alten Zeiten! Da war so etwas ganz unmöglich gewesen! Tante Albertinchens sämtliche weiße Ringellöckchen pendelten wehmütig hin und her über die Verderbtheit der heutigen Jugend.
7. Kapitel
Rosenfest im Neckartal
Tübingen stand Kopf. Wenigstens soweit seine medizinische Studentenschaft in Frage kam. Das berühmte alljährliche Rosenfest bei Professor Bergholz fand heute statt. Alles, was zur Medizin gehörte und dort Besuch »geschnitten« hatte, war geladen. Es kam ja in dem ausgedehnten Garten am Neckarufer nicht auf ein paar mehr oder weniger an. Darum bedauerte es Annemarie doppelt, daß Ilse und Marlene nicht teilnehmen sollten. Sie hatte gehofft, bei ihrem Antrittsbesuch erzählen zu können, daß sie mit den Freundinnen gemeinsam in Tübingen studierte, und auch für die Freundinnen eine Aufforderung zu erhalten. Leider war aber die ganze Professorenfamilie gerade an dem Vormittag ausgeflogen. Annemarie konnte nur ihre Karte abwerfen. Von anderen Studenten hatte sie gehört, daß der Professor gemeinsam mit seiner Tochter und seiner Nichte ein sehr gemütliches Leben führe. Seine Frau war schon jahrelang tot. Die Tochter sollte, allen studentischen Traditionen entgegen, daß Professorentöchter meistens alt und häßlich sind, das schönste Mädchen Tübingens sein. Nun war Annemarie natürlich sehr gespannt auf die weiblichen Familienmitglieder. Denn für Professor Bergholz, dem ebenso gelehrten wie liebenswürdigen Manne, hegte sie eine beinahe noch backfischmäßige Schwärmerei und Verehrung. Manche der Studenten und Studentinnen verkehrten intimer in seinem Hause. Die beneidete sie. Sprach er sie mal nach dem Kolleg an, wie er öfters mal mit diesem oder jenem ein scherzhaftes Wort wechselte, errötete sie wie ein kleines Schulmädel.
Das Rosenfest bedeutete ein Ereignis für Annemarie. Ein Biedermeierfest sollte es diesmal sein. Wer nicht in Biedermeiertracht erscheinen wollte, hatte ebenso im Anzug oder Sommerkleid Zutritt. Nur Rosenschmuck im Knopfloch oder Gürtel war Bedingung.
Die Kostümfrage beschäftigte nicht nur Annemarie, sondern auch Marlene und Ilse auf das lebhafteste. In uneigennützigster Weise suchten sie alles hervor, um »ihr Kleines« so schön wie möglich zu machen. Das gelang ihnen auch glänzend. Annemaries hellblaues Organdykleid mit den Rosenknöspchen wurde mittels eines Spitzenfichus von Marlene und einiger schwarzer Samtschleifen in ein ganz allerliebstes Biedermeierkleid verwandelt. Dazu eine große Rosenschute von Ilse. Das Goldhaar frisierte letztere geschickt mit Hängelöckchen über den Ohren. »Wie Tante Albertinchen sehe ich aus, zum Verwechseln ähnlich!« erhob Annemarie lebhaft Einspruch.
Das nützte ihr aber den energischen Freundinnen gegenüber nichts. Und als sie nun fix und fertig war, mit weißen Strümpfen und schwarzen Spangenschuhen, die schönsten dunkelroten Rosen aus Frau Veronikas Garten vorgesteckt, mußte sie es ihrem Spiegelbilde zugestehen, daß es gar nicht so übel als Biedermeierfräulein ausschaute.
Die Freundinnen waren neidlos entzückt. Die Freunde Krabbe und Neumann, die sie nachmittags abholen kamen, in noch erhöhtem Maße.
»Neschthäkche ischt heut zum Anbeiße!« machte die Viehmuse ihrer Begeisterung Lust. Neumann bekam wieder mal elegische Anwandlungen, was das mutwillige Biedermeierdämchen veranlaßte, ihn nur noch mehr aufzuziehen als sonst. Er sah mit Vatermördern, giftgrünem Frack und mausgrauem Zylinder zu seinem semmelblonden Sommersprossengesicht in der Tat herausfordernd komisch aus. Krabbe trug seinen Touristenanzug, rosengeschmückt. In seiner Kasse herrschte wieder mal, wie meistens, Ebbe. Ein Kostüm war für ihn unerschwingbar.
Egerling, Marlene und Ilse, die Nichtgeladenen, verabredeten, als Zaungäste vom Neckar aus dem Feste beizuwohnen. Sie wollten sich ein Boot mieten und den »Rummel« vom Wasser aus mitanschauen.
»Kuche müscht ihr uns ‘nüberwerfe«, verlangte Egerling. »Die Kräpfle beim Bergholz sind noch berühmter als sein anatomisches Kolleg. Und auf unser Neschthäkche könne wir dann auch gleich ein Auge habe, daß es keine Dummheite nit macht und nit über die Stränge schlage tut«, meinte er mit väterlicher Miene.
»Dafür wolle wir schon halt sorge!« Krabbe und Neumann fühlten sich als Annemaries Ritter in ihrer Ehre gekränkt.
»Ja, Kinder, sagt mal, seid ihr denn alle zusammen ganz und gar hops?« begehrte das Biedermeierfräulein auf. »Ich werde euch bald zu Hause lassen, wenn ihr solchen großen Mund habt. Ich glaube, meine Aufsicht wird notwendiger sein, damit ihr der Erdbeerbowle nicht zu sehr zusprecht. Und Zaungäste werden fortgejagt, verstanden?« Lachend schritt sie davon.
Im Gärtchen bildeten sämtliche Kirchenmäuse Spalier, um ihr »Fräuli« gebührend zu bewundern.
»Lueg, Kaschperle, wie’sch Tanteli heut’ schmuck ausschaue tut!« Vronli war eitel Bewunderung.
»Ich bring’ euch was Süßes mit«, versprach Annemarie ihren kleinen Freunden.
»Zuckerle? Gib’sch uns a liaba gleich«, verlangte Kaschperle, der ein Mann der Sicherheit war.
Wirklich, die gutmütige Annemarie lief, trotz des Protestes ihrer Freunde, noch mal nach oben, um ihre letzten »Zuckerle« unter die Kleinen zu verteilen.
»Sie verwöhnen mir’sch Büble und ‘sch Mädle arg, Fräuli Annemarie«, schalt Frau Veronika lächelnd. Und setzte dann bewundernd hinzu: »Ausschaue tun’s, wie die liabe Engele von unser Herrgöttle drobe.«
»In Biedermeiertracht habe ich mir die eigentlich niemals vorgestellt«, lachte Annemarie.
Auch Herr Nepomuk schob seine Pfeife von dem linken Mundwinkel in den rechten, was er nur bei ganz außergewöhnlichen Gelegenheiten zu tun pflegte, und murmelte beifällig: »Arg schmuck – arg schmuck schaut’s halt aus!«
Danach konnte man sich endlich auf den Weg machen. Es war ein ziemliches Spießrutenlaufen vom Burggäßle nach der Parkstraße. Die alten Giebelhäuser schienen heute hundert Augen bekommen zu haben. Aus den kleinen blanken Fenstern spähte es: »Luegt’s auch – ah, die ischt mal arg schön!«
Doktors Nesthäkchen machte diese lebhafte Bewunderung ungeheuren Spaß. Es fühlte sich in keiner Weise dadurch irgendwie verlegen. Hatte sie es doch als »blödesten Sinn« bezeichnet, daß Marlene und Ilse ihr zugeredet hatten, den Mantel über das Kostüm zu ziehen, um nicht aufzufallen. Bei dem herrlichen Sommerwetter? Sie war doch nicht total hops. Ganz Tübingen wußte, daß heute bei Professor Bergholz das Rosenfest stattfand. Warum sollte sie den guten Leuten nicht auch ein Schauvergnügen bereiten!
Im Gegenteil, an der einen Seite den semmelblonden Biedermeierherrn untergeärmelt, am andern Arm die rosengeschmückte Viehmuse, so schritt Doktors Nesthäkchen erhobenen Hauptes durch die Straßen, ja, nickte sogar hier oder da leutselig einen Gruß zu einem der Fenster hinauf.
Marlene und Ilse, die ihr das Ehrengeleit gaben, blieben peinlich berührt zurück. Nein, Annemarie benahm sich doch wirklich zu auffallend!
An der Ecke der Parkstraße trennte man sich von den Freunden. »Benimm dir, mein Söhnchen!« Mit diesem wohlgemeinten Ratschlag in echtem Berliner Dialekt ward Annemarie von Ilse entlassen.
»Mach’ uns keine Schande, Annemie«, fand auch Marlene noch nötig, hinzuzufügen.
»Hurra – heut’ bin ich meine Pensionstunte los!« Grüßen, Nicken und Winken hin und her, als gelte es einen Abschied auf ewig. Dann verschwand das goldhaarige Biedermeierfräulein zwischen Krinolinen und farbigen Leibröcken in dem Bergholzschen Landhaus am Neckar.
Die Gesellschaft war schon ziemlich vollzählig. Wo Annemarie dabei war, kam man nie zu früh. Professor Bergholz empfing seine jungen Gäste im Gartensaal, der mit bunten Papierballons und frischen Rosen, leuchtend in allen Farben, festlich geschmückt war. Ein munteres Völkchen aus Urgroßvaters Zeiten erging sich bereits in den verschnörkelten Gartenwegen. Rosen, wohin man schaute. Rosige Mädchenblüten, wetteifernd an Frische mit den Blumenschwestern.
»Grüß Gott, Fräulein Biedermeier, ich freue mich, nun endlich mal das Vergnügen in meinem Hause zu haben, und Sie