Robert Kraft

Wir Seezigeuner (Abenteuer-Klassiker)


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denn die letzte Stadt, das letzte Dorf, wo du warst?«

      »Ich weeß nich.«

      »Von dort unten kamst du?«

      »Jawohl.«

      »Hattest du keine Begleiter?«

      »Ei ja.«

      »Wen denn?«

      »Nu, meinen Onkel und meine Tante und den Gottlieb und den Franz.«

      »Und wo sind die denn jetzt?«

      »Ich weeß nich.«

      »Was machten die denn?«

      »Kesselflicken taten sie.«

      Endlich war das große Wort heraus! Der Gendarm hatte es schon geahnt. Er war erst heute früh einer Kesselflickerfamilie begegnet, freilich gestern auch einer, vorgestern ebenfalls einer.

      Man wolle bedenken, daß unsere Erzählung zu einer Zeit spielt, da es in Deutschland noch ganz spärlich Eisenbahnen gab.

      Da zogen solche Kesselflicker, die aber nebenbei auch noch alles andere machten, Ratten und Mäuse fingen, Pudel schoren, kranke Kühe und Menschen heilten und dergleichen mehr, noch massenhaft im Lande umher. Man rechnete sie zu den Zigeunern, obgleich es durchaus keine zu sein brauchten.

      Der Gendarm brummte ärgerlich etwas in den Bart. Wenn es jetzt nicht gelang, die Eltern oder sonstigen Kumpane ausfindig zu machen, dann hatte den Bengel wieder die Stadtgemeinde auf den Hals, denn er war noch im Stadtbezirk gefunden worden, was ganz ungerechtfertigterweise wieder dem Gendarmen zum Vorwurf gemacht werden würde.

      »Wie alt bist du denn?«

      »Zwölf Jahre.«

      Auch das noch! Dann konnte er noch nicht einmal in die Lehre gegeben werden, das geschah damals oder doch in jener Gegend erst mit dem vollendeten dreizehnten Jahre, vorher mußte solch ein Findling in einer Anstalt untergebracht werden.

      »Woher weißt du denn, daß du zwölf Jahre bist?«

      »Das sagte doch immer mein Onkel, wenn er vom Gendarmen nach mir gefragt wurde.«

      Dann war daran nicht einmal viel zu ändern!

      »Komm mal mit!«

      »Wohin denn?«

      »Halt’s Maul!!« pfiff es jetzt aus einem anderen Tone.

      Der Junge hing sich seine durchlöcherte Decke um und trabte neben dem Gendarmen her.

      Nach einer halben Stunde erreichten sie die Stadt, in der noch volles Leben herrschte. War es doch auch erst acht Uhr, was man im Dezember aber schon Nacht nennen kann.

      Es ging auf die Hauptpolizeiwache, der Leutnant selbst nahm den Jungen ins Gebet, brachte aber mit seiner Weisheit auch nichts weiter aus ihm heraus, es blieb bei dem, was wir schon gehört haben.

      »Habe nie nich einen Vater, nie nich eine Mutter gehabt,« und so weiter.

      Der Junge wußte absolut nichts von sich, war dabei erschreckend dumm, hatte nicht einmal die Namen der letzten Städte und Dörfer behalten. Nun ja, daß er selbst Karl hieß und die richtigen Kinder von Onkel und Tante Gottlieb und Franz – das war aber auch so ziemlich die einzige Wissenschaft, in der er perfekt war.

      »Es ist ein Zigeunerjunge.«

      »Seine Begleiter waren Kesselflicker.«

      »Na ja, eben Zigeuner.«

      »Ein Kesselflicker braucht nicht immer ein Zigeuner zu sein,« belehrte der Polizeileutnant seine Untergebenen, »und der Junge hier hat unverkennbar den kaukasischen Typus.«

      »Ich habe keinen Typus, ich habe Hunger,« sagte der kleine Kaukasier mit weinerlicher Stimme.

      Gut, er kam einstweilen in die Arrestzelle und wurde mit Kommißbrot gefüttert.

      Eine halbe Stunde später meldete der Schließer, sein kleiner Arrestant sei gebadet worden, er sei ein gesunder, sehr kräftiger Junge, habe Läuse und habe zwei und ein halbes Kommißbrot aufgegessen oder vielmehr aufgefressen.

      Nach drei Tagen hatte man durch Verschreiben von zwanzig neuen Gänsekielen und einer Flasche Tinte für zwei gute Groschen konstatiert, daß des fremden Jungen Eltern oder bisherige Begleiter auf amtlichem Wege nicht hatten ermittelt werden können, und als dies geschehen war, wurde der Junge wieder vorgeführt, und es fing von Amts wegen von vorne an.

      »Wie heißt du?«

      »Karl.«

      »Wie heißt dein Vater?«

      »Habe nie nich einen Vater gehabt.«

      »Und deine Mutter?«

      »Habe nie nich eine Mutter gehabt.«

      »Gut! Schreiber, protokollieren Sie! Name Karl, hat keinen Vater und keine Mutter gehabt.«

      Schließlich aber mußte auch dieses Verhör einmal ein Ende nehmen. Doch das waren erst die allgemeinen Personalien gewesen. Jetzt fing man mit den intimen Angelegenheiten an.

      »Welche Schule hast du besucht?«

      Der Junge begnügte sich, sein Maul aufzusperren.

      »Vielleicht ist er überhaupt niemals nich in einer Schule gewesen,« wagte sich ein Ratsdiener zu bemerken.

      »Auch möglich. Hast du eine Schule besucht?«

      »Nee.«

      »Kannst du lesen?«

      »Nee.«

      »Kannst du schreiben?«

      »Nee.«

      »Du kannst weder lesen noch schreiben?«

      »Ich kann nur Kessel flicken und Ratten fangen und blaue Milch wieder weiß machen.«

      »Gut! Dann schreibe deinen Namen hierher unter das Protokoll!«

      Na, drei Kreuze konnte der Junge wenigstens malen, und dann kam er in das Gottesasyl.

      Wenn gesagt wird, daß in dieser deutschen Hafenstadt, jetzt eine ganz bedeutende, das Armen-Hospital noch heute Kurhaus und die Waisenanstalt Gottesasyl genannt wird, so dürfte mancher Leser wissen, was für eine Stadt das ist, die wir hier Beheim nennen wollen.

      Also in das Gottesasyl wurde der aufgelesene Junge gebracht. Aber in diesem war damals wenig von Gott zu spüren, wenigstens nicht von dem Gotte der Liebe des neuen Testamentes, eher hauste darin der des alten Testamentes: der Gott der Rache mit der Zuchtrute.

      Zweiundvierzig Zöglinge befanden sich zurzeit in dem alten, dicht an der Küste gelegenen Gebäude, welches einst eine Seefestung gewesen war, und das waren durchaus nicht alle Waisenknaben, deren Eltern man einst gekannt, sondern es war auch eben solch aufgelesenes Chor, welches damals die Landstraße noch viel mehr bevölkerte als jetzt, Findlinge, dann aber auch professionelle Tauchenichtse, welche der Magistrat den noch lebenden Eltern abgenommen hatte – kurz und gut: mehr Zwangserziehungsanstalt als Waisenhaus, haftete damals doch – für uns jetzt freilich ganz unbegreiflich – an einer mittellosen Waise ein gewisser Makel, nämlich insofern, als kein bemittelter Verwandter da war, der sich der Waise annahm, oder dies nicht tun wollte – und danach war die ganze Erziehung beschaffen, welche diese armen Jungen von ihrem sechsten bis zum dreizehnten Jahre laut Landesgesetz erhalten mußten, bis sie zu einem Meister in die Lehre gegeben wurden.

      Sie verdienten sich ihr täglich Brot schon redlich.

      Vom Frühjahr bis zum Herbst mußten sie den ganzen lieben langen Tag auf dem Felde arbeiten, das mit zu dem Gottesasyle gehörte, sie bauten sich ihr eigenes Brot, im Winter wurden sie mit Zerfasern von Schiffstauen beschäftigt, und in der Zeit, welche eigentlich zur Erholung dienen sollte, wurden ihnen von drei Lehrern einige dürftige Elementarkenntnisse eingepaukt.

      Diese drei Lehrer, welche aber von Beruf Gärtner oder Bauern oder Schuster oder sonst etwas waren, standen unter einem Direktor. Es ist von diesen vier braven