Ohne sich über diesen unerwarteten Willkommgruß weiter auszusprechen, begannen nun die beiden Besucher die Hütte näher zu untersuchen. In dem Raume, in dem sie waren, schien sich nichts von besonderem Interesse vorzufinden, weshalb sie sich daran machten, eine Leiter hinaufzuklettern, die durch eine Luke auf den Boden führte.
Einige Minuten später befanden sie sich beide unmittelbar unter dem Dach der Hütte, wo es so niedrig war, daß der hochgewachsene Krag kaum aufrecht stehen konnte.
Der Raum war voll Kisten, allerhand Kannen, Flaschen, Tiegel, Retorten, Kabel und seltsame Instrumente. Es war ihnen beiden klar, daß sie sich in Herrn Barras Laboratorium befanden.
Plötzlich kam ein Ausruf der Ueberraschung von dem jungen Ingenieur, der eben vorsichtig den Inhalt einer großen Kanne untersucht hatte, deren Rauminhalt mindestens fünfundzwanzig Liter betrug. Krag ging rasch zu ihm hin.
»Das ist tatsächlich Nitroglyzerin,« sagte der Telegrapheningenieur.
»Ja,« erwiderte der Polizeibeamte, der seinerseits auch einige rasche Untersuchungen vorgenommen hatte. »Hier sind Sprengstoffe genug, um mehr zu vernichten, als er dem Schullehrer angedroht hat. Außerdem Steinbohrer, Lunten und allerhand Maurergeräte. Wüßte man es nicht besser, man müßte glauben, daß der gute Ingenieur Barra im norwegischen Granit nach Gold gräbt.«
»Der gräbt wohl nach leichter verdientem Golde,« lachte der Ingenieur. »Aber hier haben wir übrigens die Erklärung des mystischen Knallens, von dem die Fischerbevölkerung so viel spricht.«
»Hier ist vorläufig nichts anderes zu tun,« sagte Krag langsam, »als sich der Person des Geflüchteten zu versichern.«
Er sah aus seine Uhr und befragte dann seinen Taschenfahrplan.
»Wir können ihn einholen, bevor er nach Christiania kommt. Aber wir müssen uns eilen. Die Arrestorder wird auch jetzt schon im Telegraphenamt angekommen sein.«
Sie kletterten hinunter, stellten alles zurecht, schoben den Riegel vor die Türe und machten sich auf den Weg ins Tal.
Das kleine Fischerdorf lag still und verlassen da, als sie endlich wieder hinunterkamen. Alle Boote waren zum Fischen ausgezogen. Eine starke Brise wehte vom Meere, die Wellen schlugen hoch über die Mole, und das Blechschild des Kaufmanns rasselte in seinen verrosteten Angeln.
Der Polizist eilte zum Telegraphenamt, das zugleich Telephonzentrale und Postamt war. Er fragte nach seiner telegraphischen Order aus Christiania. Aber der Telegraphist teilte mit, daß heute überhaupt kein Telegramm aus der Hauptstadt eingetroffen war.
Von einer plötzlichen Ahnung ergriffen, verlangte der Detektiv ein dringendes Telephongespräch mit dem Polizeibureau in Christiania und bekam es nach einigen Minuten.
Krag beklagte sich sofort darüber, daß er die Arrestorder nicht erhalten habe.
»Welche Arrestorder?« wurde gefragt.
»Die ich in meinem Telegramm heute morgen verlangte.«
»Wir haben kein Telegramm von Ihnen bekommen.«
Krag unterdrückte einen kräftigen Fluch und schloß das Gespräch rasch ab. Hier mußte er mit seiner ganzen Klugheit handeln. Er hatte es offenbar mit einem Gegner zu tun, mit dem nicht zu spaßen war. Es war ihm bisher nicht eingefallen, daß dieser auch sein Morgentelegramm aufschnappen konnte.
Vor dem Telegraphenamt stieß er mit Holst zusammen, der ein Fuhrwerk gefunden, die Sachen in den Wagen gebracht und die Rechnung im Logierhaus bezahlt hatte.
»Die Arrestorder ist nicht gekommen,« sagte Krag langsam. »Das Polizeibureau hat mein Telegramm überhaupt nicht erhalten.«
»Unbegreiflich!« rief der Ingenieur.
»Durchaus nicht! Erinnern Sie sich an das Papier, das bei Ingenieur Barra für uns dalag?«
»Ja, und?«
»Ist es Ihnen nicht ausgefallen, daß er von unserer Ankunft unterrichtet war?«
»Unleugbar.«
»Nun wohl! Er hat also auch mein Telegramm aufgeschnappt. Er muß auch von hier Verbindung mit der Christianialinie haben. Das hätten wir natürlich oben untersuchen sollen. Jetzt ist es zu spät!«
»Wir können ja wieder hinauf!«
»Nein! Jetzt wollen wir diesen Ingenieur kriegen!«
Sie nahmen in dem wartenden Wagen Platz, und der Kutscher knallte mit der Peitsche.
»Zur Dampfschiffhaltestelle ist etwa eine Stunde Fahrt,« berechnete Krag. »Das Postboot geht nicht vor vier Stunden von dort ab. Also müßten wir Barra noch erreichen können, bevor er an Bord geht.«
»Zweifellos!«
»Wir wollen sehen,« sagte Krag nachdenklich.
Als die beiden Männer mit einem schweißtriefenden Pferd vor dem Wagen zur Dampfschiffbrücke kamen, erfuhren sie, daß ein kleiner, rotbärtiger Mann vor etwa vier Stunden mit einem kleinen Extradampfer, den er sich gemietet hatte, zur Eisenbahnstation gefahren war. Es hatte den Eindruck gemacht, daß er in furchtbarer Eile war.
Asbjörn Krag lächelte.
»Wir werden ihn doch noch erwischen,« sagte er. »Unser guter Freund dachte, von dort mit dem Siebenuhrdreißigzug nach Christiania zu kommen. Hätte er das Postboot abgewartet, so wäre er erst zum Elfuhrzug zurechtgekommen. Wir nehmen uns also auch einen Extradampfer.«
Es lagen gerade zwei Schleppboote im Hafen, die einige Schuten holen sollten. Krag besah beide mit Kennermiene und wählte das kleinere.
»Das läuft rascher,« sagte er und fragte dann den Schiffer, wie lange Zeit er zur Eisenbahnstation brauchte.
»Drei Stunden,« erwiderte der Schiffer; da kamen sie ja ganz bequem zum Siebenuhrdreißigzug zurecht.
Zehn Minuten später dampfte das kleine Schleppboot zwischen Inseln und Schären dahin. Die Maschine war auf Hochdruck gesetzt, und der Schaum stand hoch um den Bug. Es war etwas Spannendes in dieser Jagd, das den Telegrapheningenieur nicht unberührt ließ. Er ging die ganze Zeit oben auf dem Verdeck auf und ab, den Rockkragen bis über die Ohren aufgestellt. Der Schnee biß ihm ins Gesicht. Aber in einer Ecke in der Koje des Schiffers saß Asbjörn Krag und schmauchte ruhig seine Pfeife.
Eine Viertelstunde vor der berechneten Zeit waren sie am Ziele, und der Schiffer bekam für seine gut ausgeführte Arbeit ein Extrahonorar.
Dann gingen die beiden Männer rasch zur Eisenbahnstation, um sich Billette zu verschaffen.
»Um diese Jahreszeit sind wohl nicht viele Reisende?« begann Krag ein Gespräch mit dem Billetteur.
»Ach nein, nicht viele.«
»Ich habe einen Freund, ich glaubte, er würde auch mit diesem Zuge fahren. Hat er nicht schon ein Billett gelöst? Ein kleiner Mann –«
»Nein,« unterbrach der Billetteur bestimmt. »Sie sind der erste, der Billette für den Siebenuhrdreißigzug kauft.«
Also will er bis zum letzten Augenblick warten, dachte Krag und ging auf den Perron hinaus. Hier wurde er vom Billetteur eingeholt, dem offenbar noch etwas eingefallen war.
»Entschuldigen Sie,« sagte er, »Sie sagten doch, daß Ihr Freund ein kleiner Mann ist. Hat er vielleicht rotes Haar und Bart?«
»Stimmt.«
»Und trägt einen langen, staubgrauen Mantel?«
»Jawohl.«
»Und einen großen verbeulten Hut auf dem Kopfe?«
Krag sah fragend Holst an, der die Frage sofort bejahte.
»Er spricht etwas gebrochen Norwegisch?«
»Das ist er.«
»Vermutlich