Er schenkte seiner Frau einen warmen, innigen Blick.
»Meine Eltern waren mit Raffael Stone befreundet«, sagte Loretta Stone. »Er hatte sie eingeladen. Sie haben ihn besucht und …«
Molly schmunzelte. »Da hat es zwischen Dad und dir gefunkt.«
»Das war eine himmlische Fügung des Schicksals«, sagte ihr Vater. »So etwas kommt nicht oft im Leben vor.«
»Und noch seltener passiert es, dass das Feuer der Liebe so lange weiterlodert«, meinte Molly.
Ihre Mutter nippte kurz von ihrem Glas. »Man darf es nie sich selbst überlassen, muss achtsam damit umgehen, muss sich beständig darum kümmern und bemühen und muss wissen, auf welche Weise man es immer wieder aufs Neue schüren kann, damit es nicht erlischt.«
Ihr seid ein leuchtendes Beispiel für mich, dachte Molly, aber was wollt ihr mir eigentlich sagen? Ihr habt dieses Thema an meinem heutigen achtzehnten Geburtstag bestimmt nicht grundlos angeschnitten. Worauf wollt ihr hinaus?
»Wir träumten von ewiger Liebe und immerwährendem Glück«, sagte Delbert Stone.
»Ihr habt euren Traum wahr gemacht«, bemerkte Molly.
»Ja, das haben wir«, sagte ihr Vater. »Aber nicht ganz so, wie wir uns das vorgestellt haben«, schränkte er mit düsterer Miene ein. Das hatte Molly jetzt zwar akustisch mitbekommen, aber nicht ganz verstanden. Sie sah ihren Vater fragend an. Delbert Stone sagte: »Nachdem wir geheiratet hatten…« Er brach ab.
Loretta Stone fuhr fort: »… wollten wir …«
»… eine Familie gründen …«, sagte ihr Mann.
»Wir wollten unsere Liebe, unser Eheglück mit einem Kind krönen«, fasste Loretta Stone zusammen.
»Aber …«, sagte ihr Mann betreten.
»Es wollte und wollte nicht sein«, seufzte Loretta Stone. »Ich wurde einfach nicht schwanger.«
»Und … wie hat es schließlich doch geklappt?«, erkundigte sich Molly neugierig. Davon hatten ihr die Eltern nämlich noch nie erzählt. Das war neu für sie.
»Es hat nicht geklappt«, sagte Loretta Stone schwermütig.
Molly zeigte auf sich. »Aber …« Wieso bin ich dann doch da?, sollte das heißen.
»Wir haben alles versucht«, sagte Loretta Stone niedergedrückt. »Ich war bei namhaften Ärzten, erfahrenen Hebammen und bekannten Naturheilern, habe alle Ratschläge sehr genau befolgt, doch der ersehnte Kindersegen stellte sich nicht ein.«
Delbert Stone runzelte die Stirn. Er schien nicht gern darüber zu sprechen, aber offenbar sollte es an diesem Tag endlich raus.
»Also ließ ich mich untersuchen«, sagte er leise, »und dabei stellte sich heraus, dass ich …« Er seufzte bedrückt. »Ich bin leider nicht zeugungsfähig. Eine Krankheit in der Kindheit … Das kommt nicht oft vor, aber manchmal eben doch, und uns blieb nichts anderes übrig, als uns mit dieser ebenso unerfreulichen wie irreparablen Tatsache abzufinden.«
Loretta Stone legte die Hände in ihren Schoß. »Kein Baby …«
Ihr Mann nickte. »Kein Baby«, wiederholte er. »Aber damit wollten wir uns nicht abfinden. Wir wollten unbedingt ein Kind haben. Wenn nicht so, dann auf eine andere Art.«
Es folgte eine längere Pause. Immer wieder suchten und fanden sich die Blicke der Eltern. Achtzehn Jahre hatten sie das Geheimnis für sich behalten, doch nun wollten sie nicht länger schweigen. Die Zeit war reif für die Wahrheit. Loretta Stone begann: »Und so haben wir …«
Delbert Stone sprach weiter: »… uns entschlossen …«
»… ein Baby …«
»… zu adoptieren«, vollendete Delbert Stone den Satz, der Molly völlig durcheinanderbrachte.
Ich bin ein Adoptivkind!, hallte es in ihrem Kopf. Ich sitze nicht meinen physischen Eltern gegenüber. Wieso trifft mich das so sehr? Ist das wirklich so schlimm? Was für eine Rolle spielt das denn? Ich liebe diese beiden Menschen über alles und sie lieben mich. Sollte es da nicht egal sein, dass sie nicht meine richtigen Eltern sind? Wer sind aber dann meine leiblichen Eltern? Sie stellte Loretta und Delbert Stone zwangsläufig diese Frage, bekam darauf aber nicht die gewünschte Antwort.
Die beiden sprachen von höchst unterschiedlichen Adoptionsverfahren, die damals zur Auswahl gestanden hatten. Sie hatten entschieden, ein Kind zu adoptieren, ohne über dessen Eltern informiert zu werden. Sie wollten einfach nur ein Baby haben – losgelöst von allem. Ein Baby – ganz für sich allein.
Als wäre es ihr eigenes. Und so wollten sie es auch behandeln, lieben, großziehen und erziehen – wie ihr eigenes. Wie die alleinige Frucht ihrer großen Liebe. Ohne irgendeine erbbiologische, soziale oder rechtliche Belastung. So hatten sie’s dann auch gehandhabt und bis zu Mollys achtzehntem Geburtstag konsequent durchgezogen.
Molly hatte Mühe, diese riesengroße, für sie beinahe unbegreifliche Überraschung zu verdauen, doch zu guter Letzt sagte sie bewegt: »Ganz gleich, wer – biologisch – dafür verantwortlich ist, dass es mich gibt, dass ich auf der Welt bin, dass ich existiere. Für mich werdet immer ihr meine Eltern sein und bleiben. Mutter und Vater. Mom und Dad. Die beiden wichtigsten Menschen in meinem Leben, die immer für mich da waren, mich behütet, umsorgt und mit Herzensgüte geradezu überschwemmt haben und die ich lieben werde, solange ich lebe.« Sie hatte sie mit Tränen in den Augen umarmt und hinzugefügt: »Wer weiß, was aus mir geworden wäre, wenn ihr mich nicht adoptiert hättet.«
*
Das lag nun also etwas mehr als ein Jahr zurück, und es wäre in Molly Stone wohl nicht ausgerechnet jetzt hochgekommen, wenn Amigo ihr nicht dieses blöde leere Buch mit dem beängstigenden Titel geschickt hätte.
Molly dachte: Vielleicht soll ich nicht Loretta und Delbert Stone beerben, sondern … Ja, wen eigentlich? Meine anderen … Eltern?
Es fiel Molly schwer, diese unbekannten Leute – wenngleich auch nur im Geist – so zu nennen. Eltern … Das waren diese Leute nicht. Jedenfalls nicht für Molly. Sie hatte bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag überhaupt nichts von deren Existenz gewusst.
Normalerweise hat ein Mensch nur einen Vater und eine Mutter, dachte sie. Da liegen die Dinge einfach. Ich habe – leider – zwei. Und da wird es kompliziert.
An diesem Abend fragte sie sich zum ersten Mal: Wer sind meine so genannten »richtigen« Eltern? Sie hatte diese Frage ein Jahr lang ganz gut verdrängt, doch heute schaffte sie das nicht mehr. Wer ist mein leiblicher Vater, meine leibliche Mutter?, ging es ihr durch den Kopf. Wie heißen sie? Warum haben sie mich nicht behalten? Warum haben sie mich weggegeben? Wieso war ich ihnen nicht willkommen? Wo leben sie? In London? In England? Im Ausland? Wie geht es ihnen? Leben beide noch? Oder nur noch ein Elternteil? Haben mir Mom und Dad damals, an meinem achtzehnten Geburtstag, die ganze Wahrheit gesagt? Oder gibt es noch eine weitere, eine zusätzliche Wahrheit? Soll ich nach entsprechenden Antworten suchen? Ist das gegenüber meinen – von mir anerkannten – Eltern kein Vertrauensbruch?
Molly wusste, wo sich sämtliche Familiendokumente befanden. Sollte sie da mal nachforschen? Musste sie das nicht sogar im Anbetracht der mysteriösen Vorkommnisse tun? Amigo hatte immerhin ein gespenstisches Treiben inszeniert, das nach einer raschen Aufklärung verlangte.
Er hatte Molly verstört und verwirrt, ihr Leben auf den Kopf gestellt und völlig durcheinander gebracht, hatte sie isoliert, um sie für sich und seine gleichermaßen unheimlichen wie geschmacklosen Spielchen allein zu haben.
Vielleicht gab es in den Familienpapieren einen Hinweis auf ihn. Molly hoffte es, obwohl sie es sich nicht so recht vorstellen konnte.
Sie holte drei dicke graue Aktenordner aus dem Schrank, legte sie auf den Tisch, setzte sich und begann sie zu durchforsten.
*
Er war da.
Er war in ihrer Nähe.
Er