schritt oft stundenlang, mit zusammengezogener Stirn und den harten, bösen Zug aufbäumenden Stolzes um die Lippen, im Salon ruhelos von Wand zu Wand, an Gestalt ein schlank dahingleitendes mädchenhaftes Weib, im Ausdruck aber ein eingefangener wilder Edelfalke, der mit seinen Flügeln die Käfigstäbe zerschlagen möchte ... Sie fühlte sich von einem Schemen umstrickt, der schlangenhaft aus dunklen Ecken nach ihr griff, und für dessen Wesen oder gar Beziehung zu ihr selber sie daheim in ihrer durch Vornehmheit und Reichtum geschützten Stellung nicht das mindeste Verständnis gehabt haben würde. Erst hier, in diesem deutschen Hause, nahte sich ihr die gemeine Lastersucht; sie fühlte den spitzen Dorn der üblen Nachrede bohrend in ihrer Seele, und sie, die als Rebellin den feindlichen Truppen mutig ins Auge gesehen, die sich vor den mörderischen Waffen nicht gefürchtet hatte, sie wand sich unter diesem Dorn in ohnmächtigem Grimm und echt weiblicher Verzagtheit.
Voll brennender Ungeduld zählte sie die Stunden bis zu Luciles Rückkehr. Nicht nur der heiße Wunsch, daß die möglicherweise aus Rom heimkommende Baronin sie nicht allein hier finden möchte, erregte sie – auch die Sorge stürmte auf sie ein, daß die unvernünftige kleine Frau durch Ungebundenheit und schrankenlose Vergnügungssucht der heimlich an ihr zehrenden Krankheit Vorschub leisten werde.
So waren vier Tage seit Luciles Abreise verstrichen, und noch stand die südliche Zimmerflucht der Erdgeschoßwohnung leer und verschlossen. Donna Mercedes' Unruhe und Erwartung steigerten sich allmählich zur fieberischen Aufregung – sie horchte angestrengt auf jedes ferne Räderrollen und schrak zusammen, wenn die Salontür geöffnet wurde ... Da endlich, am fünften Tage, kam ein Lebenszeichen, aber es war nur ein dünner Brief... Donna Mercedes riß das Kuvert auf und sank, nachdem sie die ersten Zeilen überflogen, wie vernichtet in sich zusammen.
»Ich bin im Himmel, und ganz Berlin befindet sich in einem wahren Rausch, in Verzückung!« lauteten die flüchtig hingeworfenen Eingangszeilen. »Was waren Mamas Triumphe gegen den Sieg, den ich gefeiert! Ich ersticke fast unter den Blumen, die man über mich schüttet, und habe eben aus meinem von Enthusiasten überfüllten Salon förmlich flüchten müssen, um diese paar Worte auf das Papier zu werfen. Ja, jetzt lebe ich wieder! Ich lebe! – Es ist ein himmlisches Dasein, ein Wonnerausch ohnegleichen! Was ich, solange ich nun wieder auf deutschem Boden stehe, im stillen vorbereitete, es hat sich erfüllt. Und nun, da die Gefahr einer unbefugten Einmischung deinerseits vorüber ist, sollst Du auch die Wahrheit erfahren – ich bin gestern abend als Gisella in den ›Willis‹ aufgetreten.«
Großer Gott, die Schwindsüchtige tanzte auf der Bühne! Man jauchzte ihr zu, die mit jedem Schritt dem sicheren Tod entgegengaukelte ... Dazu also die geheimen Tanzübungen, die Anschaffung neuer Kostüme! Daher die fieberhafte Eile bei ihrem neulichen Weggang – Lucile hatte zu ihrem Auftreten pünktlich in Berlin eintreffen müssen!... Ja, sie hatte recht gehabt, ihre Schwägerin war unverzeihlich »naiv und harmlos« gewesen, sie hatte sich als schlechte Hüterin für das ihr anvertraute ränkevolle junge Weib erwiesen, von dem der sterbende Mann jedenfalls einen derartigen Streich insgeheim befürchtet, und dabei doch nicht den Mut gefunden hatte, eine Warnung seiner Schwester offen auszusprechen... Nun war es doch geschehen, all seinen Anordnungen entgegen – der Vogel war ausgeflogen und schwebte und wiegte sich in Regionen, die ihm bei jedem Flügelschlag das tödliche Gift zuhauchten!
Donna Mercedes sprang auf – die Entflohene mußte sofort zurück... Es blieb ihr keine Wahl, sie muhte selbst nach Berlin gehen und der verhängnisvollen Laufbahn noch vor dem zweiten Auftreten ein Ende machen ... Wieder im vollen Besitz ihrer Energie und Kaltblütigkeit traf sie die Anstalten zur schleunigen Abreise. Aber diesen Entschluß mußte sie dem Herrn des Hauses anzeigen; sie war gezwungen, ihn zu bitten, die Kinder während ihrer Abwesenheit in seine Obhut zu nehmen.
Das Blut schoß ihr in das Gesicht – sie stand vor einem peinlichen Zwiespalt. Wie sollte sie ihm, den sie seit jenem Abend nicht wiedergesehen, diese Mitteilungen machen? Zu einer langen schriftlichen Auseinandersetzung blieb ihr keine Zeit; ebensowenig konnte sie ihm zumuten, behufs einer Besprechung mit ihr die Gemächer zu betreten, die sie ihm selbst in so schroffer Weise unzugänglich gemacht – sie fürchtete mit Recht eine empfindliche Zurückweisung ... Er hatte sich ja vollständig zurückgezogen. Wohl wußte sie, daß er täglich mit den behandelnden Ärzten Josés wegen verkehrte; Hannchen mußte ihm früh und abends Bericht erstatten, die kleine Paula war in seinem Atelier mehr daheim als im Säulenhause, er blieb nach wie vor der fürsorgende und liebevolle Beschützer für Lucians Kinder – aber die Schwester seines Freundes schien nicht mehr für ihn zu existieren. Selbst Luciles Flucht aus seinem Zause hatte nicht vermocht, ihm auch nur das geringste Anzeichen wiedererwachter Teilnahme abzuringen.
Es kostete einen bitteren Kampf; aber sie steckte schließlich Luciles Brief in die Tasche, um – in das Atelier zu gehen.
Es war um die vierte Nachmittagstunde. Die Scheiben des Glashauses sprühten glühende Sonnenfunken der immer langsamer Wandelnden entgegen, als sie aus der Platanenallee trat, und die von dorther wehende duftbeschwerte und beklemmend heiße Luft nahm ihr fast den Atem. Sie hatte inbrünstig gewünscht, Baron Schilling möchte sie bemerken und ihr auf dem schweren Wege ritterlich zu Hilfe kommen; aber keine der Türen öffnete sich, obgleich Pirat, in seiner Klause die Nähe der Herrin spürend, wie toll vor Freude lärmte.
Leise schob sie die Tür des Glashauses zurück und trat, von einem wilden Herzpochen fast erstickt, auf den kühlen Asphaltboden, den das üppig quellende Grün da und dort frei ließ. – Das erste, was sie erblickte, jagte ihr ein heftiges Erröten über das Gesicht – eine Gloxiniengruppe schimmerte in sanfter Farbenglut zu ihr herüber. Da waren die Blüten – vielleicht die ersten, kaum aufgebrochenen – gepflückt worden, die sie neulich mit verletzender Kälte zurückgewiesen hatte. Auch diese kleinen Blumenglocken sagten der stolzen Frau mit demütigender Bestimmtheit, daß ihr Erscheinen hier ein Schritt nach Canossa sei.
Sie wandte den Kopf weg, reckte sich empor und ging dem Eingang zu, der in das Atelier führte. Sie trat geflissentlich fest auf, und ihr schwarzes Reisekleid rauschte in allen Falten – man sollte ihr Kommen hören; allein die plätschernden Springbrunnen verschlangen das Geräusch.
Die Glastür stand offen; drüben aber hing der dunkle Samtvorhang und verwehrte nahezu den Eintritt. Durch die Spalte, die der Faltenwurf frei ließ, sah Donna Mercedes den Herrn des Schillingshofes unweit der Staffelei stehen; er hatte den Malstock in der Hand und war, den prüfenden Blick auf das Bild geheftet, um einige Schritte zurückgetreten. Das von oben kommende, alle Ecken und Schatten des Gesichts verschärfende Licht verschönte ihn nicht, trotzdem war und blieb er bei aller Unregelmäßigkeit der Linien und dem entschieden unschönen, derbdeutschen Typus ein höchst bedeutender Kopf, und hier, auf der Stätte seines Schaffens, machte er besonderen Eindruck.
Er war vertieft in seine Aufgabe, und Donna Mercedes scheute sich, die Stille, die ihn umgab, durch ein lautes Wort zu unterbrechen. In diesem Augenblick aber trat der Bediente Robert droben hinter dem Vorhang hervor auf die Galerie; er kam die Wendeltreppe herab und hatte Reisegepäck auf dem Arme. Beim Niedersteigen fuhren seine Augen über die halbverhüllte Glaswand des Wintergartens – er bemerkte die Dame; man sah es an dem pfiffigen Ausdruck, mit dem er den Blick wegwendete, als habe er sie nicht gesehen.
Donna Mercedes trat sofort unter die Tür. Sie schob den schweren Samtvorhang mit der Rechten zurück – so blieb sie stehen und sagte mit einer Stimme, vor deren hartem, sprödem Klang sie selbst erschrak: »Darf ich für einige Augenblicke um Gehör bitten, Herr von Schilling?«
Er fuhr empor. Sie sah deutlich, daß Unwille die Empfindung war, die ihr Erscheinen zunächst in ihm hervorrief; dann funkelte es wie grimmer Spott aus den tiefen, blauglänzenden Augen, und die Art und Weise, wie er, seinen Malstock weglegend, mit kühler Höflichkeit eine einladende Handbewegung nach dem nächsten Stuhle machte, sagte deutlicher als jedes Wort: »Ah, ein Besuch aus Laune!« Sie biß sich auf die Lippen, und die mächtigen Augen loderten zornig und gereizt; aber sie trat näher, und den angebotenen Stuhl zurückweisend, stützte sie die Hand auf den nächsten Tisch. Ein langsamer, stolzmessender Seitenblick glitt über den Bedienten hin, der sich anscheinend mit einem bereits gepackten Reisesack zu schaffen machte und den Lederriemen an der zusammengerollten Reisedecke wiederholt prüfte, in Wirklichkeit aber beide Ohren offen hielt, um etwas zu erlauschen.