nickte. »Das sehe ich.« Er grinste. »Du schwebst auf Wolke sieben.« Er erzählte von seiner Begegnung mit Hetty Page, und es blieb natürlich nicht aus, dass er auch über Molly Stone sprach. Harry hatte nichts anderes erwartet, aber er beteiligte sich kaum an dem Gespräch, ließ Victor einfach reden.
Du langweilst mich mit deinem Monolog, Vic, dachte er, während der Sprachdurchfall seines Freundes kein Ende fand. Victor konnte ihm nichts Neues erzählen, und wenn der Freund behauptete, dass Molly und Harry unbedingt zusammen gehörten, dass sie wie kein anderes Paar füreinander geschaffen waren, dann hatte das – auch aus Harrys Sicht – durchaus seine Richtigkeit, aber er steckte in einer emotionalen Sackgasse und war noch nicht imstande, umzukehren. Doch er nahm immerhin – obwohl von zu viel Grappa reichlich beduselt – zur Kenntnis, dass ihm jemand ein nachgewiesen falsches Schreiben untergejubelt hatte.
Victor Corran blieb fast eine Stunde bei seinem Freund und bearbeitete ihn intensiv. Als er sich verabschiedete, sagte er: »Wird langsam Zeit, dass du wieder in die Gänge kommst. Findest du nicht?«
Harry zog schweigend die Schultern hoch und ließ sie wieder fallen. Er wirkte unschlüssig und antriebslos.
Victor tätschelte die Wange seines Freundes. »Alles klar?«
»Ja, alles klar«, antwortete Harry Baxter mit feuchten Lippen.
»Sind meine Worte auf fruchtbaren Boden gefallen?«
Harry nickte. »Das sind sie.« Er sagte das nicht bloß, damit Victor sich zufrieden gab.
»Okay.« Victor Corran atmete schwer aus. »Dann gehe ich jetzt.«
»Danke, dass du gekommen bist, Vic.«
»Einer muss sich schließlich um dich kümmern«, sagte Victor Corran lächelnd. »Also dann. Mach’s gut.«
»Du auch.«
Victor Corran öffnete die Tür und verließ Harry Baxters kleine Wohnung.
*
Molly Stone zuckte zusammen, als hätte ihr der Anrufer einen schmerzhaften Faustschlag versetzt. »Warum geben Sie Ihrer Hauptakteurin meinen Namen?«
»Weil er mir gefällt.«
»Ist das der einzige Grund oder gibt es noch einen andern?«
»Sie vermuten richtig«, sagte Amigo. »Es gibt auch noch einen anderen Grund, aber darüber möchte ich noch nicht sprechen.«
»Warum nicht?«
»Ich würde sonst die Spannung zu früh herausnehmen und damit den Erfolg meiner Geschichte zu sehr beeinträchtigen.«
»Sie denken wirklich an alles.«
»Das muss man, wenn man beim Leser ankommen möchte«, sagte Amigo. »Und das möchte ich. Beim Leser ankommen. Ihn packen. Von der ersten bis zur letzten Zeile fesseln. Ein Bestseller soll mein Werk werden. Ein richtiger Verkaufsschlager. Ein Renner, den alle – auf der ganzen Welt – haben wollen.« Er schien davon überzeugt zu sein, dass ihm das gelingen würde. »Wissen Sie, warum sich viele Menschen, die eine echt gute Idee für ein Buch hätten, nicht ans Schreiben heranwagen, Molly? Weil das Überangebot an bereits vorhandener Literatur sie abschreckt. Es gibt schon so viele Bücher auf dem Markt, sagen sie sich. Da ist doch kein Platz mehr für was Neues. Und dann lassen sie es bleiben, und das Buch, das es wert gewesen wäre, verfasst zu werden, wird nie geschrieben?«
Molly hätte am liebsten aufgelegt. Dieser geltungssüchtige Geisteskranke machte ihr immer mehr Angst. Warum sie das Telefonat trotzdem nicht beendete, war ihr ein Rätsel.
»Wie wird Ihr Roman ausgehen?«, hörte sie sich fragen.
»Es wird kein Happy End geben, wenn Sie das meinen«, gab Amigo zur Antwort.
»Warum nicht?«, fragte Molly schaudernd.
»Ich hasse Happy Ends«, brummte der Unbekannte. »Sie sind schmalzig, kitschig und unrealistisch, haben mit dem richtigen Leben nichts zu tun.«
»Wird Ihre Heldin … sterben?«, krächzte Molly.
»Das muss sie«, sagte Amigo, als wäre das ganz klar und im Sinn einer eiskalt kalkulierten Logik.
»Warum muss sie das?«
»Um dem Titel meines Buches gerecht zu werden«, erklärte Amigo.
»›Erben müssen sterben‹«, sagte Molly Stone. »Was erbt die Molly in Ihrem Roman denn?«
Amigo war nicht willens, ihr das zu sagen. »Mehr möchte ich vorläufig nicht verraten«, erklärte er.
»Auch nicht, wie Ihre Protagonistin ums Leben kommen wird?«
»Auch das nicht«, sagte Amigo, »weil die Sache im Moment noch zu unausgegoren ist. Es gibt ja so viele Möglichkeiten, die Bühne des Lebens für immer zu verlassen. Durch einen Autounfall. Mit Gift. Mit einer Plastiktüte überm Kopf …« Er machte eine kleine Pause. Dann fuhr er fort: »Ich kann verstehen, dass Sie neugierig geworden sind, muss Sie aber um etwas Geduld bitten. Sobald das erste Kapitel fertig ist, schicke ich es Ihnen, okay? Ich bin ja schon eifrig am Schreiben und begreiflicherweise sehr gespannt, wie es Ihnen gefallen wird.« Es folgte eine weitere kleine Pause. Dann: »Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend, Molly. Und … Carpe diem … Weil man nie weiß, wann das Leben zu Ende ist.« Klick. Aus.
Amigo hatte aufgelegt.
*
Molly Stone nahm den Hörer langsam vom Ohr und starrte ihn fassungslos an. Ihre Hand zitterte. Sie war blass geworden und legte aufgewühlt auf.
Das war eine versteckte Morddrohung, dachte sie fröstelnd. Der Wahnsinnige hat gesagt, die Molly in seinem Roman müsse sterben, und er hat damit mich gemeint. Mich! Sein ganzes Buch wird von mir handeln, wenn es fertig ist. Alles, was er schreiben wird, habe ich entweder schon erlebt oder muss ich noch erleiden. »Erben müssen sterben.« Das ist nicht nur der Buchtitel, sondern … Molly schluckte aufgeregt. Amigos tragische Heldin wird erben. Wen wird sie beerben? Wen werde ich beerben? Meine Eltern? Sicher. Irgendwann einmal, wenn unser aller Leben normal abläuft. Im Moment sind sie glücklicherweise noch so jung, dass das erst in zig Jahren ein Thema sein wird. Mom ist 38. Dad 39. Und sie sind beide kerngesund. Bis auf … Na ja, Dad … Aber das ist kein ernsthaftes Problem …
Molly biss sich plötzlich bestürzt auf die Lippen. »Er wird doch nicht …«, stammelte sie erschrocken. »Er hat doch nicht etwa vor, meinen Eltern etwas anzutun?« Sie nagte an ihrer Unterlippe. »Damit ich erbe …« Ihre Augen verengten sich. »Was geht in deinem irren Kopf vor, Amigo? Du musst geisteskrank sein. Du kannst unmöglich normal sein. Einem normalen Menschen würden diese verrückten Dinge nämlich niemals einfallen.«
Wieder dachte sie an die Polizei. Sie fürchtete sich nicht ohne Grund, fühlte sich von Amigo bedroht und hatte jetzt auch noch Angst um ihre Eltern. Soll ich nicht doch …?, überlegte sie. Ich meine, dieser Teufel hat immerhin vor, mich zu ermorden. Das hat er zwar nicht so klar formuliert, doch … »Erben müssen sterben.« Der Titel beinhaltet logischerweise auch den Tod meiner Eltern, weil ich sie sonst nicht beerben kann. Aber … Tritt die Polizei nicht immer erst dann auf, wenn etwas passiert ist?
»Kommen Sie wieder, wenn das, was Sie befürchten, eingetreten ist, Miss«, murmelte Molly mit finsterer Miene. »Wenn Sie dann noch dazu in der Lage sind. Wir können nicht schon vorher eingreifen. Das geht leider nicht. Das müssen Sie verstehen. Sie haben nichts in der Hand. Es gibt keinen Zeugen für das Telefonat. Theoretisch können Sie es sich auch ausgedacht haben. Oder Sie sagen aus irgendeinem Grund einfach nur nicht die Wahrheit. Niemand will Ihnen so etwas unterstellen, Miss, aber was meinen Sie, was uns Tag für Tag unterkommt. Wir können nicht jeder Behauptung nachgehen. Dafür fehlen uns die Leute …«
Molly ging ratlos im Wohnzimmer auf und ab und fragte sich, was sie denn nun tun sollte. Sich ein paar Tage frei nehmen? Die Stadt verlassen? Irgendwo untertauchen? Würde Amigo ihr nicht überallhin folgen?
Er schien über jeden ihrer Schritte bestens Bescheid