Greg F. Gifune

MIDNIGHT SOLITAIRE


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einer anderen Welt, zurückgelassen von einer altertümlichen Kultur Außerirdischer. Das, so glaubt Greer, erklärt auch den Ausfall, weshalb sie das Gerät resigniert abschaltet. Sie weiß, dass sie sich irgendwo im Westen des Staates befindet, kennt sich aber nicht aus auf diesen Nebenstraßen. Mit ihren siebenunddreißig Jahren war sie schon so gut wie überall – also in den gesamten USA sowie in bestimmten Gegenden Kanadas und Mexikos – dies allerdings mit dem Flugzeug. Lange Zeit ist sie hierhin und dorthin gejettet, um Geschäfte in Hotels, Restaurants oder Vorstandsetagen abzuwickeln, auf Tagungen oder manchmal auch auf Fachmessen, ehe sie eine andere Maschine genommen hat, um für das Unternehmen wohin auch immer zu reisen. »Ich habe schon alle Orte gesehen«, sagt sie oft scherzhaft, »aber nur die Hotels, Restaurants und Flughäfen dort.« Jetzt kommt ihr das auf einmal gar nicht mehr so spaßig vor, genauso wenig wie alles andere. Nein, »spaßig« ist das falsche Wort, denn das war es eigentlich niemals. Sie ist durch ihr Leben wie eine Zuschauerin gewandelt und hat es auf eine Weise geführt, an die sie sich gewöhnt hatte. Doch was früher gedankenlos machbar gewesen wäre, wurde in den vergangenen Monaten einfach unerträglich für sie. Ein Leben, in dem Zahlen und Absatz, Kunden, Terminpläne und Waren an die Stelle von Freunden, Familie, Liebe und dem wirklichen Leben getreten sind, ist niemals ihr Traum oder ein Teil ihres Plans gewesen. Dennoch gestaltet es sich jetzt genau so: Unterwegs ab und an mal ein Techtelmechtel für eine Nacht, die Einsamkeit, ein Dasein voller unpersönlicher und oberflächlicher Interaktionen mit Menschen, die sie kaum kennt und vermutlich auch nie wiedersehen wird. Die Angst davor, eines Tages aufzuwachen und zu erkennen, wer sie tatsächlich geworden ist, was sie eigentlich mit ihrem sogenannten Leben getan und wie viel sie davon als Verkäuferin vergeudet hat, indem sie von Staat zu Staat, von Kunde zu Kunde, und von Stadt zu Stadt gereist ist, um Geld zu verdienen, anderen dabei in den Arsch getreten und Köpfe rollen gelassen hat. Das ist Greer Fields, eine bloße Maschine. Als solche hatten ihre Kollegen sie jahrelang bezeichnet: Eine Maschine im Bürokostüm mit hochhackigen Schuhen, die einen Kunden gewinnen kann, bevor dieser überhaupt bemerkt, dass sie ihn um den Finger gewickelt hat. Jetzt ist sie allerdings nur noch wenig mehr als ein Gespenst in ihrem eigenen rastlosen Dasein. Sie hat weder Familie noch eine Beziehung und nur wenige Freunde. Vor Jahrzehnten war sie einmal verheiratet, und zwar mit der einzig wahren Liebe ihres Lebens, doch ihre Karriere hat die Ehe innerhalb von zwölf Monaten zerstört. Sie hat es nie bereut; jedenfalls redet sie sich das gern ein, wenn sie allein im Dunkeln hockt, betrunken und voller Wehmut. Sie hatte ein paar Liebhaber und kurzzeitig sogar eine Freundin, doch nichts wirklich Wesentliches oder Wertvolles. In ihrem Leben sind Beziehungen so vergänglich wie alles andere, und da sie ständig in Bewegung ist, bleibt ihr auch kaum Zeit, um sich deshalb zu grämen, darüber nachzugrübeln oder etwas daran zu ändern. Sie besitzt ein Appartement in Boston, ein hübsches, elegantes Fleckchen mit großartigem Ausblick, von dem andere nur träumen können, und da wäre auch noch ihr Wagen, ein Audi – alle drei Jahre gönnt sie sich ein neues – außerdem ein Schrank voller Kleider, Schmuck und anderer schöner Dinge, nicht zu vergessen ein beeindruckendes Profil ohne Ehemann, Kinder oder Hypotheken, dafür aber mit einem stattlichen Rentenfonds. Das ist doch eigentlich gar nicht so übel für eine in Pflegeheimen aufgewachsene Waise, die sich alles hart erkämpfen musste, was einem Gefühl der Zufriedenheit auch nur im Entferntesten ähnelte. Aber unabhängig von ihren Habseligkeiten und ihren sechsstelligen Erträgen ist sie unglücklich. Sie ist nämlich allein, orientierungslos und mit jedem verstreichenden Tag näher an der vierzig, immer noch ohne eine Idee, wie sie diesem Leben vielleicht entrinnen könnte, bevor sie zu einer jener ergrauten, alten Handelsreisenden wird, denen sie seit Jahren unterwegs begegnet. Diese lungern immer in Flughafenkneipen herum, da ihre besten Tage zu undeutlichen Erinnerungen verkommen sind, und hadern damit, durchzuhalten beziehungsweise über die Runden zu kommen, während sie sich ins Zeug legen, um mit der jüngeren, begehrenswerteren, klügeren und schnelleren, schlichtweg besseren Konkurrenz schritthalten zu können, welche Jahr für Jahr ein kleines bisschen mehr von ihrem Leben, ihrem Unterhalt, ihrem Revier und ihrer Seele raubt. Armselige Ex-Strippenzieherinnen, die soweit heruntergekommen sind, dass sie beim Abendessen anderen Betrunkenen oder Versagern nachts um eins mitten im verdammten Nirgendwo Geschichten erzählen.

      Allein, so lebt sie und glaubt, auch eines Tages so sterben zu müssen, außer sie ändert ihr Leben jetzt. Aus exakt diesem Grund hat sie auch endlich auf die nervige Stimme in ihrem Kopf gehört und getan, was sie getan hatte – sich buchstäblich von ihrem Leben, ihrem Job, ihren Verantwortlichkeiten und Engagements abgewandt.

       Aber wohin nun?

       Pack eine Tasche, steig ins Auto und zieh es einfach durch.

       Woher weiß ich denn, wohin ich fahren soll?

       Das musst du nicht. Ich weiß es!

       Aber …

      Ich weiß es.

      Am ersten Tag schaffte sie von ihrem Bostoner Appartement aus gerade einmal eine zwanzigminütige Strecke, ehe sie sich ein Hotelzimmer nahm, um die Sache noch einmal zu durchdenken und sicherzugehen, dass dies wirklich der Schritt war, den sie gehen wollte. Früher an diesem Tag hatte sie nackt auf der Kante des Bettes gesessen, die Wände angestarrt und sich gedacht: Wieder mal ein beschissenes Hotel. Sie hatte sich in der verspiegelten Schranktür gegenüber im Raum betrachtet und sich eingestanden, zumindest körperlich noch ganz gut in Schuss zu sein. Was dies anging, hatten sich die Übungen, die sie im Laufe der Jahre in Hotelfitnessräumen gemacht hatte, die Kinderlosigkeit und der Segen eines schnellen Stoffwechsels zu ihren Gunsten ausgezahlt. Mit 1,65m und hundertfünfundzwanzig Pfund Gewicht verfügt sie faktisch noch über den gleichen Körper wie als Twen. Und wenn schon: Bis zum Morgen – diesem Morgen – hatte sie beschlossen, weiterzufahren. Sie hat keine andere Wahl. Denn was auch immer sie dort draußen erwarten mag, muss einfach besser sein als das, was sie hinter sich lässt, und falls nicht, dann ist es eben so.

      Das Schicksal gibt schließlich keine Versprechungen ab, dieses Miststück.

      Die Eindrücke aus dem Hotelzimmer verschwimmen jetzt, wo der Regen, der an der Windschutzscheibe hinunterströmt, sie zur Gänze verschlingt, woraufhin die Wischer sie beiseite fegen, bis alles, was noch übrig bleibt, der dunkle, verlassene Highway ist. Auf dem Beifahrersitz vibriert und brummt jetzt Greers iPhone zum Zeichen dafür, dass jemand noch eine Voicemail für sie hinterlassen hat. Ohne hinzusehen, greift sie danach, stellt es stumm und fährt dann weiter. Als sie zuletzt nachgeschaut hat, waren schon über zwanzig Nachrichten eingetrudelt – gewiss nachvollziehbar, weil ihr so etwas überhaupt nicht ähnlichsieht. Bestimmt sind schon viele ihrer Arbeitskollegen in Panik geraten und befürchten bereits das Schlimmste … dass ihr etwas zugestoßen ist zum Beispiel. Die Maschine ist stets pünktlich, immer am Werkeln und allzeit bereit zur nächsten Reise. Ständig tonangebend in puncto Umsatz, Wagemut und Einstellung. Etwas anderes war für sie niemals wichtig; es wurde irgendwann zum einzigen Inhalt ihres Lebens, doch jetzt trifft darauf das Gleiche zu, wie für die Straße, die sich im Rückspiegel entfernt: Es ist weg.

      Jetzt, so denkt sie, bin ich tatsächlich ein Gespenst.

      Sie pustet sich eine Strähne ihres braunen Haares aus den Augen, die ihr ins Gesicht gefallen ist, fährt sich mit einer Hand über ihren relativ kurzen Schopf und seufzt. Hängt sie tatsächlich gerade Selbstmordgedanken nach, oder sind es lediglich der Unsicherheit und dem Kontrollverlust geschuldete Angst und Anspannung?

       Sie möchte nicht wirklich sterben, oder?

      Bevor sie dem Ganzen weiter auf den Grund gehen kann, sieht Greer auf einmal die Flammen.

      So surreal und abwegig sie in dem strömenden Regen auch wirken mögen, lodern sie doch am Fahrbahnrand … hohe, flackernde Feuerzungen, die prasseln, knacken und in die Höhe stieben, als strebten sie nach dem grauen Himmel. Sie bremst leicht ab, als sie sich nähert, und erkennt daraufhin, dass das Feuer von einem Wagen auf der Standspur ausgeht, den die Flammen bereits komplett umhüllen.

      Während sie angestrengt in den Regen hinausschaut, greift Greer wieder zu ihrem Telefon. Teufel aber auch, wo sind der Fahrer und der Rest der Insassen? Sitzen sie etwa noch darin?

      Sie fährt ungefähr fünfzig Yards vor dem brennenden