auf das nachbarliche Gebiet hinüber schollen.
Die junge Dame verharrte erwartungsvoll schweigend auf ihrem Platze. Sie stand der Frau so nahe, daß sie trotz der Abenddämmerung jeden Zug des Gesichts erkennen konnte, das sich zu ihr niederbog; und jetzt begriff sie. daß Vater und Sohn, warmherzige, phantasievolle Naturen, vor dieser Macht hatten weichen müssen. Auf der Stirn mit den herrlich geschwungenen Brauen lag noch das Gepräge der Herrschsucht, des eisernen Willens – Donna Mercedes war jetzt selbst Zeuge, wie ein edles, warmes und mächtig emporquellendes Gefühl mit dem Starrsinn in dieser Frauenseele um die Oberhand rang.
»Ich möchte wissen,« hob sie mit unsicherer Stimme wieder an, da kein ermutigendes Wort von den Lippen der jungen Dame kam – »ob der Kleine –«
»José Lucian wollen Sie sagen,« fiel Donna Mercedes jetzt fest und äußerlich vollkommen ruhig ein, obgleich ihr das Herz so heftig schlug, daß sie meinte, man müsse es hören.
Mit einem Laut unwilligen Schreckens fuhr die Frau zurück; die Büsche schlugen rauschend zusammen, und Donna Mercedes fürchtete, die Drübenstehende müsse mit der Bank umgesunken sein,– aber gleich darauf wühlten die kräftigen weißen Hände das Strauchwerk abermals auseinander und das bleiche Antlitz erschien wieder – jetzt aber mit einem düster drohenden Ausdruck.
»Hab' ich nach dem Namen gefragt?« – fragte sie finster und unverbindlich. »Was geht er mich an? Brauche ich zu wissen, wie die fremden Kinder heißen, die unser unbändiger Junge in unser Haus schleppt?« – Diese Frau stieß sich im grausamen Wüten gegen die eigene »Schwäche« mit ihren eisigen Worten selbst ein Messer in die Brust. »Ich wollte nichts, absolut nichts anderes wissen, nichts anderes aussprechen, als die Frage, ob der Knabe – zu retten ist ... Der kleine Sohn meines Bruders –« Eine aufkreischende, schrille Knabenstimme unterbrach sie; verstummend und sichtbar erschreckt fuhr sie herum, und ihr suchender Blick tauchte in den dunkelnden Abendhimmel.
Donna Mercedes sah, wie ein schlanker Körper drüben durch das Geäst eines hohen Baumes katzengeschmeidig schlüpfte und ebenso gewandt und flink am Stamm herunterglitt. Das war der Bursche, der vorhin die Steine in den Teich geworfen hatte. Man hörte ihn wie toll mit harten Absätzen über den Kies nach dem Hause zu laufen und dabei schrie er grob und flegelhaft herüber: »Warte nur, Tante Therese, ich sag's dem Papa, daß du mit den Leuten im Schillingshofe sprichst! Ihr habt mir's streng verboten und du tust es selber.«
Die knarrende Tür des Hinterhauses wurde aufgerissen und flog schmetternd wieder zu, und in diesem Augenblick verschwand auch die Frau hinter dem Zaun.
Die junge Dame wartete vergebens auf ihr Wiedererscheinen; sie hörte nur, wie sich rasche Schritte drüben immer weiter von der trennenden grünen Wand entfernten und auf den geradlinigen Weg einbogen ... Ihr war seltsam zumute. Nun hatte sie der Mutter ihres Bruders Auge in Auge gegenüber gestanden – sie hatte stets bitteren Haß gegen dieses tyrannische Weib gefühlt, und seit sie das Klosterhaus gesehen, aus dem ihres Vaters erste Frau stammte, hatte sich jener Empfindung auch der Abscheu vor gemeiner Berührung beigemischt. Diese Vorstellung war jetzt versunken vor der herrlichen, stolzen Matronenerscheinung, die sie eben gesehen. Sie begriff vollkommen, daß diese Frau Major Lucians Jugendliebe gewesen; sie verstand jetzt den letzten heißen Wunsch ihres Bruders, die Mutter zu versöhnen und in ihrem Herzen Liebe für seine Waisen zu erwecken ... Mochte sie auch zeitlebens durch Starrsinn und unbeugsam durchgeführte harte Prinzipien die Eisluft der Unzugänglichkeit um ihre schöne Gestalt verbreitet haben – tief in ihrer Seele lag doch verborgene Glut, der schlimmste Feind, mit dem sie zu kämpfen hatte, eine wahre Geißel, welche die Natur der Tochter der Wolframs mitgegeben; gerade diese Gabe hatte sie zu dem gemacht, als was sie erschien, zu dem »Eiszapfen«, zu der Unerbittlichen, die ihrem Herzen als schlechtem Ratgeber mißtraute und standhaft seine Einflüsterungen verwarf ... Donna Mercedes fühlte einen geheimnisvollen Zug – in dieser Natur lag eine gewisse Verwandtschaft mit der ihrigen ... Aber seltsames Rätsel! Dieselbe Frau, die gewalttätig in das Schicksal der Ihren eingegriffen, die ein Zurückweichen nie gekannt, sie war eben vor einer boshaften kindischen Drohung geflohen, und Donna Mercedes mußte, peinlich berührt, der Tatsache gedenken, daß oft die gewaltigsten Kreaturen der Schöpfung vor einem winzigen, aber bösartigen Insekt flüchten.
Die Schritte drüben gingen auf das Hinterhaus zu und mochten wohl der Tür nahe sein, als diese aufgestoßen wurde. Eine starke, tiefe Männerstimme sagte einige heftige Worte, die nicht zu verstehen waren; dann aber folgte ein kurzes, hartes Auflachen, so hämisch, so verletzend, daß es selbst die unbeteiligte Zuhörerin reizte.
Die Majorin aber schien ihre Haltung wieder gewonnen zu haben. »Bin ich deine Gefangene, Franz?« hörte Donna Mercedes sie mit ihrem klangvollen Organ eisig kalt sagen. »Oder wollen wir in unseren alten Tagen noch Vormund und Mündel spielen? – Lasse mich! – Was fällt dir ein, mich so ungebührlich anzuschnauzen, wenn ich einfach tue, was sich schickt, wenn ich nach dem fremden Kind frage, das durch unsere Schuld krank geworden ist?«
Damit ging sie in das Haus. Die Tür wurde zugeschlagen – in Nachbars Garten rührte und regte sich nichts mehr.
Donna Mercedes verließ ihren Posten. Wie traumbefangen, von völlig neuen Gedanken und Empfindungen bestürmt, wanderte sie noch einigemal in der Allee auf und ab und schlug dann den Weg nach dem Säulenhause ein.
Es dunkelte stark. Aus den weißen Lampenkugeln der Flurhalle strömte blendendes Licht und fiel auch aus der weit offenen Tür wie ein breiter, glänzender Teppich streifen über die Stufen der Freitreppe draußen. – Donna Mercedes wollte eben den Fuß auf die unterste Stufe setzen, als sie durch die entgegengesetzte, gleichfalls offene Haustür eine Dame in den Flurraum treten sah, der alsbald eine zweite folgte.
Angesichts der zuerst eintretenden Gestalt schrak Donna Mercedes unwillkürlich zusammen – schattenhaft lang, schmal und grau, geräuschlos wie auf nackten Sohlen hereingleitend, und ein gespenstisch fahles Gesicht forschend nach allen Seiten hinwendend, war es, als schwebe der Hausgeist des alten Schillingshofes inspizierend durch die Halle. Aber diese geisterhafte Erscheinung hatte eine sehr menschliche Stimme, eine Stimme voll nervöser Gereiztheit und gleichsam getränkt in Arger und Entrüstung, in bitterer Galle.
»Mein Gott, wie bettelhaft ist der Eingang!« sagte sie in jenen weinerlich hauchenden Tönen, wie sie aus einer grollgepreßten, vornehmen Damenkehle zu kommen pflegen. »Die Türen weit offen wie in einer Schenke, und kein Diener zu hören und zu sehen!... Ich bitte dich, Adelheid,« wandte sie sich zurück nach der anderen Dame, die eben mit sichtlichem Unwillen einige Strohhalme von ihrer schwarzen Schleppe schüttelte – »ziehe die Türglocke, aber so stark du kannst.«
Die Dame im schwarzen Kleide trat wieder hinaus in die Säulenhalle und tat, wie ihr geheißen – selbstverständlich gab die Glocke keinen Laut, da sie abgenommen war.
Dieser Tatsache gegenüber stand die graue Dame wie versteinert, die andere aber rauschte an ihr vorbei und bog in den nach Süden laufenden Korridor ein. »Robert, wo stecken Sie?« rief sie mit gebieterischer Stimme in das Erdgeschoß hinab.
Die vollklingenden Laute schienen eine wahrhaft elektrisierende Kraft zu besitzen. Polternde Füße stürzten sofort die Treppe vom Erdgeschoß herauf, und der Bediente Robert, gefolgt vom Gärtner, dem Hausknecht und dem Stallburschen, erschien aufgeregt und atemlos in der Flurhalle.
»Verzeihung, gnädiges Fräulein,« stammelte er; »ich war nur für einen Augenblick in die Küche gegangen, um einen Schluck Wasser zu trinken.« Er schritt vor und verbeugte sich tief vor der grauen Dame, die unbeweglich inmitten der Flurhalle stehen geblieben war. »Gnädige Frau Baronin kommen völlig unerwartet; wir –«
Sie unterbrach ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung. »In welchem verwahrlosten Zustande finde ich mein Haus!« sagte sie, in ihre vorhin so aufgeregte Stimme nunmehr die strafende eisige Kälte der Gebieterin legend. »Ist der Schillingshof ein Gasthaus, daß die Türflügel angelweit offen stehen? – Die Türglocke ist eingerostet, im Vorgarten brennt kein Gas – und was soll das Stroh auf den Wegen, durch das man buchstäblich waten muß?« wandte sie sich an den Gärtner und hob als Beweismittel, unter Zeichen ihrer inneren Empörung, den mit Strohresten behangenen Kleidersaum leicht von der Fußspitze.