Mary Henrietta Kingsley

Reisen in Westafrika


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und Ptolemäus erwähnen ihn in ihren Schriften. Seewärts werden die Gewässer vor seinen Mündungen seit dem 15. Jahrhundert kontinuierlich von Handelsschiffen befahren, doch wurde das Delta nicht als zum Niger gehörig erkannt. Einige Geographen vertraten die These, der Senegal oder der Gambia wäre seine Mündung, andere meinten, es sei der Kongo. Wieder andere waren der Meinung, der Niger münde überhaupt nicht an Afrikas Westküste, sondern fließe irgendwo mitten im Kontinent in den Nil – und so weiter und so fort. Sieht man die Sümpfe jedoch vor sich, erscheint die Angelegenheit nicht mehr so merkwürdig. Nehmen wir einmal an, Sie bewegen sich flussauf in einem Arm, der nach einem großen Fluss aussieht. Ein Beispiel wäre der Forcados, an der Mündung rund vier Kilometer breit und ein echter Teil des Niger. Doch bevor sie weit gekommen sind, öffnen sich zu beiden Seiten breite, geschäftig aussehende Zuflüsse und geben den Blick auf weite, von Mangroven ummauerte Ströme frei. Doch zwei von drei solcher Ströme sind reine Täuschungen, in denen Sie nach kurzer Zeit auf Grund laufen werden. Einige wenige bilden Verbindungen mit anderen Hauptkanälen zum großen Oberlauf des Flusses, wieder andere sind selbst solche Hauptadern, doch die meisten dieser Kanäle vernetzen sich nur untereinander und führen nirgendwo hin – und wegen der meist geringen Wassertiefe können Sie nicht einmal in dieses Nirgendwo gelangen. Es ist kaum verwunderlich, dass die Seefahrer früherer Zeiten mit ihren Segelschiffen nicht sehr weit flussaufwärts gelangten und das Problem von Männern gelöst werden musste, die dem Hauptstrom flussab folgten, bis er sich an all die Kanäle »verschwendet«, wie wir in Devonshire zu sagen pflegen. Darüber hinaus darf man nicht vergessen, dass die Einheimischen, mit denen sich diese Handelsschiffe zunächst der Sklaven und dann des Palmöls wegen auseinandersetzten, weder damals noch heute zur beschaulichen Familie der friedlichen Wilden gehörten. Im Gegenteil: Sie kommen nicht mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht, sondern töten die Besatzung jedes ungeschütztes Schiffs, das ihnen in die Hände fällt – nicht nur aus Mordlust, sondern auch, um zu verhindern, dass die weißen Händler ins Landesinnere vordringen, wo die Handelsgüter produziert werden, und so die Preise verderben. Und zu allem Überfluss gibt es in der ganzen Region praktisch keine Nahrungsmittel.

      Heute ist ziemlich sicher, dass die Flüsse der großen Mangrovensümpfe vom Sombreiro bis zum Rio del Rey keine Nebenarme des Niger sind. Doch die höher gelegenen Regionen dieses Teils Westafrikas werden von den britischen Entdeckern noch immer weitgehend ignoriert. Ich halte die ausgedehnten Sumpfgebiete der Bucht von Biafra für die großartigsten der Welt und in ihrer Endlosigkeit und Düsternis liegt eine Erhabenheit, die der des Himalaya gleichkommt.

      Nehmen Sie irgendeinen Mann, gebildet oder nicht, und stellen ihn an einem Sonntag in der Regenzeit auf Bonny oder dem Forcados ab. – Bonny als Auswahlmöglichkeit, aber der Forcados ist gut. Nachdem er auf seinen trüben Gewässern eine Woche auf das Boot aus Lagos gewartet hat, bleibt das Landschaftsbild des Forcados unauslöschlich in seinem Gedächtnis eingeprägt, selbst wenn der gestrige Tag längst verblichen ist. Und erst Bonny! Nun, umfahren Sie die große Sandbank und werfen Sie abseits der Faktoreien Anker: Seewärts leuchtet die Gischt über den Sandbänken boshaft weiß vor dem bleiernen Himmel und den Überresten der Breaker Insel. In jeder anderen Richtung sehen Sie scheinbar endlose Mauern aus Mangroven, immer in der gleichen Farbe, Form und Höhe, sieht man einmal vom Effekt der Perspektive ab. Davor und zwischen Ihnen und den Bäumen liegt die faulige Brühe des Bonny Rivers: Flussauf wie flussab kilometerlang fauliges Schlammwasser, begrenzt vom genauso fauligen Schlamm der Mangrovensümpfe. Die einzige Abwechslung – man kann es nicht wirklich eine Verbesserung des Anblicks nennen – sind die dürren schwarzen Gerippe alter Ruinen ehemaliger Handelsstationen, die bei Niedrigwasser trockenfallen und wie die Skelette großer Untiere wirken, die starben, weil das Wasser des Bonny selbst für sie zu stark war. Außerdem kann man die weiß gestrichenen Faktoreien und ihre großen Lagerhallen für Palmöl sehen. Meist weht die Fahne vor einer oder gleich die vor mehreren Faktoreien auf Halbmast, was die Szenerie auch nicht gerade auflockert, weil sie natürlich verkünden, dass »mal wieder« irgendjemand gestorben ist. Die ganze Zeit liegen über allem die Wolkenbrüche der Regenzeit, die Tag und Nacht mit ihrem dumpfen Dröhnen herabströmen. Ich habe erlebt, wie es auf Bonny sechs Wochen ohne Unterbrechung regnete, als käme das Wasser aus einer Maschine, und die folgende Pause bestand aus einigen feuchten Tagen, woraufhin der Regen auf die gute alte Westküstenweise wie ein Wasserspeier für weitere Wochen zurückkehrte.

      Während Ihre Augen mit der charakteristischen Szenerie Bonnys beschäftigt sind, bemerken Sie einen eigentümlichen Geruch – eine Intensivierung jenes Geruchs, den Sie schon bei der Annäherung an Bonny abends draußen auf See bemerkt hatten. Das ist der Odem des Malariaschlamms, voller Fieber Himalaya, und es ist gut möglich, dass Sie morgen bereits krank sind. Ist es jetzt beinahe abends, können Sie beobachten, wie er Gestalt gewinnt, wie er aus den Seitenarmen und zwischen den Wurzeln der Mangroven hervorkriecht, -schleicht und -gleitet, sich wie eine Decke über den Fluss legt. In einem düsteren Spiel streckt und dehnt er sich, klettert schließlich über die Planken Ihres Schiffs empor, kommt an Bord und breitet seinen Mantel aus Nässe aus, der in wenigen Stunden über allem einen grünlichen Moder wachsen lässt. Kein Lärm wird Sie stören, da ist nur der Regen – ein Geräusch, von dem man sagt, dass er Fieberkranke nahezu in den Wahnsinn treiben kann – und ab und zu der deprimierende Schrei eines Brachvogels, sie gibt es hier in großer Zahl. Diese Kombination ist so belastend, dass Sie nach sechs bis acht Stunden dankbar sind, der Schiffsmannschaft beim Bedienen einer Winsch zuzuhören. Was auch immer Sie zuvor schon von der Welt gesehen haben, Sie werden sagen: Grundgütiger – was für ein Ort!

      Ich war nun schon fünfmal am Bonny und mag den Ort. Sofern man lange genug lebt, um die seltsame Faszination der Gegend auf sich wirken lassen zu können, fängt vermutlich jeder irgendwann an, sich dort wohlzufühlen. Als ich aber 1893 das erste Mal dort anlegte, auf einem von Kapitän Murray befehligten Schiff, geschah dies im August, also mitten in der Regenzeit. Trotz des Vertrauens, das ich zu jener Zeit bereits in die Fähigkeiten und Kenntnisse meines Kapitäns über die Westküste hatte, packte mich beim Betrachten der Szenerie die Panik. Zu dem alten Küstler gewandt, der zu jener Zeit mit meiner Betreuung beauftragt war, meinte ich: »Gütiger Himmel! Welch ein Missgeschick, wir haben uns verirrt und sind den Styx angelaufen.« »Bonny ist ein feiner Ort, wenn man sich an ihn gewöhnt hat«, antwortete er mir offensichtlich gekränkt – und fing an, über die letzte Epidemie zu erzählen, als innerhalb von zehn Tagen neun der insgesamt elf Einwohner dem Gelbfieber zum Opfer fielen.

      Ich weiß: Außer für die Beschreibung »einer Flusslandschaft« eigne ich mich besonders wegen meiner Fröhlichkeit für alle lokalen Plaudereien über seine Mangrovensümpfe. Jeder wirklich wichtige Strom Westafrikas hat seinen Mangrovengürtel, der sich so weit ins Inland erstreckt, wie die Gezeitenkräfte das Wasser brackig werden lassen. Die genaue Tiefe und Ausdehnung hängen von der Formation des Untergrundes ab: Oberhalb dieses Gürtels folgt immer eine dicht bewaldete Region, die Flussufer in jenem Abschnitt sind immer Lehmklippen, manchmal hoch wie beim Old Calabar bei Adiabo, meist jedoch recht niedrig wie der Forcados bei Warree oder der Ogowé – für eine lange Strecke durch Kamaland. Nach den Lehmufern folgen die Stromschnellen, wo der jeweilige Fluss sich seinen Weg durch eine Gebirgskette sucht. Beispiele sind die Pallaballa, die für die Livingstonefälle des Kongo verantwortlich sind, so, wie das Kristallgebirge für die Stromschnellen des Ogowé und vieler kleinerer Flüsse oder die Rumpiberge und die Bakossi-Berge für die des Old Calabar und des Cross Rivers.

      Selbstverständlich unterscheiden sich diese unterschiedlichen Abschnitte je nach Region in ihrer Größe erheblich. Die Mangrovensümpfe sind manchmal nur ein dünner Saum an den Mündungen der Flüsse, mitunter bedecken sie aber auch Hunderte von Quadratkilometern. An einigen Orten erstrecken sich die Lehmklippen nur einen oder zwei Kilometer am Ufer entlang, anderswo, wie beim Ogowé über mehr als zweihundert Kilometer. Und so ist es auch mit den Stromschnellen: In einigen Flüssen, etwa den Strömen Kameruns, dauern sie nur wenige Kilometer an, in anderen ziehen sie sich über lange Strecken hin, im Fall des Ogowé über achthundert Kilometer. Diese Stromschnellen können sich nahe der Flussmündung befinden, wie bei den meisten der Goldküsten-Ströme mit Ausnahme des Ancobras und des Voltas oder sehr weit im Landesinneren wie beim Cross River, wo sie erst nach rund 320 Kilometern beginnen, oder beim Ogowé, wo sie rund 330 Kilometer von der Küste entfernt einsetzen. Dies hängt von der Nähe oder Ferne der Küste zu den Bergketten ab, die sich im