkchen in der Fremde ergeht. Sehnsucht habe ich noch gar nicht – nicht die Bohne. Nur, wenn es irgendwo ganz besonders schön ist, wünsche ich Euch herbei. Und da habe ich schon gedacht, ob man nicht im August, wenn Universitätsferien sind, irgendwo hier in der schönen Gegend gemeinsam die Erholung genießen könnte. Oder auch im Schwarzwald. Das ist ja alles nicht weit. Vater muß unbedingt ausspannen, und Du, Muzichen, bist sicher auch erholungsbedürftig. Schon aus Sehnsucht nach Deiner Lotte. Ich kenne doch meine Muz. Hänschen hatte mir überhaupt fest versprochen, mich mal zu besuchen. Schade, daß Klaus nicht von seiner pommerschen Klitsche fort kann. Also eilt alle miteinander in die Arme Eurer Euch liebenden
Lotte-Annemarie.
Nachschrift: Bitte bestellt den Faultieren Vera, Margot und Marianne tausend Grüße. Sie sollen unsren Kränzchenbrief bald beantworten. – – –
»Meine Lotte, – meine liebe, große Lotte!« flüsterte Frau Doktor Braun und ließ die engbeschriebenen Bogen in den Schoß sinken. Eine Träne tropfte auf das Hohenstaufenbild, gerade dem Student Egerling auf die breite Nase. »Da tut sie nun so, als ob sie gar keine Sehnsucht hätte, und dabei verrät sich dieselbe doch deutlich aus ihren Zeilen. Vielleicht läßt sich im August wirklich ein Wiedersehen ermöglichen.« Diese Hoffnung zauberte wieder ein Lächeln auf die seinen Züge der Mutter.
Nesthäkchens Epistel und die dazu gehörigen Bilder machten eine Rundreise. Sämtliche Familienmitglieder studierten sie, selbst Puck beschnüffelte den Brief. Die drei Kränzchenschwestern genossen bei der gemeinsamen Lektüre all das Schöne nachträglich mit und wären wohl auch recht gern dabei gewesen. Großmama mochte sich gar nicht wieder von den Bildern ihres Lieblings trennen. Tante Albertinchen aber war entsetzt. Besonders »Die erste Mensur«, die auch bereits Hannes Unwillen