Greg F. Gifune

MIDNIGHT SOLITAIRE


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Beizeiten klingen die gespenstischen Visionen und das dämonische Flüstern ab wie alles andere auch, woraufhin er in einen alkoholbedingten, gottlosen Schlaf fallen kann. Vorerst aber trinkt er weiter verbissen und schnell, gebunden lediglich an ein Ritual von vielen, das er verachtet.

      Träumt er oder ist er wach? Er weiß es nicht mehr.

      Es spielt im Grunde genommen aber auch keine Rolle.

      Draußen vor den schmierigen Fenstern dauert der Regen weiter an … ohne Unterlass und wie versessen darauf, selbst jene zu taufen, die er mit seinem Heilsversprechen nicht erreichen kann.

      Drei

      Die Sonne scheint, doch die See ist bewegt und rau. Ab und zu frischt der Wind vom Ozean her über dem Kanal auf, und fährt scharf wie eine Rasierklinge durch die Freizeitanlage und gemahnt sie alle daran, dass der Frühling zwar unmittelbar bevorsteht, das Drangsal des Winters aber noch nicht ganz vorüber ist. Trotz der niedrigen Temperaturen haben sich heute nicht wenige Spaziergänger und Touristen hier eingefunden. Er lässt sich nun an einem Esstisch aus verschrammtem, verwitterten Holz nieder, von dem aus man den Kanal überblicken kann. An einem Geländer aus weiß gestrichenen Brettern, die an Betonpfosten befestigt sind, steht der Doc und schaut hinunter auf die befestigte Straße. Sie ist schmal wie ein Bürgersteig, und eine Handvoll Menschen flanieren, joggen oder walken, radeln beziehungsweise fahren mit Rollschuhen darauf – ein ständiges Kommen und Gehen auf dem Betonweg, so als wollten alle nur kurz hier vorbeischauen, bevor ihnen der Winter einen letzten Tritt in den Allerwertesten verpasst. Andere stehen einfach nur da, blicken über das Wasser und versuchen ihr Bestes, um einen sonnigen, aber frischen Sonntagmorgen zu genießen.

      Auf der gegenüberliegenden Seite des Kanals führt ein identischer befestigter Pfad am Wasser entlang. Auch dort ziehen Radfahrer vorbei, bloß kleiner aus der Entfernung betrachtet. Über ihnen an einem Berghang, der zu einem strahlend blauen Horizont ansteigt, erstrecken sich dichte Waldflächen. Vereinzelt stehen zwischen den Bäumen verstreut und kaum sichtbar teure Eigenheime, wie sie nur von wohlhabenden Menschen bewohnt werden, mit Fahnenmasten davor, an denen die US-Flagge und die Wimpel örtlicher Yachtclubs prangen.

      In der Ferne zu seiner Linken spannt sich die Sagamore Bridge über den Kanal, die Cape Cod mit dem Festland verbindet. Mit ihrem imposanten, offenen Stahlbogen erinnert die Brücke an das Skelett einer Riesenkreatur, die starb, während sie sich gerade von einem Ufer zum anderen ausstreckte, woraufhin ihr Kadaver auf der Stelle erstarrte und mit der Zeit bis auf die Knochen verweste. Selbst für diese Jahreszeit herrscht in beide Richtungen auffallend wenig Verkehr.

      Plötzlich lenkt ihn ein weißer Fleck ab. Eine Möwe lässt sich nicht weit von seinem Tisch entfernt auf dem Geländer nieder und starrt ihn an, als wolle sie ihm unbedingt etwas mitteilen. Der Doc betrachtet die aufgeweckten Augen des Vogels in der Hoffnung, ihn hören und verstehen zu können. Die Möwe hüpft jetzt hinunter und kommt ihm durch das Gras so nahe, dass der Doc sie anfassen könnte. Nach einem erneuten Blickkontakt kehrt sie auf das Geländer zurück. Um zu ergründen, was das Tier ihm zu vermitteln versucht, setzt der Doc seine Betrachtung fort und stellt sich auf verschiedene Möglichkeiten ein, als auf einmal eine Frau vorbeigeht und die Möwe erschreckt, woraufhin diese davonfliegt.

      Er schaut dabei zu, wie sie in Richtung Brücke emporsteigt, getragen vom Wind hoch über dem Wasser, den Booten und Bäumen. Aus der anfänglichen Bewunderung wird nun Neid.

      Doc Banta ist ein stämmig gebauter, durchschnittlich großer Mann mittleren Alters, der sich kleidet, als sei er geradewegs einem Film Noir der Fünfzigerjahre entsprungen: schwarzer Anzug, weißes Hemd, dünne, schwarze Krawatte und farblich passende Budapester. Sein silbergraues, schulterlanges Haar, das er mit Gel zurückgekämmt hat, ist für jemanden in seinem Alter ausgesprochen dicht und bildet einen bemerkenswerten Kontrast zu seiner olivfarbenen Haut. Auf seiner Hakennase sitzt eine Wayfarer-Sonnenbrille, hinter der man seine eisblauen Augen nicht sehen kann. Selbst sein Auto, ein kirschroter Chevrolet Bel Air Hardtop Baujahr 1957 mit zwei Türen, würde gut in einen alten Film passen.

      Er kramt nun eine Packung Pall Mall ohne Filter aus der Innentasche seiner Jacke, zündet eine Zigarette mit seinem Zippo an und kratzt sich dann gedankenverloren an seinen graumelierten Stoppeln.

      »Spürt ihr mich noch?«, fragt er leise die Luft, das Wasser und die Bäume. Er weiß, eines Tages wird er wieder denjenigen von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, mit denen er eigentlich sprechen möchte. »Spürt ihr meine Liebe noch?« Vorerst treibt ihn der Hass weiter, wie es schon seit einiger Zeit geschieht und ihm einstweilen auch genügt. Dies geschieht einzig und allein zur Vorbereitung auf das entscheidende Kräftemessen; eine letzte und entsetzlich gewalttätige Auseinandersetzung, der er sich nicht entziehen kann. Bis dahin, denkt der Doc, lausche dem Wind, und du wirst hören, wie sie dir eine Antwort zuflüstern.

      Er hat den Bastard nur um wenige Tage verpasst, ist ihm aber im Laufe der letzten paar Monate zusehends nähergekommen. Lange kann es also nicht mehr dauern. Die letzten Opfer, eine junge Frau und ihr Freund, wurden nicht weit von hier umgebracht. Ein lokaler Nachrichtensender hatte über die beiden berichtet. Demzufolge sei die Frau – Carey Sinclair ihr Name – oft zum Rollschuhfahren an den Kanal gekommen. Dies ist eine ihrer Lieblingsstellen gewesen. Indem er sich die Fotos vergegenwärtigt, die er von dem Paar gesehen hat, versucht sich der Doc vorzustellen, wie sie bei ihm weilt; dies tut sie ja auch gewissermaßen. Auf einem langen Abschnitt des Highways Cape Cod vielleicht fünf Minuten von hier auf der anderen Seite der Brücke hat der Spieler die zwei gerammt und Carey entführt. Den bedauernswerten Kerl hat er später praktisch ausgeweidet und ihn tot auf der Straße liegen gelassen – er wollte und brauchte ihn nicht. Der Spieler war nur wegen des Mädchens gekommen. Laut Presse hat er sie mit über die Brücke auf das Festland genommen und den weiten Weg bis zu irgendeinem verlassenen Drecksloch in Brockton zurückgelegt, einer knapp eine Fahrstunde entfernten Kleinstadt. Dort verrichtete er dann sein Werk. Er führte ein Ritual mit einer wehrlosen dreiundzwanzigjährigen Frau durch. Allein die Vorstellung daran, und das Wissen darum, wie es sich anfühlt, und was die Eltern und Angehörigen jener beiden Halberwachsenen nun empfinden müssen – empfinden werden für den Rest ihres Lebens – bringt das Blut des Docs erneut in Wallung. Die Behörden posieren wie gewohnt in der Öffentlichkeit, doch daraus wird sich nichts ergeben, denn der Spieler ist längst untergetaucht, so läuft es jedes Mal.

      Der Doc weiß jedoch, wohin dieser möchte, und er ist auch selbst dorthin unterwegs.

      Auf einem Parkplatz in der Nähe fährt gerade ein enormer SUV vor. Ein Mann Mitte vierzig steigt gemeinsam mit einer Teenagerin aus. Ein flüchtiger Betrachter würde glauben, der Doc hätte es gar nicht bemerkt, doch ihm entgeht nichts; er vollzieht alles mit, ohne auch nur ein einziges Mal den Kopf zu drehen. Der Mann trägt einen blauen Sportanzug mit weißen Streifen und bleibt nun kurz stehen, um seine Nike-Basketballschuhe zu binden, bevor er sein frisch gefärbtes Haar zurechtstreicht. Er gehört zu jenen in die Jahre gekommenen Typen, die sich Onlineprofile erstellen, sich dabei als neunundzwanzig ausgeben, obwohl sie in Wirklichkeit fünfzehn Jahre älter sind, und sich dann wie die Hauptdarsteller in einem alten Videoclip von Run DMC anziehen, weil sie glauben, dass die jungen Hüpfer ihn nicht lachhaft, sondern unwiderstehlich fänden. Solche wie er nennen auch jede Frau »Schätzchen«, der sie begegnen.

      Das Mädchen – vermutlich seine Tochter – ist sehr dünn und nicht älter als vierzehn oder fünfzehn. Da ihre Jacke offen ist, sieht man ihre tief ausgeschnittene Bluse und ein Dekolleté, das eindeutig ein Push-up-BH fülliger macht. Ihre Jeans sitzt viel zu eng und scheint mit Farbe besprüht worden zu sein. Sie stakst in einem Paar hochhackiger Fellstiefel zum Geländer hinüber und lässt ihren Blick über das Wasser schweifen. Für ein so junges Mädchen hat sie sich viel zu stark geschminkt, wohl weil sie älter aussehen will, was jedoch in Wirklichkeit nur noch mehr auf ein junges Ding schließen lässt, das unbedingt sexy und weltgewandt wirken möchte, aber in Beidem kläglich scheitert.

      Erst als der Mann zu ihr an das Geländer kommt, sie von hinten umarmt und an sich drückt, realisiert der Doc, dass sie keineswegs seine Tochter ist.

      Zumindest hofft er das.

      Er