Mary Henrietta Kingsley

Reisen in Westafrika


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dem Ganzen auch noch die Krone aufsetzen, indem Sie sich wie ein riesengroßer Idiot in den Mangrovensümpfen herumtreiben?

      Doch selbst wenn Ihre eigenen besonderen Vorlieben und Leidenschaften Sie nicht in einem kleinen Kanu ins Herz der Sümpfe treiben, können Sie den Unterschied, den das Kommen und Gehen der Gezeiten für die örtliche Landschaft bedeutet, recht gut beobachten: etwa wenn Sie an Deck eines auf einer Sandbank im Rio del Rey auf Grund gelaufenen Dampfers stehen. Außer Moskitos und Mangrovenfliegen abzuwehren, haben Sie in einer solchen Situation so oder so nicht viel zu tun, also können Sie sich genauso gut der Beobachtung widmen. Bei Ebbe wird das untere Blattwerk der Mangroven nach und nach nass und schlammig, bis sich über der Wasseroberfläche in alle Richtungen ein knapp ein Meter breites schwarzes Band erstreckt. Allmählich folgt ein Netz grauweißer Wurzeln und noch weiter unten eine von glattem und bleigrauem Schlamm überzogene Böschung. Es entsteht nicht im Mindesten der Eindruck, das Wasser sei gefallen: Umgekehrt wirkt es, als seien die Mangroven alle gemeinsam erst daraus emporgestiegen, um sodann still und leise beim Einsetzen der Flut zurücksinken. Doch auf diese etwas sicherere, wenn auch ebenfalls unangenehme Methode, Mangrovensümpfe zu beobachten, entgeht Ihnen der vollständige Blick, denn etwas weiter im Innern ihrer grünen Festungen breiten die Mangroven ihre Äste immer erst weit oberhalb der Gezeitenlinie aus, und die schweren, grauen Wurzeln der älteren Bäume hängen immer mitten in der Luft. Nur die Ufer der Flüsse säumt kontinuierlich eine dichte Hecke jüngerer Mangroven, deren untere Äste überflutet werden.

      An einigen Stellen lässt sich vom Fluss aus erkennen, wie sich das Land aus dem Wasser schiebt. Die Strömung formt eine schlammige Sandbank, auf der eine Mangrove keimt – schon ist die Sache erledigt. Nun ja, nicht ganz, aber sie hat begonnen. Sobald der Haufen Schlamm hoch genug ist, um bei Ebbe freizuliegen, beginnt eine Pionier-Mangrove zu wachsen. Sie führt jedoch ein bejammernswertes Dasein, man muss nur ihre verkrüppelte Form betrachten, um dies zu erkennen. Die Mangrove erhält Gesellschaft von einigen weiteren abenteuerlustigen Geistern, und sie kämpfen fortan gemeinsam. Das Wurzelwerk dieser Pflanzen hält große Mengen Schlamm und mit etwas Glück ab und zu eine Ladung treibende Pflanzenreste fest, vor allem Blätter von Palmen oder Baumstämme. Doch diese Pioniere sterben jedes Mal, bevor sie zu besonderer Höhe heranwachsen können. Doch selbst im Tod sammeln sie weiter. Ihre nackten weißen Stiele bleiben wie ein im Schlamm verankertes Netz zurück, sodass man behaupten kann, diese heldenhaften Pioniere hätten ihr Leben hingegeben, um den schlammigen Fleck für die Kolonisierung vorzubereiten. Irgendwann ist es dann soweit, dass andere Mangroven sich niederlassen, gedeihen, und so das Territorium dieser Bäume kontinuierlich vergrößern. Eine Insel erhebt sich aus dem Fluss, verbindet sich schließlich mit dem Festland und wird zum Teil von Afrika.

      Am anderen Ende, an der landwärtigen Grenze der Sümpfe – manchmal mehrere hundert Kilometer entfernt – können Sie den Rest des Prozesses beobachten. Die Mangroven hier haben den Boden so weit gehoben und den Schlamm in einem solchen Ausmaß getrocknet, das es für sie selbst zu viel des Guten ist. Auch wenn das brackige Wasser für diese Bäume zum Feind wird, sobald es zu tief oder zu salzig ist, ist es für sie doch unverzichtbar. Hier jedoch haben die Mangroven den Schlamm so sehr gezähmt, dass die Flut ihre Wurzeln nicht mehr erreicht. Sie haben das Schritt für Schritt getan, so, wie Mangroven alles tun, aber letztlich haben sie den Schlamm weitgehend ausgetrocknet, und auf diesen Schlamm stürzen sich nun gleich mehrere Sorten von Palmen vom trockenen Festland. Zunächst einmal müssen auch diese Pflanzen auf ähnliche Weise experimentieren wie auf der Flussseite die Mangrove. Als Erstes gesellen sich die Schraubenpalmen zu den Mangroven. Dann folgen die Weinpalme und verschiedene Kriechpflanzen, schließlich die Ölpalme. Diese Pflanzen hinterlassen weitaus mehr Reste und bilden besseren Boden als die Mangroven, darüber hinaus leben, wachsen und sterben sie schneller: Das Schicksal der Mangroven ist besiegelt. Schon bald ist das Salzwasser praktisch verschwunden, die Mangroven sterben und ein neues Stück Afrika ist vollendet. Diese Gegenden sind sehr interessant, entlang der Flussufer sieht man eine prächtige, dichte Wand aus Weichholzgewächsen und dahinter stoßen sie auf einem breiten Streifen des Todes: Manchmal kilometerweit stehen die dürren weißen Magrovenskelette auf einem grauen Boden, der noch nicht Erde ist, aber auch kein Schlamm mehr, und durch dessen Kruste man einbrechen und in einer verrottenden Masse versinken kann. Doch lange, nachdem Sie tot, vergessen und begraben sind, wird an dieser Stelle ein Wald aus Leichtholzbäumen und Palmen stehen, noch später werden die Hartholzbäume folgen. Solche ausgedehnte Flächen lassen sich überall in Kamaland27 finden, ebenso wie in den fruchtbaren Tieflagen am Fuße des Kristallgebirges und der Rumpiberge.

      Oft wird über die völlige Leblosigkeit der Mangrovensümpfe gesprochen. Wie man darauf kommt, vermag ich nicht zu sagen, tatsächlich leben dort eine Menge Tiere, nur die Anzahl der verschiedenen Spezies ist gering. Zunächst einmal sind da die Krokodile – zahlreicher, als sich irgendwer wünschen könnte – und die vielen Fliegen. Besonders erwähnt sei die große stille Mangrovenfliege, die Ihnen ihre Eier unter die Haut legt, wo eine Made schlüpft und dort verbleibt, bis sie es für an der Zeit hält, die Außenwelt kennenzulernen. Dann gibt es eine Vielzahl »schleimiger Dinger, die auf Beinen durch ein schleimiges Meer kriechen« und beliebig viele Schlammfische, Krebse, einen besonderen Vertreter der Weichtiere und im Wasser verschiedene Sorten Welse. Vogellos sind die Sümpfe jedoch tatsächlich, sieht man einmal von den Schwärmen grauer Papageien ab, die abends heiser krächzend über sie hinwegfliegen. Abgesehen von diesem Gekrächze ist es zumindest während der Trockenzeit den ganzen Tag über still. Während der Regenzeit gibt es in Westafrika keine Stille, weder tags noch nachts, nur das Getöse der herabstürzenden Regenmassen, monotoner und drückender, als irgendeine Stille je sein könnte. Morgens fehlt das lange, tiefe, weiche Pfeifen der Bananenfresser, die die Dämmerung begrüßen, und abends vermisst man den Kuckuck oder die ihrer Anzahl nach für Händel-Festspiele geeigneten Chöre der Frösche und Grillen, deren allabendlicher Streit über »sie tat es« – »sie tat es nicht«28 auf dem trockenen Land so unversöhnlich ist.

      Doch die Mangrovensümpfe gehorchen den Grundregeln Westafrikas, wonach die Nächte in ihnen lauter sind als die Tage. Sobald die Dunkelheit einsetzt, füllt sich der Sumpf mit Geräuschen. Da ist das Grunzen von was-weiß-ich-was, das Platschen eines springenden Fischs, das eigenartig schwirrende Geräusch dahineilender Krebse, das malerische Knacken und Stöhnen der Bäume, und schließlich – unheimlicher als alles andere – das seltsame Jaulen und seufzende Husten der Krokodile.

      Ausgedehnte Mangrovensümpfe sind an der afrikanischen Westküste sehr verbreitet. Auf den ersten stößt man bereits nördlich von Sierra Leone, dann folgt eine Reihe von etwas kleineren an den Säumen der Flussmündungen. Schließlich folgen die größten von allen: die Mangrovensümpfe des Nigerdeltas (alles in allem rund 23 Flüsse), des Sombreiro, New Calabars, Bonnys, San Antonios, des Opobo (des falschen und des richtigen) des Kwoibo, Calabars (mit dem Cross River und dem Akwayafe) und des Rio del Rey. Dieser gesamte lange Küstenstreifen ist ein einziger Mangrovensumpf, und jeder der Flüsse bringt in aller Stille enorme Mengen schlammigen Wassers herbei. Die ausgedehnten Netze miteinander verbundener Kanäle sowie die aus den schwereren Bestandteilen des Schlamms geformten Sand- und Schlammbänke stellen bereits für sich allein jeden Navigator vor große Probleme. Der leichtere Schlamm wird bis weit über die Mündung hinaus mitgenommen und ist für die übelriechende bräunliche Suppe verantwortlich, die der Südatlantik in dieser Region noch weit auf See hinaus ist und auf der der Schaum in dicken Bändern und Flecken treibt.

      In dieser endlosen Sumpflandschaft erscheint jeder Ort wie alle anderen, bis man sich so sehr daran gewöhnt hat, dass man in der Lage ist, die kleinen örtlichen Besonderheiten an den Flussmündungen und Windungen der Kanäle zu unterscheiden. In der dichten Nebelsuppe, die während der Trockenzeit von November bis Mai über dem gesamten Golf von Guinea hängt, fällt das selbst den erfahrensten Navigatoren schwer. Manchmal bleibt der Nebel den ganzen Tag, manchmal klart es etwa drei Stunden nach Sonnenaufgang auf.

      Der obere oder nordwestliche Teil der Sümpfe umgibt die Mündungen des Niger und verbarg diese Tatsache bis 1830 erfolgreich vor den Geographen. Erst dann gelang es einer Serie heroischer Expeditionen von zunächst Mungo Park, dann Clapperton und den beiden Lander-Brüdern, das Problem schließlich zu lösen – ein Problem, das ebenso groß war und ebenso viele Menschenleben kostete, wie die Entdeckung der Quellen des Nils.

      Heute,