Mary Henrietta Kingsley

Reisen in Westafrika


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der Firma, und da der Dampfer in Eile war, begleitete ihn keiner der Offiziere zum Faktoreigebäude. Stattdessen verabschiedete man sich und ließ den jungen Mann allein unter – wie er glauben musste – nackten Wilden zurück, die jedoch in Wahrheit gutmütige Kru waren. Er konnte nicht verstehen, was sie sagten, und sie verstanden ihn nicht, und so wanderte er hinauf zum Haus und auf die Veranda. Dort begab er sich auf die Suche nach dem Handelsvertreter, dem er unterstellt worden war. Etwas schüchtern schaute er sich auf der Veranda um und durch ein Fenster in den Speisesaal. Er sah jedoch niemanden und setzte sich schließlich, um zu warten, bis jemand auftauchte. Mehrere Einheimische erschienen und sagten irgendetwas, aber kein Weißer oder jemand, der des Englischen mächtig gewesen wäre. In seiner Verzweiflung unternahm der junge Mann schließlich eine zweite und gewagtere Suche. Schließlich hörte er sehr merkwürdige Geräusche aus einem der Räume kommen und sah unendlich viele Fliegen sich einen Weg durch die Ritzen in einem der hölzernen Fensterläden suchen. Er nahm allen Mut zusammen, ging hinein. Was er fand, waren die Überreste des weißen Handelsvertreters, sehr viele Ratten und einen Großteil der Fliegen Westafrikas. Er muss anschließend selbst Fieber bekommen haben und war zwei Wochen später von einem französischen Schiff aufgelesen worden, dem die Einheimischen seine Notlage signalisiert hatten. Er wird die Küste kein zweites Mal betreten. Manche Männer wären bei so einem Anblick allein am Schock gestorben.

      Die meisten Neulinge jedoch erleben zur Begrüßung keinen Schock dieser Größenordnung. Entweder sterben sie selbst oder sie werden an die beschriebene Problematik schrittweise herangeführt, bis sie Tod und Fieber wie Soldaten betrachten, die am Abend einer Schlacht, in der sie Freunde und Kameraden haben sterben sehen, sich mitten auf dem Schlachtfeld rund um ein Lagerfeuer niederlassen. Dort lachen sie und erzählen einander Geschichten, obwohl sie wissen, dass die Schlacht am Morgen von Neuem beginnen wird und sie den morgigen Abend vielleicht selbst nicht erleben werden.

      Das ist keine hartherzige Gefühlskälte, sondern bloß ihre Art des Umgangs mit diesen Dingen. In Tom Cringles Tagebuch beschrieb Michael Scott dies gut am Beispiel der Gelbfieberepidemie während des Krieges in Westindien. Fieber ist nicht die einzige Gefahr, wenn auch die größte, besonders für diejenigen, die die Dörfer der Einheimischen betreten. Die übrigen Gefahren sind – vielleicht mit Ausnahme von Lebensmittelvergiftungen – unvermeidliche Begleiterscheinungen des Herumwanderns in Wäldern oder an Flüssen inmitten naiver Stämme, und ich werde mich mit ihnen nicht aufhalten. All jenen Gefahren kann jedermann mit einem klaren Verstand entgehen, indem er den Gegenden fernbleibt, in denen sie auftreten. Daher warne ich meine Leser: Wer nach Westafrika reist, sollte sich nicht darauf berufen, ich hätte gesagt, es sei dort sicher oder die Gefahren seien übertrieben. Die Gräber der Westküste sind voll von den Opfern derjenigen, die behaupteten, das Fieber der Küste sei »Korken-Fieber« und die Betroffenen seien selbst schuld, was völlig falsch ist. Auch, dass die Einheimischen nie angreifen, es sei denn, man greife sie an, stimmt so nicht. Die Einheimischen greifen sehr wohl an – bei gegebenen Anlässen.

      Das wichtigste Ziel meiner Reise nach Französisch-Kongo war es, im oberhalb des Einflusses der Gezeiten liegenden Teil des Ogowé fischen zu gehen. Ursprünglich hatte ich lediglich geplant, Fische aus einem Fluss nördlich des Kongo zu sammeln und gehofft, hierfür den Niger bereisen zu können. Sir George Goldie wollte mir dort großartige Möglichkeiten zur Verfügung stellen, um in Ruhe und Komfort arbeiten zu können. Doch aus verschiedenen privaten Gründen war ich nicht bereit, vom Nigerküsten-Protektorat aus in das Gebiet der Nigergesellschaft zu reisen. Der Calabar, wo Sir Claude MacDonald alles in seiner Macht Stehende unternahm, mir zu helfen, erwies sich als ein zum Sammeln von Fischen für mich ungeeigneter Fluss. Da diese beiden Flüsse also ohne eigenes schuldhaftes Handeln ausschieden, lag meine einzige Hoffnung auf dem Fluss der Südwestküste, dem Ogowé, und dort hing alles von Mr. Hudsons Haltung zu wissenschaftlicher Forschung auf dem Gebiet der Fischkunde ab. Zu meinem Glück gefiel jenem Herrn mein Projekt, und er unterstütze mich während meines gesamten Aufenthalts in Französisch-Kongo auf jede ihm mögliche Weise. Doch bevor ich mit der detaillierten Beschreibung jenes wundervollen Teils Afrikas beginne, muss ich kurz die Eigenheiten der Westküstenflüsse und ihr Verhalten im Allgemeinen darstellen. Das Folgende wird dann um so leichter verständlich sein.

      Vom Volta im Norden bis zum Coanza im Süden ähneln die Ströme der Westküste einander auf eine Weise, die, wenn man sich daran gewöhnt hat, sehr einnehmend ist. Mit Ausnahme des Kongo münden die wirklich großen Flüsse mit so viel Geheimniskrämerei ins Meer wie möglich. In vielen miteinander verbundenen Kanälen faulenzen sie in der Sonne zwischen ihren Mangrovensümpfen und scheinen zu fragen: Was interessiert es mich, wo das Meer ist? Warum die Eile? Auf dem ersten Blick gleichen diese Kanäle einander wie Erbsen in einem Topf, jeder ist auf beiden Seiten von grün-schwarzen Wänden aus Mangroven begrenzt, die Kapitän Lugard bildhaft mit den Worten beschrieb, sie wirkten, »… als hätten sie jedes Gefühl pflanzlichen Anstandes verloren und stünden auf Stelzen, die Äste emporgestreckt aus der Nässe und ihre nackten Wurzeln der Luft preisgegeben«. Ob Ebbe oder Flut macht für das Wasser kaum Unterschied – egal ob der Fluss an dieser Stelle breit oder schmal, tief oder flach ist, immer schaut er wie ein Straße aus poliertem Metall aus, denn er ist so voll stinkendem Schlamm, wie Wasser nur eben sein kann – jahrein, jahraus, Ebbe oder Flut. Doch die Unterschiede an den Ufern sind bizarr, auch wenn es sich nur um das endlose Hin und Her zwischen zwei Zuständen handelt.

      Bei Hochflut verbergen die Mangroven ihre Füße und hätten Kapitän Lugard keinen Grund zur Beschwerde geboten. Sie wirken überaus respektabel, nur ab und zu unterbricht eine freiliegende Wurzel die Mauer ihres dichtes Blattwerks. Diese Wurzel stürzt sich von irgendeinem weiter oben liegenden Ast senkrecht wie ein Lot hinab, bevor sie sich etwa zwei Fuß über der Wasseroberfläche in mehrere stumpfe Finger teilt, deren Enden ins Wasser und nach dem Schlamm greifen. Von Ufern lässt sich bei Flut kaum reden, denn das Wasser überschwemmt die Mangrovensümpfe nun viele Kilometer tief, und mit einem passend kleinem Kanu kann man sich in diesen Sümpfen frei fortbewegen.

      Dies zu tun ist ein faszinierendes Unterfangen, jedoch sollte man es mit Vorsicht angehen. Zum einen begegnet man mit Sicherheit Krokodilen. Nun ja: Wenn Sie vom Deck eines Dampfers auf ein weit unter Ihnen im tiefen Wasser schwimmendes Krokodil herabblicken, oder ein Exemplar betrachten, das mit aufgerissenem Maul auf einer Sandbank in der Sonne döst, so mögen diese Tiere malerische Ergänzungen des Landschaftsbildes sein, über die Sie in Ihren Briefen nach Hause berichten und mit denen Sie die liebe Verwandtschaft das Fürchten lehren können. Doch wenn Sie irgendwo in den Sümpfen in einem kleinen Kanu unterwegs sind, und das Krokodil und seine liebe Verwandtschaft sind wach – worauf diese Tiere bei Flut besonderen Wert legen, weil nun die Fische vorbeischauen – so wird die Situation plötzlich sehr interessant, und möglicherweise werden Sie doch nicht über die Begegnung schreiben können: Dafür lernen Sie aber auch selbst das Fürchten. Krokodile können bei solchen Gelegenheiten nach Leuten in kleinen Kanus schnappen und tun dies auch regelmäßig. Ich kenne mehrere Berichte über Einheimische, die auf diese Weise ihr Leben verloren. Manche Dörfer der Einheimischen sind vom Hauptfluss aus über Abkürzungen durch die Mangrovensümpfe erreichbar und ihre Einwohner befahren diese Abkürzungen ab und zu mit kleinen Kanus, anstatt den fast immer langen und gewundenen Kanal zum Dorf zu nutzen.

      Zu derartigen Unbequemlichkeiten kommt noch hinzu, dass Sie riskieren, von der Tide im Stich gelassen zu werden – zumindest, bis Sie sich aus Erfahrung dieser Gefahr bewusst sind oder einen erfahrenen einheimischen Ratgeber an Ihrer Seite haben. In solchen Fällen geht das Wasser zurück, während Sie sich in irgendeinem tiefen Becken oder einer Lagune befinden und feststellen, nicht mehr zum Fluss zurück zu können. Natürlich: Geht es Ihnen nur um einen sicheren Weg zum Ruhm und liegt Ihnen die Nachwelt und besonders die Wissenschaft der Nachwelt wirklich am Herzen, können Sie einfach über Bord in den schwarzen, teigigen, stinkenden Schlamm springen. Dort begeistern Sie sich dann an der Vorstellung, welche Aufregung Sie in etwa 20 000 Jahren auslösen, und mit welcher Aufmerksamkeit sich Ihre Kollegen im Museum Ihnen dann zuwenden werden. Sind Sie jedoch etwas gewöhnlicher und eine bescheidene Person wie ich, halten Sie in Ihrem jeweiligen Tümpel die Stellung und warten auf die Rückkehr des Wassers. Ein Großteil Ihrer Aufmerksamkeit gilt dabei den Auseinandersetzungen mit Krokodilen und Mangrovenfliegen, denen Sie verdeutlichen müssen, dass Sie hellwach sind, und dem furchterregenden Gestank des Sie umgebenden Schlamms.