geschehen sein. Ohne ihre Augen vom Wrack abzuwenden schnappt sie sich das Handy und wählt die Notrufnummer.
In der Leitung knackt es, der Empfang ist furchtbar schlecht, aber sie hört dennoch ein Freizeichen am anderen Ende.
Eine leise Frauenstimme meldet sich nun: »9-1-1, um welchen Notfall handelt es sich?«
Greer schildert den Sachverhalt. Die Telefonistin fragt nach ihrem Namen und nach der genauen Stelle, an der sie gerade steht, dann rät sie zum Abstandhalten von dem brennenden Fahrzeug, und möchte wissen, ob noch jemand darin eingeschlossen ist. Zum Schluss bringt sie noch Fabrikat und Modell in Erfahrung und dass sich sonst niemand vor Ort aufhält.
»Ich bin ganz allein«, gibt Greer an und schaut kurz in den Rückspiegel, bevor sie den Blick wieder auf das andere Auto richtet. »Es scheint niemand drinzusitzen, aber sicher kann ich das nicht sagen, wegen der ganzen Flammen.«
»Ich schicke sofort die Feuerwehr und den Rettungsdienst zu Ihnen«, verspricht die Telefonistin daraufhin. »Bitte bleiben Sie aber am Unfallort, da die Polizei Sie eventuell als Zeugin verhören möchte.«
»Ich habe aber gar nichts bezeugt, ich bin nur zufällig auf den Wagen gestoßen und habe es daraufhin sofort gemeldet.«
»Das verstehe ich, Ma'am, allerdings …«
»Tut mir leid, aber ich komme sowieso schon zu spät zu einer Verabredung, und der Regen bremst mich die ganze Zeit aus. Ich habe hiermit überhaupt nichts zu tun und kann deshalb auch keine weiteren Angaben machen. Sie kennen ja jetzt meinen Namen und meine persönlichen Daten; falls die Behörden mit mir sprechen müssen, tue ich dies sehr gern per Telefon oder später zu einem passenderen Zeitpunkt.«
Greer trennt nun die Verbindung, ohne auf eine Antwort zu warten, und wirft das Telefon wieder auf den Beifahrersitz. Während sie den Hals reckt, um besser sehen zu können, fährt sie langsam wieder hinüber auf den Highway und kommt dann an dem lodernden Fahrzeug vorbei; einem relativ neuen, schwarzen Dodge Charger.
Der Regen hat mittlerweile einen Teil der Flammen gelöscht, aber das Feuer wütet dennoch weiter. Obwohl der Wagen leer zu sein scheint, bemerkt Greer plötzlich einen Treibstoffkanister, der nicht weit entfernt umgekippt auf der Straße liegt.
Verflucht, jemand hat ihn absichtlich angezündet!
Sie beschleunigt daraufhin den Wagen und lässt das Inferno im Rückspiegel hinter sich.
Nach ungefähr einer Meile sieht sie jemanden am Fahrbahnrand durch den Regen laufen. Beim Heranfahren wird ihr bewusst, dass es ein Mann ist, der auf dem Seitenstreifen geht. Er trägt einen langen, dunklen Staubmantel, einen Cowboyhut mit breiter Krempe und einen großen Lederrucksack, den er sich über eine Schulter gehängt hat. Am Rande eines Highways hier im Westen von Massachusetts wirkt er damit sonderbar fehl am Platz.
Greer drosselt ihre Geschwindigkeit, und der Mann dreht den Kopf nach ihr um.
Sie kann es nicht erklären, aber sie fühlt sich sofort wie hypnotisiert von ihm und ist deshalb außerstande, ihren Blick von ihm abzuwenden.
Er strahlt eine schroffe Schönheit aus und scheint ungefähr so alt zu sein wie sie, also Mitte bis Ende dreißig. Er ist ein großer Kerl mit 1,90m bis 1,95m und wiegt garantiert deutlich mehr als zweihundert Pfund. Beleibt ist er allerdings nicht, sondern wirklich gut in Form, er sieht aus, als ob er sich zu behaupten wisse, und dies wahrscheinlich auch regelmäßig tut.
Als ihr Scheinwerferlicht seine Augen trifft, leuchten sie gelb auf, wie die eines Tieres, woraufhin er ganz langsam eine Hand ausstreckt, den Daumen hebt und sie anlächelt.
Greer hat bereits nach rechts eingelenkt, als sie hastig blinzelt, um den Bann zu brechen. Kaum, dass ihr bewusst wird, was sie da tut, fährt sie auch schon zurück auf den Highway, tritt auf das Gas und rast im Sturm davon, bis der Mann nur noch wenig mehr als ein dunkler Fleck in der Ferne ist.
Nach mehreren Meilen – die Gründe dafür kann sie nicht nachvollziehen – zittert sie immer noch.
Fünf
Obwohl es schüttet wie aus Eimern, hockt ein Mann ganz allein auf einem verlassenen Spielplatz. Er ist auf dem Sitz einer Schaukel zusammengesackt, der neben einer anderen an Ketten von einem alten Eisengestell baumelt, streckt die Füße vor sich aus und hält dabei einen Einwegbecher Kaffee in beiden Händen. Anstatt sich zu bewegen, hat er den Kopf nach vorne gebeugt, als erfordere etwas auf dem Boden vor ihm seine gesamte Aufmerksamkeit. Gelegentlich hebt er den Becher an seinen Mund und nippt an seinem Kaffee, ansonsten aber bleibt er vollkommen reglos, anscheinend interessiert ihn das Wetter kein bisschen. Er kauert da, in seinem langen, dunklen Regenmantel mit der schwarzen Strickmütze, die er sich bis über die Ohren gezogen hat.
Manchmal sucht Luke Thompson Parks oder Spielplätze auf, um in Ruhe nachdenken zu können; ein anderes Mal geht er einzig und allein deshalb hin, um Kindern beim Herumtollen zusehen zu können. Ersterem liegt keine tiefere Bewandtnis zugrunde, Letzterem aber auch keine unlautere Absicht, er mag Kinder einfach nur. Eigene hat er zwar nicht, aber zuweilen beschleicht ihn der Gedanke, dass er, wenn er welche hätte, zumindest eine positive Leistung in seinem Leben vorweisen könnte, das ansonsten bisher nämlich sinnlos gewesen ist. Er hat sowohl als Mensch als auch als Ehemann versagt – das weiß er – und obwohl er sich in seiner Fantasie als guter Vater sieht, ist ihm natürlich klar, dass er sehr wahrscheinlich auch in dieser Rolle scheitern würde. Rachel könnte ihm das vollkommen zu Recht unterstellen. Sie hat sich unheimlich stark bemüht und stets an ihn geglaubt, während es sonst niemand tat und er es nicht verdient hat, doch er hat sie dennoch jedes Mal enttäuscht. Luke weiß zwar, dass es nie passieren wird, aber er hängt hin und wieder trotzdem dem Wunschgedanken nach, dass Rachel und er es eines Tages vielleicht schaffen würden, ihre Beziehung zu kitten, und alles wieder wie früher sein würde … so wie am Anfang. Da jene Tage allerdings so schnell vorübergegangen sind, fragt er sich ab und zu, ob es sie überhaupt wirklich gegeben hat. Wie dem auch sei: Könnte er die Zeit zurückdrehen, würden sie bestimmt Zufriedenheit finden und wären eine richtige Familie, dessen ist er sich sicher. Das ist eigentlich alles, was er sich je gewünscht hat. Trotzdem ist es ihm bis heute verwehrt geblieben; so ist es immer gewesen, und so wird es auch immer bleiben.
Es ist natürlich nur ein äußerst dürftiger Ersatz, den Kindern fremder Menschen beim Spielen zuzuschauen, aber es gibt ihm zumindest die Möglichkeit, das Leben der Eltern nachempfinden zu können. Es sind diejenigen, die sich in kleinen Trauben am Rand der Parkanlagen oder Spielplätze zusammenfinden, meistens mit weniger Interesse am Vergnügen ihrer Kleinen als er. Sie ahnen ja gar nicht, wie glücklich sie sich schätzen können. Das, so glaubt er, ist das Schlimmste an der Kinderlosigkeit … niemals die Chance zu erhalten, diese kleinen Momente erleben zu können – banale alltägliche Situationen, Gespräche und Erfahrungen, die so viele für absolut selbstverständlich halten. Sie können so froh sein, diese Eltern, aber anscheinend erkennt es nur ein geringer Teil von ihnen wirklich an. Allerdings kann er es ihnen nur schwer verübeln, denn ihm ist es bestimmt nicht viel besser, genau genommen sogar schlimmer gegangen. Er begreift erst jetzt, als er sein Leben verloren hat, dass man es genießen soll, und er wird nie mehr dazu kommen, es so zu gestalten, wie er es sich immer ausgemalt hat.
Luke hätte ebenso gut mit einer Pistole in der Hand und einer schablonierten Häftlingsnummer auf der Brust geboren sein können, genau wie sein alter Herr und dessen Erzeuger zuvor, ein Verbrecher in einer Ahnenfolge von vielen. Schlechte Gesellschaft, so nannte es sein Vater. »Das ist es, was wir sind, Junge … schlechte Gesellschaft … und daran wird sich niemals etwas ändern.«
In gleicher Weise wie die Prügel, die er als Kind bezogen hat, hallen die negativen Auswirkungen dessen, was sein Dad gesagt hat, weiter in ihm nach und haften an ihm wie eine zweite Haut. Er hatte seine Chance mit Rachel gehabt und hatte sie vergeigt.
Nun sitzt er hier im Regen und blickt auf den Tag zurück, an dem er sie zuletzt gesehen hat. Über eine Woche fährt und irrt er nun schon herum, während er zu ergründen versucht, was er jetzt tun und wohin er sich als Nächstes wenden soll. Halt macht er nur dann, wenn ihm das