Robert Kraft

Wir Seezigeuner (Abenteuer-Klassiker)


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Vielleicht aus Rache, vielleicht aus Liebe. Wenn sie nicht ihren täglichen Rausch ausschliefen, dann spielten sie Karten, und in der wenigen Freizeit, die ihnen zwischen diesen beiden Hauptbeschäftigungen noch blieb, verprügelten sie ihre Pflegebefohlenen und rissen ihnen die Haare aus, was sie dann ›Unterricht geben‹ nannten.

      Das ganze Waisenhaus bestand aus drei nicht allzu großen Räumen – denn in dem ehemaligen Fort war kein anderer mehr bewohnbar, oder er hätte erst renoviert werden müssen, damit man nicht bei jedem Schritt durch die Diele eine Etage tiefer stürzte. In dem einen, vielleicht dem kleinsten, schliefen die zweiundvierzig Zöglinge auf fünfzehn Strohsäcken, im zweiten bekamen sie Prüg … wollte sagen Schulunterricht, und im dritten schliefen Lehrer und Direktor, und zwar hatten sie sich das größte Zimmer ausgesucht, weil dieses einen Ofen besaß.

      Diese ganze Wirtschaft kam daher, weil die Bürger der Stadt eben sehr zufrieden mit ihr waren. Das kostete sie nämlich keinen Pfennig, im Gegenteil, sie sparten noch viele Groschen dabei, indem die vier Lehrer eigentlich Stadtpensionäre waren, welche diesen Posten aber einer festen Pension vorgezogen hatten, und sie konnten sich auch wirklich recht gut ernähren. So ging das Jahr für Jahr hin, ohne daß sich die Behörde irgendwie darum gekümmert hätte, bis sie einen dreizehn Jahre alt gewordenen Jungen dem Gottesasyl abnehmen mußten, um ihn in einer Lehre unterzubringen. Dann war der Junge aber gewöhnlich viel älter, die Lehrer wollten die Arbeitskraft doch möglichst lange ausnützen, nachdem sie ihn von schwachen Kindesbeinen an aufgefüttert hatten.

      Es war am vierten Tage in der zehnten Morgenstunde, als ein Ratsdiener den neuen Findling in die Schulstube brachte, wo von zwei Lehrern gerade Unterricht erteilt ward, daß die Haare nur so herumflogen.

      So viel Tinte zuerst wegen des Findlings geflossen war, so bündig ging es hier zu.

      »Hier ein neuer,« sagte der Ratsdiener, »ist ein Zigeunerjunge, heißt Karl, zwölf Jahre.«

      Und der Mann des Gesetzes ging wieder von dannen.

      Die beiden Lehrer unterzogen den Jungen einer Besichtigung.

      »Was hast du sonst noch mitgebracht?«

      Außer seinen zerlumpten Kleidern nichts weiter als die durchlöcherte Decke, die er zusammengerollt unter dem Arme trug.

      Backs – für diese strafwürdige Dürftigkeit gab’s erst einmal eins an den Kopf.

      Da schoß aus des Jungen schwarzen Augen ein Feuerstrom hervor, er duckte sich wie ein Panther zusammen, der sich auf die erspähte Beute stürzen will – aber er sprang nicht, er hatte sich wohl nur zusammengeduckt, um einer zweiten Maulschelle zu entgehen, die er dann aber auch hinnahm, ganz geduldig.

      »Es ist ein kräftiger Junge, den können wir gut gebrauchen,« schmunzelte die andere Rotnase, so der Kollegin einen Zaum anlegend.

      Der neue Schüler bekam einen Griffel und ein Stück Schieferplatte, mußte sich auf eine der Kisten setzen, die hinter langen Tafeln standen, und mußte wie die anderen die Worte nachmalen, welche mit Kreide vorn auf die große Wandtafel geschrieben waren:

      »Am Nordpol ist es sehr kalt, am Südpol ist es sehr heiß.«

      Denn der Schreibunterricht wurde gleich mit der Geographiestunde verbunden, und wie diese Geographie, so war auch die Schreiberei beschaffen, die dort auf der Wandtafel stand, und wenn der Schüler auch zum ersten Male den Griffel in die Hand bekam, er mußte es eben nachmalen, von einer vorherigen Einweihung in die Kunst der Haar- und Grundstriche gar keine Rede, und schließlich geht auch das, so hat schon mancher schreiben gelernt, und wer es schlecht nachmalte, der mußte Haare lassen, und wer seine Sache ganz ausgezeichnet machte, der bekam zur Belohnung nur eins ins Genick. – – –

      Sonst wollen wir uns nicht weiter damit befassen, wie es Anno dazumal in diesem ›Gottesasyle‹ zuging. Wir geben nur das wieder, was für die Folge unserer Erzählung unbedingt notwendig ist.

      Der neue Zögling malte leidlich nach, schippte Schnee, faserte Taue auf, schlief mit vier anderen ohne Decke auf einem Strohsack, bekam wenig zu essen und destomehr Prügel.

      So ging alles seinen alten Lauf. Aber niemand ahnte, die guten Bürger von Beheim nicht und vielleicht noch weniger die vier Herren Lehrer, was für eine Verschwörung in dem Gottesasyl angezettelt worden war, was für eine gewaltige Revolution bevorstand.

      Schnell hatten des neuen Zöglings schwarze, funkelnde Augen Umschau gehalten, hatten jeden einzelnen der Kameraden gemustert.

      Es war ein Zufall, daß keiner unter acht Jahren war. Es war eben in letzter Zeit kein jüngerer hereingekommen. Die ältesten durften also das dreizehnte Lebensjahr nicht überschritten haben, und bei zweifelhaften Geburtsfällen mußte man da eben nach der Größe rechnen. Im Grunde genommen waren es lauter gesunde, kräftige Bengels, trotz der kärglichen Kost. Dafür aber hatten sie immer tüchtige Arbeit, meist im Freien, oder doch in der ungeheizten Stube. Denn wenn es nach dem reichlichen und nach dem kärglichen Essen ginge, dann müßten die Millionärskinder ja immer vor Kraft und Gesundheit strotzen, während die Bauernjungen bleich und hohlwangig herumschlichen, und gewöhnlich ist es doch umgekehrt.

      Aber gedrückt waren sie. Und das ist begreiflich. Hier wurden nicht solche Streiche ausgeführt wie im Mädchenpensionat Bumsfidel – wie sie wenigstens auf der Theaterbühne aus- und aufgeführt werden. Aller Uebermut war den armen Jungen schon längst durch den Stock ausgeprügelt worden. Im Sommer kam es manchmal vor, daß einer floh – was half es? – der Gendarm brachte ihn doch bald wieder, und dann gab es ungesalzene Suppe mit anderem Salz, und bei solch strengem Winter dachte niemand an so etwas. Müde und gebrochen suchte jeder am Abend sein hartes Lager auf, und es war nur gut, daß im Winter die Nacht so lang war, fast sechzehn Stunden lang, weil das Licht gespart wurde.

      Da mit einem Male sollte sich das ändern. Hier in der Schlafstube wurde nächtlicherweile ein zweiter Schulunterricht abgehalten.

      Eines Abends, der also schon um fünf begann, schliefen die vier Magister drüben wie gewöhnlich im Fuselrausch, den sie sich regelmäßig beim Kartenspiele im letzten Dämmerlicht holten, auch die dreiundvierzig Jungen hatten sich zähneklappernd nach ihren Strohsäcken getastet.

      Da mit einem Male flammte in dem finsteren Raume ein Licht auf. Schon dieses Licht war für die Knaben eine überirdische Erscheinung. Es war eine Oelfunsel, welche der Kesselflickerneffe in der Hand hatte, der erst seit zwei oder drei Tagen hier war.

      »Jungens, soll ich euch etwas vorlesen?«

      Keine Antwort. Eben schon das Licht war eine überirdische Erscheinung. Denn woher konnte der die Oellampe bekommen haben? Und jetzt brachte er gar noch ein Buch aus der Tasche zum Vorschein. Ein Buch, ein wirkliches Buch!

      »Soll ich vorlesen?«

      Keine Antwort. Es ging eben über ihre Begriffe.

      »Nun hört mir zu!«

      Und der Junge, der erst vor drei Tagen den Griffel in die Hand bekommen hatte, der erst beim Alphabet war, begann mit klarer, lauter Stimme vorzulesen, unbekümmert um die strengen Lehrer, welche dicht nebenan schliefen.

      Und was war es, das er vorlas?

      Das nach der Bibel weitestverbreitete Buch auf der Erde, übersetzt in sämtliche Sprachen, das alte und doch ewig junge, welches noch mit Freuden gelesen werden wird, wenn die preisgekrönten Romane unserer heutigen Dichter und Schriftsteller schon längst vergessen sein werden: Defoes ›Robinson Crusoe‹.

      Und mit offenem Munde und strahlenden Augen lauschten die Knaben, sie bekamen ja etwas zu hören, wovon sie bisher noch nicht einmal etwas geahnt hatten, und erst als in der dritten Morgenstunde der erste Ruf des früherwachten Hahnes erscholl, klappte der kleine Vorleser sein abgegriffenes Buch zu.

      »Für heute genug! Morgen lese ich euch weiter vor.«

      Und die zweiundvierzig legten sich hin, ihre Träume hatten einen neuen Stoff bekommen – sie träumten von einer einsamen Insel, von Palmen und Pisangs und Bananen, und sie wären auf dieser einsamen Insel freie Menschen.

      Am nächsten Morgen